Das Motiv für den Start dieses Threads liegt in dem Bestreben, das liedkompositorische Werk Hugo Wolfs in seinen großen „Büchern“, bzw. Bänden in geschlossener und vollständiger Gestalt im Tamino-Kunstliedforum vertreten zu sehen. Die „Mörike-Lieder“ die „Eichendorff-Lieder“ und die „Goethe-Lieder“ liegen bereits vor, es fehlen noch die beiden „Liederbücher“, um diesbezüglich Vollständigkeit erreicht zu haben. Unter chronologischem Aspekt steht nun das „Spanische Liederbuch“ an. Dieses liedkompositorische Werk entstand in den Jahren 1889/90, also nach dem Goethe-Band und vor dem „Italienischen Liederbuch“ (das zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls hier noch vorgestellt werden soll). Wolf zog sich, nachdem er die Komposition der Goethe-Lieder fast abgeschlossen hatte im Oktober 1889 in das Sommerhaus der Familie Werner in Perchtoldsdorf zurück.. Dort entstand am 21. Oktober als letztes Goethe-Lied „Die Spröde“, und schon am 28. Oktober folgte das erste Lied des „Spanischen Liederbuchs“: „Wer sein holdes Lied verloren“.
Nun ereignete sich das, was ganz typisch für Wolfs Liedkomposition ist: Er vertiefte sich voll und ganz in dieses Vorhaben und schuf in unmittelbarer Folge eine Liedkomposition nach der anderen. Schon früh musste er aber eine Vorstellung vom Inhalt und vom Umfang des Gesamtwerks gehabt haben, denn er schrieb am 12. November, als er erst neun Lieder vertont hatte, dieser neue Liederkreis werde, so habe er sich´s vorgenommen, in summa 44 Lieder umfassen. Bis zum 21. Dezember entstanden 26 Lieder, davon acht „Geistliche“. In der Zeit vom 10. bis zum 15. Januar 1890 komponierte er die beiden Lieder „Müh´voll komm´ ich und beladen“ und „Nun bin ich dein“, dann musste er sich wegen einer Kältewelle und eines grippalen Infekts, den er sich im Zusammenhang damit zugezogen hatte, aus Perchtoldsdorf zurückziehen. Zwei Monate später kehrte er wieder zurück und schloss in der Zeit vom 28. März bis zum 27. April 1890 mit weiteren sechzehn Liedern die Komposition des „Spanischen Liederbuchs“ ab. Für die Publikation konnte er den Mainzer Verleger Schott gewinnen, und es folgten die für Wolf typischen langen und mühevollen Verhandlungen um Details. Gegen seinen Willen erschien das Werk dann im Januar 1891 gestaffelt in sechs Heften. Es kam zum Bruch mit Schott, und Wolf wandte sich an den Mannheimer Verlag Karl Heckel, der das „Spanische Liederbuch“ dann 1896/977 in einer von Wolf revidierten Neuausgabe herausbrachte.
Soweit die gleichsam vordergründigen Fakten. Das eigentlich Interessante und Bedeutsame sind die Fragen und Probleme, die sich um dieses Werk ranken. Da ist zunächst einmal die Frage nach den Gründen, die Wolf bewogen haben, zu dieser Lyrik-Sammlung „Spanisches Liederbuch“ zu greifen und Gedichte daraus zu vertonen. Eigentlich ist das ja doch höchst verwunderlich. Den vorangehenden Lied-Kompositionen lagen lyrische Werke von höchstem dichterischem Niveau zugrunde. Das 1852 von Emanuel Geibel und Paul Heyse publizierte „Spanische Liederbuch“ mit freien Übertragungen spanischer Lyrik des „siglo de Oro“ , dem Höhepunkt der spanischen Literatur im 16. Und 17.Jahrhundert, ins Deutsche, denen eigene „Nachdichtungen“ im Geist dieser Lyrik beigegeben wurden, ist von einem solchem lyrisch-sprachlichen Niveau, wie es Wolf bei Mörike, Eichendorff und Goethe vorgefunden hatte, weit entfernt. Von Text zu Text mussten ihm abgegriffene lyrische Sprachlichkeit und abgenutzte Reime begegnen. Warum also der Griff danach?
Vielleicht findet man die Antwort in einem Brief an die Mutter vom 19. September 1891. Dort heißt es: „Welch ein schreckliches Los für einen Künstler, der nichts Neues mehr zu sagen hat.“ Wolf hatte den Goethe-Band abgeschlossen. Er war auf der Suche nach einer neuen lyrischen Quelle für seine Liedkomposition. Die zeitgenössische Lyrik konnte ihm das nicht bieten. In einem Brief an Oskar Grohe (11.8.1890) wertete er sie mit den Worten ab: „Diese verfluchte Tendenzpoesie heutzutage. Sein Freund Friedrich Eckstein war ein Bewunderer der spanischen Literatur und könnte ihn auf diese aufmerksam gemacht haben. Von Franz Zweybrück ist der Bericht überliefert: „Eines Nachmittags trat Eckstein mit Wolf auf mich zu und sagte: Herr Doktor, wüßten Sie vielleicht schöne Lyrik, die noch nicht komponiert ist. Wolf sucht und sucht und findet so wenig, was ihm paßt. Ich antwortete Eckstein nach einigem Nachdenken mit der Frage, ob er denn das Spanische Liederbuch von Heyse und die italienischen Übersetzungen von Geibel, Heyse und Leuthold kenne. Vor allem aber das zuerst genannte Büchlein. (…) Am andern Tage brachte ich Wolf mein Exemplar von Heyses spanischem Liederbuch mit, und das Buch ist sicherlich einige Monate, wenn nicht länger bei ihm geblieben.“
So ist Wolf also an dieses „Spanische Liederbuch“ geraten. Was aber hat ihn darin angesprochen, so dass er von dessen „weltlichen“ Gedichten rund ein Drittel, also 34, von den dreizehn „geistlichen“ sogar zehn vertonte? Gewiss konnte es nicht die lyrische Sprache gewesen sein. Der große Lyrik-Kenner Wolf dürfte ihren Mangel an Originalität und ihre Epigonalität sehr wohl erfasst haben. Man darf also wohl davon ausgehen, dass es nicht die lyrische Sprache, vielmehr die lyrischen Inhalte waren, die ihn zur Liedkomposition animierten: Die tiefe, wahrer und echter Frömmigkeit entsprungene religiöse Inbrunst der geistlichen Lyrik; und die leidenschaftliche Intensität, mit der das Thema Liebe und Erotik aus der Perspektive emotionaler Betroffenheit, aber auch der des distanzierten Spotts behandelt wird.
Wolf war sich bewusst, dass er in der liedkompositorischen Auseinandersetzung mit diesen Texten zu einer neuen Liedsprache finden würde. Oskar Grohe gegenüber äußerte er sich diesbezüglich mit den Worten, er habe zurzeit jede Menge zu tun, „mir die Spanier (ein großer Zyklus nach Heyse und Geibel) vom Halse zu schaffen. Sie werden in diesen Gesängen mich von einer ganz neuen Seite kennenlernen; dürfte auch das beste sein, was mir bis jetzt aus meiner Feder geflossen.“ Da die Liedmusik hier primär darauf ausgerichtet ist, die innere Haltung des lyrischen Ichs und die Situation, in der sie sich artikuliert, zu erfassen, reflektiert die melodische Linie weniger die Struktur des lyrischen Textes, als vielmehr deren Semantik. Das führt zu einer engeren Anbindung derselben an den Klaviersatz, der oft zu einer dominanten expressiven Komponente der Liedmusik wird. Wolf hat für diesen Liedtypus einmal den Begriff „charakteristisch“ benutzt. In einem Brief an Engelbert Humperdinck vom 15. November 1890 beklagt er sich: „Tatsächlich werden noch jetzt immer nur die >melodiösen< (Lieder) von mir gesungen. Vor den sogenannten >Charakteristischen< haben die guten Menschen noch große Angst.“
Auf höchst treffende Weise hat Erik Werba das „Spanische Liederbuch“ charakterisiert:
„Mystische Visionen und Liebeslyrik höchsten Anspruchs, dazu ironisch-drastische Situationsschilderungen machen dieses >Spanische Liederbuch< zu einem Pandämonium seelischer Spannungen, mögen sie nun auf religiösem oder erotischem Gebiet liegen.“