Über den Verfall der Gesangskunst

  • "Die frühere, wahre, große Gesangskunst ist verfallen ! Die Traditionen der alten Italiener sind verloren ! "Diese Klage zieht sich schon seit Jahrzehnten auf musikalischem Gebiet von Mund zu Mund, und leider ist es eine trauruge Wahrheit, Die Gegenwart bringt nur in den seltensten Fällen wirkliche Gesangskünstler hervor. Was aber ist es um diese sogenannte verlorene Tradition der Gesangskunst, nicht nur der Italiener, denn es gibt nur eine einzige richtige und wahre Gesangskunst. Was also ist dran an dieser sogenannten Tradition der Gesangskunst ? Ist sie ein unwiederbringlich verlorener Schatz ? Ein auf ewig versenkter musikalischer Nibelungenhort , den aus unergründlichen Tiefen wieder ans Licht zu ziehen, wir keine Zauberformel mehr besitzen ?


    Mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Eine Definition was unter Gesangskunst verstanden wird wäre hilfreich.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zit. zweiterbass: "Eine Definition, was unter Gesangskunst verstanden wird, wäre hilfreich."

    Das ist, wie mir scheint, besonders angesichts dieser Bemerkung erforderlich:
    Zit. Alfred Schmidt: "...denn es gibt nur eine einzige richtige und wahre Gesangskunst."
    Die erstaunt mich nun wirklich sehr!

  • Ich nehme jetzt mal den Bereich der Alten Musik. Noch nie hatten wir in diesem Gebiet so gute und gut ausgebildete Sänger. Den thread "Alte Musik - Neue Vocalconsorts" habe ich ja schon länger aufgegeben, weil die Fülle der erstklassigen Vocalconsorts nicht mehr zu überblicken ist. Vielleicht meint Alfred die Opern der Klassik, des Belcanto, das zu beurteilen, fehlt mir die Übersicht.
    Eine Anmerkung möchte ich noch machen: in einem Kirchenkonzert oder in einem Konzert, in dem Stimmen verlangt werden, kann man davon ausgehen, dass die Soprane großartig sein werden, der Bass und die Altistinnen meist sehr gut oder miserabel. Beim Auftreten des Tenors kann man sich gleich Stöpsel in die Ohren tun.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Na ja, mit ein Grund, warum ich deutsch gesungene Opern höre ist die Tatsache, dass ich die Darbietung meist besser finde. Glaubwürdiger. Kraftvoller. Lebendiger. Auch alte Schauspielaufnahmen strahlen auf mich diesen Zauber aus. Nicht falsch verstehen, ich habe größten Respekt vor der Stimmakrobatik heute. Aber oftmals klingt es für mich nur schön, bleibt aber nicht im Gedächtnis. Doch auch hier gibt es Ausnahmen. Stimmen und Darbietungen, die mich berühren.

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  • Zunächst zur Frage nach einer Definition!


    Janice Harper Smith sagt:

    Zitat

    Ein kritischer Blick auf heutige Sänger und auf die Lehrmethoden des Gesangs zeigt, dass es an der Zeit ist, das Ideal guten Singens neu zu definieren.


    Richtig daran ist auf jeden Fall, dass Gesangskunst ein historisches Phänomen ist, also dass die Regelsysteme, die bestimmen was, Gesangskunst jeweils ist, sich ändern. Das beginnt bei der Atemtechnik, der Tonbildung, Vokalmodifikation und anderen physikalischen Grundlagen und umfasst die Gesamtheit der Prinzipien, nach denen daraus Musik wird.


    Vermutlich hilft aber ein Versuch, eine Definition zur Grundlage unserer Diskussion zu machen, nicht wirklich weiter.


    Es gab ja bei Tamino schon mal einen Threads, der sich mit dem Thema beschäftigt hat.
    Die Krise der Gesangskunst Fiktion oder Tatsache?


    Und Knusperhexe weiß sogar noch von einen früheren Thread: "Irgendwie waren die Sänger früher besser". Den habe ich nicht finden können!


    Vielleicht sollte man erst mal schauen, was diese Diskussion gebracht hat. Schon ein kurzer Blick hat mir gezeigt, dass sehr interessante Beobachtungen darin zu finden sind. Auch sehr grundsätzliche Feststellungen! Vor allem viel Bedenkenswerte!


    Wenn jetzt bei einem Neuanlauf auf das Thema etwas neues rauskommen soll, wäre es vielleicht sinnvoll, die Fragestellung ein bißchen klarer pointieren. Dafür gibt es in dem genannten Thread genügend Anhaltspunkte.


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Zunächst einmal: Asche über mein Haupt (oder heisst es: "Asche auf mein Haupt"? - ich bin mit den Selbstgeisselungsriten nicht so gut vertraut....)


    Den ich habe mir hier einen kleinen sommerlichen Scherz (mit ernstem Hintergrund) erlaubt:


    DER ERÖFFNUNGSBEITRAG STAMMT GAR NICHT VON MIR !!! :P:untertauch:


    Vielleicht hätte man dies am antiquerten Stil erkennen können, denn ich habe den betreffenden Text weitgehend so wiedergegeben wie er geschrieben war, lediglich einige verräterische Formulierungen zeitlich ein wenig angepasst.
    Aber da einige von mir einen antiquierten Stil erwarten war es nicht besonders auffällig.....
    Er stammt aus dem Periodicum "Neue Musik Zeitung" 1. Jahrgang Nr 12 - Köln 1880. (Der Artikel ist wesentlich länger)
    Geschrieben hat ihn Auguste Götze (1840-1908), eine deutsche Sängerin, Schriftstellerin und Gesangspädagogin.


    Es ist ein IMO verräterischer Artikel (der natürlich nicht als solcher geplant war)
    Man bedenke: Er wurde geschrieben als Enrico Caruso 7 Jahre alt und von einer Sängerkarriere weit entfernt war, zahlreiche Sängergrößen, die heute als Ikonen ihrer Zunft gelten waren noch nicht mal geboren !!


    Aber die Klage über den Niedergang der Sangekultur war schon hochaktuell: Alles schon mal dagewesen.... :hahahaha:


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo,


    es wäre zu unterscheiden nach der Entstehungszeit der Musik (eine Sopranistin mit tollem, ausgeprägtem Timbre, Tremolo, Vibrato in einem Gesangsstück aus z. B. der Renaissance wäre wohl schauerlich anzuhören), nach der Gattung von Musik (Oper, Operette, Kunstlied, Oratorium etc.), nach dem Stimmfach...habe ich was vergessen?


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Wir sollten uns erst mal Klarheit darüber verschaffen, was besagte Auguste (schon der Name ist Musik: die Erhabene!) für Vorstellungen von belcanteskem Gesang hatte. Vermutlich war sie noch dem Ideal verpflichtet, das E.Caruso alsbald zwar nicht infrage stellte, aber relativierte und ergänzte: durch den veristischen Ausdrucksgesang.


    Der alte Belcantostil wurde ja etwa von Fernando de Lucia verkörpert, von dem (laut Kesting) Toscanini immer eine Aufnahme anhörte, wenn er mal wieder lachen wollte. Diesen extrem gekünstelten Stil können wir zwar heute nicht mehr ernsthaft wiederbeleben wollen, aber einige seiner technischen Grundlagen dürften doch auch heute noch gelten, weil der menschliche Körper und sein Stimmapparat sich kaum geändert haben dürften.


    Was sich sehr - und mehrmals - geändert hat, ist, neben dem Repertoire, der Geschmack. Und inzwischen gibt es immer mehr konkurrierende Geschmäcker, die sich ziemlich unversöhnlich gegenüber stehen. Man hat sie in Schubladen wie Alte Musik, klassische und romantische Oper, Kunstlied, zeitgenössische Musik etc. einsortiert und dabei vergessen, dass es gemeinsame technische Fertigkeiten gibt, die in allen Bereichen gebraucht werden.


    Was also meinen wir, wenn wir fragen, ob die Gesangskunst im Niedergang begriffen ist oder sich nur dem Zeitgeschmack anpasst? Von dieser Frage hängt es ab, ob wir zu einer befriedigenden Antwort finden - zu einem Konsens mit Sicherheit nicht. Es gibt da viel zu tun - warten wir´s ab!


    Ich bin jedenfalls dabei und wetze schon mal das Messer; denn: "Hier wird nach den Regeln nur eingelassen!" - wie Sixtus meint.


  • DER ERÖFFNUNGSBEITRAG STAMMT GAR NICHT VON MIR !!!


    Vielleicht hätte man dies am antiquerten Stil erkennen können, denn ich habe den betreffenden Text weitgehend so wiedergegeben wie er geschrieben war, ... .....
    Er stammt aus dem Periodicum "Neue Musik Zeitung" 1. Jahrgang Nr 12 - Köln 1880. (Der Artikel ist wesentlich länger)
    Geschrieben hat ihn Auguste Götze (1840-1908), eine deutsche Sängerin, Schriftstellerin und Gesangspädagogin.


    Lieber Alfred!
    Wunderbar!!!
    Womit bewiesen wäre dass Gesangskunst ständigem Wandel unterliegt! Das war ja mein Punkt.

    Zitat

    Richtig daran ist auf jeden Fall, dass Gesangskunst ein historisches Phänomen ist, also dass die Regelsysteme, die bestimmen was, Gesangskunst jeweils ist, sich ändern. Das beginnt bei der Atemtechnik, der Tonbildung, Vokalmodifikation und anderen physikalischen Grundlagen und umfasst die Gesamtheit der Prinzipien, nach denen daraus Musik wird.


    Die Frage wäre nun, gibt es aber doch zeitunabhängige Grundlagen und Anforderungen der Gesangskunst, oder orientiert sich Gesang immer an einer für die jeweilige Zeit, für die entsprechende Kultur und für einen bestimmten Musikstil übliche Klangästhetik?


    Die andere Frage wäre: was geht uns solche zeitunabhängige Grundlagen, wenn es sie denn gibt, überhaupt an? Was braucht das Reden über Sänger und ihre Kunst Kenntnisse von der Phonation, der Atemführung, dem Stimmsitz usw. ?


    Ich weiß nicht, ob solche Fragen zu weit weg von dem führen, was im Titel des Threads der "Verfall der Gesangskunst" genannt wird? Mancher mag das so sehen. Wenn man aber nicht den Wandel der Gesangskunst zum Thema macht, wie zum Beispiel Sixtus das am Beispiel de Lucia - Caruso getan hat, dann geht das doch nur, indem man genau formuliert, welchen grundlegenden Ansprüchen die Kunst des Singens mindestens genügen muss - und zwar i m m e r, gleichgültig in welcher Zeit, und unabhängig von Stil und Geschmack.


    Beste Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


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  • "Wandel und Wechsel liebt, wer lebt."
    Das gilt natürlich auch für die Gesangskunst. Die hat sich wohl, nach der mittelalterlichen Vokalkunst, zum erstenmal fundamental geändert mit den ersten Opern, die eine völlig neue Ästhetik hervorbrachten: Die menschliche Stimme musste von nun an, auch als Soloinstrument, einen größeren Raum füllen und das einen ganzen Abend lang durchhalten, ohne an Klangqualität zu verlieren. Wichtig wurde damit, neben der Beweglichkeit, das Klangvolumen und die Tragfähigkeit der Stimme. Daran hat sich bis heute wenig geändert - außer dass im bürgerlichen Zeitalter die Theater größer wurden und damit auch die Orchester.


    Geändert haben sich aber die Bedürfnisse des Publikums: feudale Auftraggeber forderten spektakuläre Virtuosität, städtisches Bürgertum wollte Erbauliches fürs Gemüt. Der Gesang musste sich diesen Erfordernissen anpassen: Bravourarien und lyrische Arien forderten verschiedene Fertigkeiten. Die Stimmlagen wurden vielfältiger, tiefe Stimmen emanzipierten und spezialisierten sich. Aber die technischen Grundlagen des Singens blieben davon relativ unberührt.


    So blieb es bis zu Mozart und Rossini - mit einer Ausnahme: Mit der Züchtung von Kastraten (entstanden durch das Verbot für Frauen, in der Kirche zu singen), kam es in der Oper zum Wettstreit der Primadonnen und Kastraten, die noch in Rossinis Opern ausgetragen wurden. Ob Kastraten eine besondere (abweichende) Stimmtechnik pflegten, entzieht sich meiner Kenntnis.


    Mit Verdi und Wagner änderte sich manches. Aber die Gesangstechnik blieb im Prinzip unangetastet.
    Doch jetzt erst mal eine Zäsur und Gelegenheit für kritische Einwände.
    Herzliche Grüße von Sixtus

  • Ich bitte um Nachsicht für den ausführlichen "Vorabend". Aber ich hielt ihn für nötig, um das Folgende klarer zu machen. Nachdem keine Einwände vorliegen, mache ich weiter:
    Verdi setzte andere Schwerpunkte im Gesang. Die Belcantotechnik tastete er nicht an, stellte sie aber stärker in den Dienst des Dramas. Hohe Triller und Koloraturen bekamen mehr dramatische Funktion. Die mittleren Stimmlagen wurden wichtiger, ebenso die voluminöse Stimme. Das brachte ihm damals den Ruf des Stimmenmörders ein. Besonders die Baritone taten sich schwer mit der hohen Tessitura.
    Noch schwerer hatte es Wagner. Sein Anliegen war ähnlich. Aber zweierlei kam hinzu: das größere Gewicht des Orchesters (quasi als Erzähler) - und die deutsche Sprache mit ihrem Konsonantenreichtum, die belcantofähig gemacht werden musste. Mit der "Musikalisierung" des Textes schuf er den "deutschen Belcanto". Das war nicht nur eine schwere Geburt, es erhielt auch einen Rückschlag nach Wagners Tod (Bayreuther Gebell). Die erste schwere Krise des Gesangs gab es also in Deutschland.


    In Italien wurde Carusos am Verismo geschulter Ausdrucksgesang von seinen Nachfolgern einseitig übernommen (unter Vernachlässigung ihrer Belcanto-Elemente). Auch Italien hatte seine Gesangskrise mit ihrem Wettkampf um die lautesten Töne. Die kultivierten Stimmen wurden zur Ausnahme.
    Was die Sache verschlimmerte (diesseits wie jenseits der Alpen): Das Wissen um die Grammatik des Belcantogesangs ging zurück, verlor an Einfluss auf die Opernpraxis. Die Gründe: Es wurden kaum noch Opern geschrieben, die schöne Stimmen verlangten, und der Tonfilm verdrängte die Bedeutung des Theaters und der Oper. Schon in den Zwanzigerjahren waren erstklassige Belcantisten selten geworden.
    Die heutige Hilflosigkeit in der Besetzung wichtiger Partien hat also eine lange Vorgeschichte. Die hielt ich für wichtig zum Verständnis unserer aktuellen Situation. Falls ich offene Türen eingerannt habe, bitte ich um Nachsicht.


    Vorerst herzliche Grüße von Sixtus

  • Zitat

    von SixtusDoch jetzt erst mal eine Zäsur und Gelegenheit für kritische Einwände.


    Lieber Sixtus, jetzt rast Du schon weiter durch die Musikgeschichte.
    Für Einwände und Ergänzungen läßt Du gar keine Zeit!


    Dabei gäbe es zu der schematischen und arg groben Skizze der Entwicklung der Gesangskunst einiges zu sagen. Sie ist allenfalls für die italienische Oper plausibel.
    Die Französische hast Du gar nicht im Blick?
    Und der tiefe Einschnitt von Steffani, Scarlatti und Lotti zu Rossini wird überhaupt nicht thematisiert. Dass dieser Einschnitt für die Geschichte des Belcanto bedeutsam war, ja eigentlich das Ende des echten Belcanto bedeutete, thematisierten immerhin schon Stendahl und Heine!
    Wenn wir schon Wandel erfassen wollen, dann hilft doch eine grobe Skizze nicht weiter. Sie transportiert leider nur die gängigen Klischées.


    Ich habe jetzt nicht die Zeit und auch nicht die Lust, die Charakteristika des Belcanto darzustellen und zu diskutieren, wo und wie Rossini ihnen nicht mehr gerecht wir, ja bewußt mit ihnen bricht.
    Aber Einspruch wollte ich doch anmelden, auch wenn die Zeit dafür offensichtlich schon abgelaufen war.


    Beste Grüße


    Caruso41

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  • Lieber Caruso,
    ich bilde mir nicht ein, ein lückenloses Wissen über die Geschichte des Belcanto zu besitzen. Mein Interesse an dem Thema beschränkt sich auf die Entwicklungen und Zäsuren, deren Spuren meiner Ansicht nach bis heute von Bedeutung sind.


    Der alte Theaterdirektor La Roche in Straussens Capriccio klagt auch schon zu Glucks Zeiten: "Der Belcanto liegt im Sterben!" Aber wen interessiert das heute noch? Meine Zusammenfassung (die noch nicht zu Ende ist) sollte nur einen Bogen schlagen über die aus meiner Sicht wichtigsten Stationen, die den Hintergrund bilden zu dem, was wir heute vorfinden. Das kann man Klischees nennen. Aber ich nehme gern deine Ergänzungen zur Kenntnis, wenn sie erhellend sind für die aktuelle Situation. Wir sollten uns nur nicht zu sehr verzetteln.


    In Erwartung einer fruchtbaren Diskussion
    herzliche Grüße von Sixtus

  • Meine Zusammenfassung (die noch nicht zu Ende ist) sollte nur einen Bogen schlagen über die aus meiner Sicht wichtigsten Stationen, die den Hintergrund bilden zu dem, was wir heute vorfinden.


    Lieber Sixtus,
    na dann schlage mal Deinen Bogen.
    Ich werde dich auch nicht mit Detailinformationen weiter stören. Es ist immer mißlich wenn Jemand ein sattes Fresco mit breitem Pinsel malt und dann kommt einer daher und zeichnet hier oder da mit spitzer Feder Einzelheiten ein!


    Aber wenn Du Dich mal etwas ausführlicher mit der Geschichte des Belcanto befassen willst, empfehle ich Rodolfo Cellettis "Storia del belcanto" und auch "Storia dell'opera italiana". Da wird sehr deutlich, dass es einen Abbruch der Entwicklung des Belcanto lange vor Verdi gab, im Grunde mit dem früher Rossini. Aber das muss ich hier nicht ausführen. Verständlich würde es eh nur, wenn man die Ästhetik des Belcanto-Ideals genauer beschriebe, das ja mitnichten nur etwas mit Atemführung und sinnbildlicher und verzierter Vokalsprache zu tun hat.


    Ganz wichtig ist mir noch der Hinweis, dass alles was Du schreibst, wirklich nur auf die italienische Tradition zielt. Die Gesangskunst hat aber schon im 17.. und 18. Jahrhundert auch eine französische Tradition ausgebildet.....


    Mal sehen, wann und wie ich mich wieder einfädele.
    Beste Grüße


    Caruso41

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  • Danke, lieber Caruso, für deine Literaturhinweise. Ob ich aktuell dazu komme, mich hinein zu vertiefen, kann ich aber nicht versprechen. Das gilt auch für die französische Schule, mit der ich mich noch nie näher beschäftigt habe. Was davon für unser Thema relevant ist, nehme ich gern von einem Wissenden wie du zur Kenntnis.


    Weiter also in der Kurzfassung aus meiner Sicht: Wagner wollte den Belcanto ebenso wenig abschaffen wie Verdi. Aber die von Cosima &Co manipulierte Tradition hat auf Phonstärke gesetzt, ähnlich die veristische Schule nach Verdi in Italien. Sie haben sich gegenseitig verstärkt und wichtige Elemente des verzierten und des Legatogesangs verdrängt. Die Folge davon waren Sänger wie Tita Ruffo, Pertile und später Protti und Del Monaco, der sein imposantes Otello-Forte allen Partien überstülpte, und Max Lorenz, der immer mit gezogenem Schwert sang. Zugespitzt gesagt: Der Operngesang verarmte zum Imponiergehabe.


    Die nächste Zäsur brachte der Zweite Weltkrieg. Danach war viel Kahlschlag zu besichtigen. Bis das Pendel in die Gegenrichtung ausschlug: Fischer-Dieskau predigte singend den Liedton im Operngesang. Eine Heerschar von Schülern und Epigonen folgte ihm. Man verstand jedes Wort, hörte aber wenig (nicht nur bei Baritonen). Das virile bzw. feminine Timbre, für den Operngesang unerlässlich, wurde rar. Bis sich der Eiserne Vorhang öffnete und eine Flut von Qualitätsstimmen aus dem Osten (und zusätzlich aus Llateinamerika) nach Europa strömte: Man erinnerte sich erleichtert, wie Stimmen klingen können.


    Inzwischen wachsen auch hierzulande wieder mehr Qualitätsstimmen nach, weil es ein lange unterdrücktes Bedürfnis danach gibt. Aber nicht alle schaffen es bis ganz an die Spitze, weil sie sich vorzeitig verheizen lassen. Der zunehmend kommerzialisierte und globalisierte Opernbetrieb ist dabei, die Gattung Oper zum Eventzirkus zu verunstalten. (In diesem Zusammenhang bleibt es uns immerhin erspart, auch noch den Wildwuchs der Regie zu thematisieren.)


    Mir ist klar, dass dies ein sehr grober (und subjektiver) Überblick ist. Aber vielleicht taugt er als Grundlage zu einer differenzierteren Diskussion.
    In diesem Sinne herzliche Grüße von Sixtus

  • Besteht Gesangskunst wohl nur aus Belcanto?

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Besteht Gesangskunst wohl nur aus Belcanto?


    Lieber Zweiterbass!


    Die Frage ist berechtigt.
    Sixtus ging es wohl darum, für die Diskussion über den "Verfall" der Gesangskunst eine Grundlage zu schaffen. Da ist denn die Bezeichnung des Ideals, dem sich Gesangskunst verpflichtet fühlen sollte, durchaus erst mal sinnvoll.
    Viel trägt sie aber nicht aus zur Klärung.
    Das zeigt ja nicht zuletzt der letzte Beitrag von Sixtus. Man kann nicht streng nach den Parametern des klassischen Belcanto über alle Gesangsleistungen urteilen. Die taugen eigentlich nur für die Werke die auch ausdrücklich für Sänger geschrieben wurden, in denen der Belcanto verlangt wurde, also Cavalli, Cesti, Legrenzi. Steffani, Lotti, Scarlatti, Cimarosa usw.!
    In einem weiteren Sinne mag es sinvoll sein, auch den Gesang in Rossini-, Bellini- und Donizetti-Opern noch mit den Maßstäben des Belcanto zu messen. Darüber hinaus ist das aber irreführend.


    Verdis Odabella, Ponchiellis Giocondo und Puccinis Tosca brauchen andere Qualitäten. Vor allem nämlich Ausdruck, der unmittelbar und direkt vermittelt wird, also nicht in einer sinnbildlichen und verzierten Vokalsprache!


    Aber es macht doch Sinn, auch für solche Partien das Ideal von einem auf Schönheit des Tones und meisterhafte Technik ausgerichteten Gesang einzuklagen. Und es hat eigentlich immer Sänger gegeben die sich darum bemüht haben. Insofern stimmt es einfach nicht, wenn Sixtus behauptet, die Öffnung des Eisernen Vorhages habe eine Wende gebracht.


    Hat nicht eine Callas eine Renaissance des Belcanto eingeleitet? Das war nicht ein Belcanto im traditionellen Verständnis, aber Technik und Stil orientierten sich durchaus an ihm. Legato, das Messa di voce, die Appoggiaturen und Portamenti sowie die virtuose Ausschmückung durch Koloraturen und Fiorituren - all das hat Callas wieder zum Leben erweckt. Und dann kamen Horne, Sutherland, Caballé, von Stade...usw.!
    Und in den anderen Stimmfächern gab es ja auch Sänger, die nicht ihre Gefühle und Leidenschaften ungeschminkt und nackt ausstellten sondern über einen schönen Gesang, der sich an dem Idealen des Belcanto orientierte. Ich nenne nur mal Tenöre wie Valletti, Oncina, Palacio, Kraus, Gimenez, Bergonzi. Oder Bässe wie van Dam, Ramey und Moll.


    Entscheidender als die Öffnung des Eisernen Vorhanges - hat der wirklich Belcantisten gebracht? - war meiner Meinung nach die Entwicklung der Alte-Musik-Szene für die Qualität der Gesangskunst. Viele junge Sängerinnen und Sänger sind da sozialisiert worden und haben später auch in Werke anderer Komponisten gezeigt, was sie da gelernt haben.


    Wir haben also mitnichten einen Verfall der Gesangskunst. Wir können doch heute Opern von Händel, Traetta, Hasse, Salieri und Gluck ohne Probleme absolut erstklassig besetzen. Selbstverständlich Mozart, und auch die meisten Opern von Rossini! Aber für die Forza und den Otello ist das nicht so einfach. Es lässt sich nicht bestreiten, dass es für verschiedene Fächer kaum Sänger gibt, die höheren Ansprüchen an die Gesangskunst gerecht werden.
    Aber auch das ist nichts Besonderes! In den 50er Jahren hat man erhebliche Mühe gehabt, Händel aufzuführen. Und hört Euch doch mal an, mit welchen Sängern eine Callas Gluck oder Rossini aufführen mußte!
    Also: ich plädiere doch sehr für Differenzierung.....


    Beste Grüße


    Caruso41

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  • Der Begriff Belcanto ist in diesem Zusammenhang nicht historisch zu verstehen, sondern, als Grundlage des Gesangs als Vortragskunst auf Bühne und Podium, als eine Art Werkzeugkasten und Rüstzeug, als Grammatik des Singens, für das bestimmte technische Fertigkeiten erworben werden müssen.


    Einige davon sind der Gebrauch des Zwerchfells als Tonstütze, der offene Kehlkopf und die Aktivierung der Resonanzräume des Kopfes. Das ermöglicht das Singen auf dem Atem, Einsatz der Stimme in verschiedenen Tonlagen, Farben, Lautstärken und Verzierungen wie Koloraturen, Triller etc.


    Diese Grundlagen werden bei den verschiedenen Musikstilen nicht in gleichem Maße gebraucht, werden aber von allen Komponisten mehr oder weniger vorausgesetzt. Wagner sprach z.B. von deutschem Belcanto, d.h. er wollte diese Techniken auf die Gegebenheiten der deutschen Sprache anwenden. Auch Verdi stellte den Belcanto in den Dienst der dramatischen Aktion. Daran scheitern manche Sänger bis heute.

  • Zit.Caruso41: "Also: ich plädiere doch sehr für Differenzierung....."


    Gehört zu dieser "Differenzierung" nicht auch, dass man sich von der - aus meiner Sicht sachlich unberechtigten - Einengung der Frage auf den Operngesang löst?
    Es wird doch auch in anderen musikalischen Gattungen "gesungen". Von einem "Verfall der Gesangskunst" vermag ich zum Beispiel beim Liedgesang nicht die Spur festzustellen. Und gerade an diesem Beispiel wird ersichtlich, dass der Begriff "Belcanto" als Schlüssel-Kategorie für die zentrale Frage dieses Threads nicht taugt.
    Der als Frage eingebrachte Einwand von zweiterbass war also berechtigt.

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  • Der als Frage eingebrachte Einwand von zweiterbass war also berechtigt.


    Lieber Helmut!
    Natürlich! Das hatte ich ja auch gesagt! Ausdrücklich gleich zu Beginn.


    Gehört zu dieser "Differenzierung" nicht auch, dass man sich von der - aus meiner Sicht sachlich unberechtigten - Einengung der Frage auf den Operngesang löst?


    Absolut! Ich hatte - der Argumentation Sixtus folgend - zunächst erst mal die Italienische Oper im Visier. Aber auf die Notwendigkeit, auch französische Tradition in den Blick zu nehmen, hatte ich noch hingewiesen. Und nun fragst Du, ob überhaupt eine Einengung auf die Oper sinnvoll ist. Die Frage ist auch total berechtigt. Natürlich hat der Lied-Gesang seine eigenen Anforderungen und Gesetze! Auch geistliche Musik! Und wäre nicht auch vom Ensemble- und Chorgesang zu reden, wenn es um den Stand der Gesangskultur geht?


    Mit einem Wort: es gibt reichlich Bedarf an Differenzierung.


    Aber auch allein für die italienische Oper lassen sich keine verallgemeinernden Aussagen machen. Darauf hatte ich erst mal abgezielt!
    Das Reden vom Verfall DER Gesangskunst - so beliebt es immer wieder ist, darüber zu lamentieren - ist Unsinn!


    Jetzt müsste eigentlich Alfred mal was sagen, der ja diese Diskussion von Zaun gebrochen hat. Was hatte er denn im Kopf, als er uns auffoderte, die Frage erneut (!!!) zu erörtern.


    Beste Grüße
    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


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  • Mein Beitrag richtete sich ja nicht gegen Deinen, lieber Caruso. Er schloss eigentlich an an das, was Du ausführtest und zielte auf die grundsätzliche Fragestellung des Threads und die ihr immanente These. Das hab´ich wohl nicht richtig deutlich werden lassen.
    Und Du hast recht mit dieser Forderung: "Jetzt müsste eigentlich Alfred mal was sagen, der ja diese Diskussion von Zaun gebrochen hat. Was hatte er denn im Kopf, als er uns aufforderte, die Frage erneut (!!!) zu erörtern."

  • Jetzt müsste eigentlich Alfred mal was sagen, der ja diese Diskussion von Zaun gebrochen hat. Was hatte er denn im Kopf, als er uns auffoderte, die Frage erneut (!!!) zu erörtern.


    Wer Alfred kennt kann das gut erklären. Er wollte uns Futter für eine Diskussion geben. Wir haben den Köder angenommen und angebissen. Außerdem ist jeder gescheite Beitrag, der die Zahlen steigert sicherlich willkommen.
    Auch ich bin der Meinung, dass wir nicht pauschal über Gesangskunst diskutieren können. Hier spielt das Gesangsideal der jeweiligen Epoche eine entscheidende Rolle, der länderspezifische Gesangsstil, die darauf abgestellte Gesangsausbildung usw. Wie werden beim diesjährigen Künstlertreffen der Gottlob-Frick-Gesellschaft am 16.Oktober in der Matinee eine Diskussion mit den Experten Prof. Jeanne Piland, Prof. Dr. Stefan Mösch, Prof. Hans Sotin und Gerneralintendant Prof. Gerd Uecker auf dem Podium unter Leitung von Thomas Voigt haben. Im zweiten Teil soll mit dem Fachpublikum diskutiert werden. Bereits hier tauchen schon im Vorfeld ebenfalls die Definitionsfragen auf. Dabei soll nur über deutsche Gesangsausbildung diskutiert werden. Die genaue Definition, die Eingrenzung der Diskussion und das erwartete Ziel sollten also festgelegt werden. Dann hätten wir eventuelle eine Chance, weiter zu kommen als dies in den vergangenen Diskussionen über diese Thematik de Fall war.


    Herzlichst
    Opeus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Ich dachte, ich hätte mich deutlich ausgedrückt, als ich in Beitrag 19, auf die Zwischenfrage von Zweiterbass, ob der Belcanto für allen Operngesang zuständig sei, meinen Standpunkt erläutert hatte: Er ist die Grundlage, die Grammatik allen Singens auf Bühne und Podium. Damit ist ausdrücklich der Lied- und Oratoriengesang einbezogen.
    Auch habe ich die Einschränkung gemacht, dass er bei verschiedenen Stilen und Komponisten verschiedenen Stellenwert hat: vom Selbstzweck über Funktion im Drama bis zur nationalen Ausformung (Wagner). Damit ist klar, dass da auch andere Nationalstile mitgemeint sind (französisch, russisch, tschechisch vor allem), die ihn der jeweiligen Landessprache angepasst haben.


    Ich habe also die historische und nationale Differenzierung einbezogen, bleibe aber dabei, dass die Grundlagen des (europäischen) öffentlichen Singens bei dem, was wir klassische Musik nennen, immer verbindlich bleiben.
    Mir ist natürlich klar, lieber Caruso, dass die Callas die Belcanto-Tradiion wiederbelebt hat und dass sie Nachfolger darin hatte, von Sutherland bis Alfredo Kraus und Bruson. Aber die Öffnung des Eisernen Vorhangs hat eine Flut von Qualitätsstimmen zu uns gebracht, weil die alte Tradition im Osten durch die Isolation ungebrochen geblieben war. Dass eine Abigail andere Vorzüge braucht als eine Cenerentola, liegt auf der Hand. Aber auch sie kommt nicht ohne Beherrschung des verzierten Gesangs aus.


    Mit einem Wort: Belcanto ist nicht alles; aber ohne ihn ist alles nichts.


    Das jedenfalls meint, mit herzlichen Grüßen, Sixtus.

  • Lieber Sixtus,


    Ich dachte, ich hätte mich deutlich ausgedrückt, als ich in Beitrag 19, auf die Zwischenfrage von Zweiterbass, ob der Belcanto für allen Operngesang zuständig sei, meinen Standpunkt erläutert hatte: Er ist die Grundlage, die Grammatik allen Singens auf Bühne und Podium. Damit ist ausdrücklich der Lied- und Oratoriengesang einbezogen.


    Vielleicht wärest Du besser beraten, für das, was Du meinst und inzwischen ja beschrieben hast, den Terminus Belcanto nicht zu benutzen. Das ist zumindest mißverständlich. Er ist zu eng verknüft mit Stil und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts.


    Aber die Öffnung des Eisernen Vorhangs hat eine Flut von Qualitätsstimmen zu uns gebracht, weil die alte Tradition im Osten durch die Isolation ungebrochen geblieben war.


    Wie kommst Du denn darauf! Du wiederholst die Behauptung trotz eines dezidierten Einspruches. Ich habe eine Flut von Qualitätsstimmen nicht bemerkt. Es kamen einige gute Stimmen aus Ost- und Mittelosteuropa - vornehmlich an kleinere und mittlere Bühnen. (Die kamen übrigens aus vorher schon!) Oft waren die gut ausgebildet. Ich habe den Eindruck, dass sie meist schnell wieder gingen, nicht selten, weil sie verschlissen waren. Karriere haben nur wenige gemacht. Dass sie gleichsam das bescheiden gewordene Niveau der Gesangskunst auf den Bühnen Europas gehoben hätten, kann ich nicht sehen. Das haben auch die Zuwanderer aus Fernost nicht gebracht - so erfreulich viele Sänger aus Korea, China und Japan auch sein mögen.
    Wenn es einen Impuls zur Wiedergewinnung der Qualität der Gesangskultur gab, dürfte der am ehesten - ich wiederhole mich - von der florierenden Alte-Musik-Szene ausgegangen sein. Schau doch mal in die Biografien vieler heute geschätzter Sänger: oft haben sie für eine erhebliche Zeit mit Gardiner, Christie, Minkowski, McCreech, Curtis, Jacobs und anderen zusammen gearbeitet, waren ihnen sogar länger verbunden.


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


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  • Hallo,

    mit dem Beitrag Nr. 24 von „Sixtus“ komme/n ich/wir/ dem Problem schon näher.


    Dort wird von der Gesangstechnik gesprochen, die ich als …technik auch für unverzichtbar halte. Die Technik ist aber doch nur Voraussetzung, entscheidend ist, was hinten am Ende (damit) herauskommt und dann akustisch im Ohr und weiter im Gehirn des Musikhörers ankommt.


    „Belcanto“ wird ins Deutsche als „Schöngesang“ übersetzt. In früheren Threads wurde bereits ausführlich diskutiert und großenteils Übereinstimmung erzielt, dass „schön“ ein ungenaues meist unpassendes Adjektiv für eine Eigenschaft ist.
    Nun mein Versuch „schön“ für den Begriff „Belcanto“ treffender zu beschreiben: Wenn ein Gesang im Gehirn des Musikhörers als „schön“ empfunden werden kann, so muss, der Gesang unverzichtbar den Inhalt, die Bedeutung, den Sinngehalt und die „Stimmung“ des Textes wiedergeben, wenn möglich besser – durch die Musik – als es nur der Text kann; das schließt natürlich eine einwandfreie gesangliche Umsetzung der musikalischen Vorgaben mit ein.


    Nun ein Beispiel, was ich unter „Belcanto“ (also nicht Gesangstechnik) verstehe – es geht um „Dulcissime“ aus der Carmina Burana von Carl Orff:


    Um viele Beiträge im Thread „Hit des 20. Jahrhunderts-Carl Orffs Carmina Burana“ * nicht als Zitate zu wiederholen, nenne ich nun nur die Nr. der in Frage kommenden Beiträge:
    65, 70, 71, 72, 73, 76, 78, 80, 81, 82, 95. (Ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit meines Vergleichs, meine aber an diesem Beispiel verständlich gemacht zu haben, wo für mich die Unvollständigkeit der bisherigen, hiesigen Beiträge liegt.)

    Nach der o. g. Definition ist für mich H. E. Meier - CD im Beitrag Nr. 78 - die Belcanto-Sängerin für diese Gesangspartie.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Nachsatz: * In der Suchfunktion erweitert „Dulcissime“ und bei Autor „zweiterbass“ eingeben.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber Zweiterbass,
    ich ahne, was du meinst mit dem, was akustisch beim Hörer ankommt. Wenn du dich aber darauf fixerst, bekommst du so viele belcanti, wie es Hörer gibt. Um den Begriff zu definieren, müssen wir schon die stimmtechnischen Voraussetzungen benennen, nach denen das funktioniert. In diesem Sinne könnte die Definition lauten:


    Belcanto ist Gesang, der die Möglichkeiten der menschlichen Stimme, optimale Klänge zu erzeugen, und zwar nach Maßgabe der vom jeweiligen Komponisten verlangten Klangvorstellungen, realisiert. Sänger sollten das dazu benötigte stimmtechnische Rüstzeug beherrschen, bevor sie in Konzert oder Oper öffentlich auftreten (Singen auf dem Atem, kontrollierter Einsatz des Atems für messa di voce, Beweglichkeit der Stimmführung, Ausschöpfen der Resonanzräume der Brust und des Kopfes etc.). Diese Fähigkeiten sind bei jedem Sänger individuell verschieden, sollten aber das jeweils erforderliche Mindestmaß nicht unterschreiten.


    Dazu kommt die Interpretation, die in Zusammenarbeit von Sänger und Dirigent (und ggf. Regisseur) erarbeitet wird.


    Sicher ist auch dieser Definitionsversuch unvollständig und subjektiv. Aber er düfte einige Grundlagen des Belcanto beschreiben. Technische Manipulation durch Mikrofon und Verstärker sind zivilisatorische Zutaten, die den Zuhörer über die Qualität des Gesangs täuschen. Sie haben in Live-Aufführungen nichts zu suchen. (Außer bei Funk- und Fernseh-Übertragungen)


    Herzliche Grüße von Sixtus

  • Belcanto ist Gesang, der die Möglichkeiten der menschlichen Stimme, optimale Klänge zu erzeugen, und zwar nach Maßgabe der vom jeweiligen Komponisten verlangten Klangvorstellungen, realisiert. Sänger sollten das dazu benötigte stimmtechnische Rüstzeug beherrschen, bevor sie in Konzert oder Oper öffentlich auftreten (Singen auf dem Atem, kontrollierter Einsatz des Atems für messa di voce, Beweglichkeit der Stimmführung, Ausschöpfen der Resonanzräume der Brust und des Kopfes etc.). Diese Fähigkeiten sind bei jedem Sänger individuell verschieden, sollten aber das jeweils erforderliche Mindestmaß nicht unterschreiten.


    Dazu kommt die Interpretation, die in Zusammenarbeit von Sänger und Dirigent (und ggf. Regisseur) erarbeitet wird.


    Lieber Sixtus
    Man kann ja niemandem verbieten, Definitionen zu bastelt. Aber wenn ein historisch eingeführter Begriff, der in der dafür zuständigen Wissenschaft nach Inhalt, Umfang, Sinn, Intension und Konnotation eigentlich klar umrissen ist, neu definiert wird, dann ist das schon mekwürdig.


    Das was Du umschreibst gilt eigentlich für jedweden "Gesang", der als Kunst gelten will. Er ist gleichsam der 'nächsthöhere Gattungsbegriff' (genus proximum) zum Spezialbegriff "Belcanto" für den genau genommen der 'artbildende Unterschied' (differentia specifica) anzugeben hätte. Was macht aus gutem Gesang "Belcanto"?


    Das willst Du aber nicht, da Du keine Lust hast, Dich in Geschichte und Theorie des Belcanto wirklich einzuarbeiten. Aber dann kann ich nur meinen bereits gegebenen Rat wiederholen:


    Vielleicht wärest Du besser beraten, für das, was Du meinst und inzwischen ja beschrieben hast, den Terminus Belcanto nicht zu benutzen. Es ist zumindest mißverständlich, eigentlich ist sogar ärgerlich, dass Du so sorglos mit Begriffen umgehst.
    Es gibt ja doch Opernfreunde, die sich mit Geschichte, Stil und Ästhetik des Belcanto etwas intensiver beschäftigt haben und eine sehr konkrete Vorstellung davon haben, was er war, - und was nicht!


    Die Benutzung des Begriffes für das, was nicht Belcanto ist, hat leider in den Feuilletons Konjunktur. Wenn in Kritiken über einen schmelzend die Sterne besingenden Cavaradossi gesagt wird, er habe belcantistisch gesungen, ist eigentlich klar: der Rezensent weiss nicht wovon er redet und benutzt den Terminus als Falschgeld weil er so schön klingt und eine eigene Aura hat. Die sollte aber nicht durch solch widersinnigen Gebrauch zerstört werden.
    Der Tenor kann ja gut und ergreifend gesungen haben. Sicher hat er die Stimme schön auf dem Atem geführt, Legato, messa di voce und portamenti benutzt und morendo ausgehaucht. Er hat Elemente der Gesangstechnik genutzt , wie sie im Belcanto und für den Belcanto herausgebildet wurden. Das ist ehren- und lobenswert, aber es waren nur Elemente einer Technik! Hätte er sich aber auch Stil und Ästhetik des Belcanto verpflichtet gefühlt, wäre er wohl weder Puccini noch den Zuhörenden gerecht geworden.
    Ich könnte jetzt noch ausführen, warum nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass Du an einer solchen Darlegung gar nicht interessiert bist. Sie würde dich einfach zu weit ins 17. und 18. Jahrhundert entführen, in eine Zeit in der die 'Verwunderung' (merviglia) des Hörers das Ziel der künstlerischen Arbeit war und nicht die direkte emotionale Erregung oder Überwältigung.


    Ja und dann warte ich ja noch immer auf die Aufklärung, wie Du darauf kommst, dass nach der Öffnung des Eisernen Vorhanges eine Flut von Qualitätsstimmen nach Westeuropa gekommen sei. Ich habe davon nichts gemerkt. Das ist ja in Deiner Darstellung der Geschichte ein entscheidender Wendepunkt. Aber belegen tust Du das nicht. Nicht mal auf Nachfrage.


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Lieber Caruso,
    ich glaube fast, wir brauchen einen Dolmetscher. Denn wir reden meistens aneinander vorbei. Du willst mir eine akademische Definition von Belcanto aufzwingen, die mich nur mäßig interessiert, weil ich nur mäßiges Interesse an alter Musik habe. Und ich operiere mit einer Definition, die sich mit den Elementen befasst, die sich über die Jahrhunderte erhalten haben, die für Mozart, Rossini, Bellini gelten - und die auch bei der Interpretation von Verdi und Puccini noch relevant sind und selbst für Wagner und Strauss in eingeschränkter Form gelten.


    Zum anderen: Es kann dir doch nicht entgangen sein, dass es im Ostblock exzellente Sänger gab, die wir im Westen selten oder nie zu hören bekamen, z.B. Atlantow, Lisizian, Herlea. Dann fiel der Eiserne Vorhang, und wir bekamen erst peu à peu, dann immer mehr Cernov, Hvorostovsky, Beczala, Garanca, Netrebko zu hören und konnten ihre vitalen und doch technisch kontrollierten Stimmen bestaunen. Besonders in Deutschland hatte man schon fast vergessen, dass es außer dem deutschen Liederkönig und seinen Epigonen auch noch richtige Baritone gab. Diese Sänger (und andere aus Asien und Südamerika) haben das europäische Opernleben aufgemischt.


    Trotzdem liegt manches im Argen. Du hast recht: Viele selten gespielte Werke können wieder in hochkarätiger Besetzung aufgeführt werden - in Paris, London und Wien. Aber an kleineren Bühnen, also flächendeckend, findet man kaum noch einen adäqaten Ford neben einem guten Falstaff, oder man spielt Rossinis Barbier mit einem Figaro, der nur peinlichen Sprechgesang produziert. Und weder die Theaterleitung noch Presse oder Publikum scheinen das als Defizit zu verbuchen. Wenn ich darüber im Merker berichte, wundert´s mich fast, dass ich noch kein Hausverbot bekommen habe.


    Bei allem Respekt vor deinem Sachverstand: Das ist es vor allem, was für mich zählt.


    Herzliche Grüße von Sixtus

  • Es kann dir doch nicht entgangen sein, dass es im Ostblock exzellente Sänger gab, die wir im Westen selten oder nie zu hören bekamen, z.B. Atlantow, Lisizian, Herlea. Dann fiel der Eiserne Vorhang, und wir bekamen erst peu à peu, dann immer mehr Cernov, Hvorostovsky, Beczala, Garanca, Netrebko zu hören und konnten ihre vitalen und doch technisch kontrollierten Stimmen bestaunen.


    Auch wenn es sich um eine Antwort an Caruso handelt, möchte ich kurz etwas anmerken, lieber Sixtus. Atlantow, Lisizian, Herlea waren im Westen überhaupt keine Unbekannten. Im Gegenteil. Sie gastierten an den großen Häusern der westlichen Welt, Herlea an der Met, in London und an der Scala als ständiger Gast, Altantow nach 1987 fast nur noch im westlichen Ausland. Lisizian, der ja schon etwas älter war, ist auch an der Met aufgetreten und hatte bei Preiser eine LV-Platte und bei Pearl eine schöne CD. Das Hamburger Archiv für Gesangskunst hat ihm eine eigene Edition gewidmet. Sie haben bei TAMINO auch eigene Threads. Als der Eiserne Vorhang fiel, hat die Netrebko noch im Mariinski-Theater geputzt. Beczala hatte nicht einmal debütiert, und die Granada ging noch zur Schule. Cernov, der 1982 bei der Simionato in Mailand studierte, sang bereits an großen westlichen Bühne und machte Platten. Hvorostovsky debütierte 1989 außerhalb der Sowjetunion in Nizza. Mit Staunen über den Ostblock war da nicht mehr viel. Und ich schwöre drauf, dass Caruso, der - wie man liest - gern und sehr viel reist, sie alle selbst gehört hat.


    Wen ich in diesem Zusammenhang bemerkenswert finde, ist der 1900 geborene Tenor Iwan Kozlowski. Der war nie aus der Sowjetunion herausgekommen und hatte sich eine Stimme erhalten, die noch aus dem 19. Jahrhundert zu kommen schien. Bei ihm wirkte die Abschottung nach meinem Eindruck konservierend. Seine vielen Platten waren aber auch bei Sammlern im Westen gut bekannt.


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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