Doctor Gradus ad Parnassum. Philosophische Brocken zur Ästhetik (III) Jack der Vielfrass - zur Ästhetik des Hässlichen

  • Zu dieser Kolumne gibt es einen Diskussions-Thread (!) - hier: Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"


    I. Provokation


    Jack (der Vielfraß)


    Jetzt hab´ ich gegessen zwei Kälber
    Und jetzt esse ich noch ein Kalb,
    Alles ist nur halb,
    Ich äße gerne mich selber.


    (...)


    Brüder, bitt´ ich, sehet mir zu,
    Sehet mir zu, wie ich ess´.
    Ist es weg, dann hab´ ich Ruh´,
    Weil ich es vergeß, weil ich es vergeß.
    Brüder, gebt mir noch!
    (Er fällt tot um.)

    Männerchor


    Sehet, Schmidt ist gestorben!
    Sehet, welch ein glückseliger,
    Sehet welch ein unersättlicher
    Ausdruck auf seinem Gesicht ist!
    Weil er sich erfüllt hat,
    Weil er nicht beendet hat.
    Ein Mann ohne Furcht!

    (Bert Brecht, Kurt Weill Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, 2. Akt, Nr. 13)


    „Wenn zum Beispiel im dreizehnten Abschnitt der Vielfraß sich zu Tode frisst, so tut er dies, weil Hunger herrscht. (...) Sein Genuß provoziert, weil er so vieles enthält. In ähnlichen Zusammenhängen wirkt heute Oper als Genussmittel überhaupt provokatorisch. Freilich nicht auf ihre paar Zuhörer. Im Provokatorischen sehen wir die Realität wiederhergestellt.“


    „Warum ist >Mahagonny< eine Oper? Die Grundhaltung ist die der Oper, nämlich kulinarisch. Nähert Mahagonny sich dem Gegenstand in genießerischer Haltung? Es nähert sich. Ist >Mahagonny< ein Erlebnis? Es ist ein Erlebnis. Denn: >Mahagonny< ist ein Spaß.“


    (Bert Brecht: Anmerkungen zur Oper >Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny<)


    Brechts Verhältnis zum Musiktheater beherrscht der Zweispalt eines Opern-Hedonismus, den die „epische Oper“ zugleich bejahen und verneinen muss. Die Oper, sie erscheint einerseits als eine Kunstform vornehmlich für Unterhaltungssüchtige und Genießer, bekommt von daher die „Wesens“-bestimmung einer „kulinarische Oper“ verliehen. Als ein „reines Genussmittel“ gebraucht oder besser verbraucht (Kurt Weill spricht bezeichnend von „Verbrauchsmusik“) wird sie vom Opernpublikum konsumiert in einer durch und durch „genießerischen Haltung“. Auch „Mahagonny“ kann so letztlich nicht anders als dem Genuss dienen, denn dieses Stück will ja eine Oper nach wie vor sein. Doch Mahagonny ist nicht zuletzt eine Oper über die Oper, in der die Genusshaltung selber zum Thema wird. Der Operngenuss – in seiner künstlerischen Selbstbespiegelung wird er so andererseits zur Provokation.


    Nun interpretiert Brecht selbst die Provokation des Opern-Hedonismus als eine vornehmlich moralische, welche dadurch aufrüttelt, dass sie ein schlechtes Gewissen macht: Wie kann sich jemand auf der Bühne wie im Schlaraffenland schamlos zu Tode fressen, wenn draußen in der bitteren Realität Hunger herrscht? Ausgeblendet bleibt damit jedoch der eigentlich ästhetische Charakter dieser Provokation, um den es hier vornehmlich gehen soll.


    Die Institution Oper, sie ist nach Brecht nicht nur genießerisch, dient der Berauschung und damit Errichtung einer Theaterillusion, sondern hat einen letzten Zweck, nämlich den der „Abendunterhaltung“. Unterhaltung und Genuss gehören nicht zufällig zusammen. Unterhaltung ist und bleibt in gewissem Sinne immer hedonistisch, denn Unterhaltung hört auf unterhaltsam zu sein, wenn sie nicht mehr angenehm ist. Unterhaltungskunst prägt die Reduktion des Schönen auf das Angenehme – und genau hier liegt das Provozierende des Vielfrasses im originär ästhetischen Sinne: Durch ihre Ästhetik des Hässlichen wird die Nummer des „Fressens“ zur Illusionsdurchbrechung, sprengt das Genießerisch-Angenehme, indem sie das Abstoßende und Unangenehme, das Scheußliche einer sich ins Maßlose steigernden Genusshaltung, entdeckt.


    Warum genusssüchtige Unterhaltung zum Hässlichen wird und werden kann liegt letztlich daran, dass Unterhaltung zwar immer auch Genuss ist – aber nicht nur das. Wenn Brecht das Unterhaltende mit dem „Kulinarischen“ und Genießerischen schlechterdings gleichsetzt, dann reflektiert sich darin die keineswegs selbstverständliche moderne Reduktion des Sinnes von Unterhaltung, ihre tendenzielle Privatisierung zu einer Art von individuellem Konsum, dem Selbstgenuss. Der gravierende Bedeutungswandel von Unterhaltung, der sich damit vollzogen hat, wird sichtbar, wenn man sich an die Geselligkeitskultur des 18. Jhd. zurück erinnert. Mit „Unterhaltung“ ist schon vom Wortsinn her eigentlich und ursprünglich ein „Gespräch“ gemeint, eine Unterredung und ein geselliges Beisammensein. Den „geselligen“ Sinn von Unterhaltung sieht das 18. Jhd. in der mit ihr verbundenen angenehmen Empfindung, ihrer anregenden Wirkung auf das Gemüt, indem sie die Gemütskräfte belebt und von Langeweile und Stumpfsinn befreit. Für Immanuel Kant, bei dem die Geselligkeitskultur der Aufklärungszeit noch sehr lebendig ist, besteht deshalb „Unterhaltung“ immer in der Verbindung von Genuss und Geselligkeit:


    Allein zu essen (solipsismus convictorii) ist für einen philosophierenden Gelehrten ungesund, nicht Restauration, sondern (vornehmlich wenn es gar einsames Schwelgen wird) Exhaustation, erschöpfende Arbeit, nicht belebendes Spiel der Gedanken. Der genießende Mensch, der im Denken während der einsamen Mahlzeit an sich selbst zehrt, verliert allmählich die Munterkeit, die er dagegen gewinnt, wenn ein Tischgenosse ihm durch seine abwechselnde Einfälle neuen Stoff zur Belebung darbietet; welchen er selbst nicht hat ausspüren dürfen.“


    Was sich für Brecht als Menschen des 20. Jhd. als gesellschaftliche Realität darstellt – die Reduktion von Unterhaltung auf das „Kulinarische“ reinen Genusses - erscheint bezeichnend Kant als reine privatio: Unterhaltung verliert im einsamen schwelgerischen Verzehr genau die Vorzüge, welche die Geselligkeit des Speisens bietet: den Geist zu beleben und zu erheitern und letztlich dem Essen als Form der Bedürfnisbefriedigung seine Mühsal und Anstrengung der Bewältigung einer üppigen, schwer verdaulichen Mahlzeit zu nehmen. Von der Musik – die Kant zutiefst suspekt blieb – sagt der Philosoph nicht ohne Geringschätzung, sie sei letztlich „mehr Genuss als Kultur“. Genau darin liegt die Funktion einer Mahlzeit, des gemeinsamen Sitzens zu Tisch, den reinen selbstgefälligen Genuss durch gesellige Konversation zu kultivieren. Der Umschlag des Schönen ins Hässliche beim „Vielfrass“ kommt deshalb sehr präzise zum Vorschein in der Umkehrung einer solchen Kultivierung durch Unterhaltung in totale Verrohung: Jack ignoriert im Grunde die Geselligkeit der Tafelrunde durch sein völlig unkultiviertes, animalisch maßloses Fressen. Nicht nur ist es ein unangenehmes Bild, ihn wie in der Münsteraner Inszenierung mit seinem überdimensionalen Fettwanst vor einem riesenhaften Spaghettiberg zu sehen, sondern der Tod als das Ende schlechthin jeder möglichen Vergesellschaftung macht schließlich deutlich, dass die Geselligkeit angenehmer Unterhaltung in der nur im Tod sich erfüllen könnenden Apotheose absoluten Genießens längst zur unmöglichen geworden ist.


    II. Das Hässliche als Genuss: Die „vermischte Empfindung“


    Insbesondere für den Klassizismus blieb das Hässliche ein Skandalon der Ästhetik. Wo das Gefallen an der reinen Schönheit nicht ausreicht um eine ästhetische Empfindung hervorzubringen, muss ihm eine zusätzliche Sinnlichkeit in Form einer Reizqualität verschafft werden, indem sich das Hässliche als aufreizender Stachel mit der schönen Empfindung mischt. Das Modell für das Hässliche als ästhetischem Genuss, dass sich seit dem 18. Jhd. verbreitete, war von daher das der „vermischten Empfindung“. In Karl Rosenkanz´ klassischer Schrift Ästhetik des Hässlichen findet sich dazu ein eigenes Kapitel „Das Wohlgefallen am Hässlichen“, das es sich lohnt ausführlich zu zitieren, denn hier kommen geradezu exemplarisch jene Vorbehalte gegen die Ästhetik des Hässlichen zum Ausdruck, die immer wieder in hitzigen Regietheater-Debatten bemüht werden:


    „Daß das Hässliche solle ein Wohlgefallen erzeugen können, scheint ebenso widersinnig, als dass der Kranke oder Böse ein solches hervorrufe. Und doch ist dies möglich, einmal auf gesunde, einmal auf krankhafte Weise. (...)


    Auf krankhafte Weise, wenn ein Zeitalter physisch und moralisch verderbt ist, für die Erfassung des wahrhaften, aber einfachen Schönen der Kraft entbehrt und noch in der Kunst das Pikante der frivolen Korruption genießen will. Ein solches Zeitalter liebt die gemischten Empfindungen, die einen Widerspruch zum Inhalt haben. Um die abgestumpften Nerven aufzukitzeln, wird das Unerhörteste, Disparateste und Widrigste zusammengebracht. Die Zerrissenheit der Geister weidet sich in dem Hässlichen, weil es für sie gleichsam das Ideal ihrer negativen Zustände wird. Tierhetzen, Gladiatorenspiele, lüsterne Symplegmen, Karikaturen, sinnlich verweichlichte Melodien, kolossale Instrumentierung, in der Literatur eine Poesie von Kot und Blut (de boue et de sang wie Marmier sagte) sind solchen Perioden eigen.“


    Die Unersättlichkeit als Ausdruck von Glückseligkeit auf dem Gesicht des toten Jack – mit dem radikalen Hedonismus des Genießens vollzieht sich die Reduktion des Schönen und Angenehmen auf das Hässlich-Rohe purer Reizqualität. Wenn Bert Brecht sich durch den zeitgenössischen Opern-Hedonismus „provoziert“ fühlt, dann bilden sicher Zeit-Erscheinungen wie jene populären Revues eines James Klein, Direktor der Komischen Oper Berlin, den Erfahrungshintergrund. Klein fabrizierte in den 20iger Jahren Stücke wie „Tausend nackte Beinchen“ oder „Zieh Dich aus“ gleichsam am Fließband.



    Nicht nur nackte Beine sollen hier den Hedonismus feiern, sondern provozierend gleich „tausend“, also unermesslich viele. Und das ist letztlich „Mahagonny“: eine Unersättlichkeit an Reizqualität, welche wie das hässlichen Vielfrass letztlich „Alles“ will, eine Gier, die sich mit nichts „Halbem“ mehr bescheidet. Was hier freigesetzt wird, ist eine Dynamik des Hedonismus, der vor Nichts Halt macht, für den es kein „Beenden“ seiner Genusssucht gibt, sondern nur ein grenzenloses Immer-weiter-so, was die Hedonisten in „Mahagonny“ als heroische Furchtlosigkeit und Tapferkeit feiern, die selbst der eigene Tod nicht schrecken kann.



    III. Nietzsche und Rosenkranz: Die Bedeutsamkeit des Hässlichen


    „Die Kunst soll vor Allem und zuerst Leben verschönern, also uns selber dem Andern erträglich, womöglich angenehm machen: mit dieser Aufgabe vor Augen, mässigt sie und hält uns im Zaume, schafft Formen des Umgangs, bindet die Unerzogenen an Gesetze des Anstandes, der Reinlichkeit, der Höflichkeit, des Redens und Schweigens zur rechten Zeit. Sodann soll die Kunst alles Hässliche verbergen oder umdeuten, jenes Peinliche, Schreckliche, Ekelhafte, welches trotz allem Bemühen immer wieder, gemäss der Herkunft der menschlichen Natur, herausbrechen wird: sie soll so namentlich in Hinsicht auf die Leidenschaften und seelischen Schmerzen und Aengste verfahren und im unvermeidlich oder unüberwindlich Hässlichen das Bedeutende durchschimmern lassen.“ (Friedrich Nietzsche)


    Wenn man das Haupt der Medusa anblickt, versteinert man: Das Hässliche als das Unästhetische ist des Unansehnliche als solches, etwas, das man deshalb besser gar nicht zeigt, sondern schamhaft verbirgt. Der große Ästhet Friedrich Nietzsche betont jedoch in anthropologischer und lebensphilosophischer Perspektive die Ambivalenz des Hässlichen: In der Kultivierung durch das Schöne, welche das Hässliche verbirgt, wird die Schroffheit des rohen menschlichen Charakters gemäßigt, veredelt. Doch widerstrebt das Hässliche als zur menschlichen Natur gehörig zugleich jedem Versuch, es irgendwie zu besänftigen und vornehm zu verbergen. Das unüberwindlich Hässliche drängt danach, ungezähmt sich auszudrücken, so dass ihm letztlich als das, was es ist, ein nur Hässliches, ästhetische „Bedeutung“ gegeben werden muss.


    Doch wie ist diese „Umdeutung“ des Unästhetisch-Hässlichen in ein Ästhetisches-Hässliches zu verstehen, welche ihm seine Bedeutung gerade nicht verklärend raubt, sondern Sinn und Bedeutung überhaupt erst verleiht? Was bei Nietzsche aufscheint, ist die positive Bestimmung des Ästhetisch-Hässlichen jenseits der Dekadenz „vermischter“ Empfindungen, einer bloß aufreizenden Sinnesqualität. Offenbar hat Nietzsche hier einen Grundgedanken aus Rosenkranz´ Ästhetik des Hässlichen aufgenommen. Rosenkranz wehrt sich gegen den falschen Versuch einer Verharmlosung des Hässlichen, das Häßliche „doch wieder schön zu machen“, ein „Verschönern des hässlichen als das sophistische Wegkünsteln einer ästhetischen Lüge“. Das wäre nach Rosenkranz die Zimperlichkeit und „gebrechliche Eleganz der Teetischästhetik“. Es geht so gerade nicht darum, das Hässliche durch die Kunst zu „verbergen, verkleiden, verfälschen, mit ihm fremden Aufputz verzieren“, die Kunst muss vielmehr „das Bedeutsame“ nicht nur des Schönen, sondern auch des Hässlichen hervorheben, „diejenigen Bestimmungen und Formen herausstellen, die das Hässliche zum Hässlichen machen“. Dieser bedeutungsverleihende Akt besteht nach Rosenkranz in einer „Idealisierung“ des Hässlichen. Die Kunst muss in Bezug auf das Hässliche


    „alles dasjenige von ihm entfernen, was sich nur zufällig in sein Dasein eindrängt und seine Charakteristik schwächt oder verwirrt. Dies Reinigen des Hässlichen vom Unbestimmten, Zufälligen, Charakterlosen ist ein Akt der Idealisierung, die nicht im Hinzutun eines dem Hässlichen fremden Schönen, sondern in einer prägnanten Hervorkehrung derjenigen Elemente besteht, die es zum Gegensatz des Schönen stempeln und in denen sozusagen seine Originalität als die des ästhetischen Widerspruchs liegt.“

    Ein Beispiel für eine solche Bedeutung verleihende Idealisierung des Hässlichen gibt nun das „Scheußliche“, wie es – glücklich für eine philosophisch-ästhetische Demonstration am Exempel – der Darstellung des Vielfrasses in „Mahagonny“ entspricht.



    IV. Das Reizende und das Scheußliche


    Den Ausgangspunkt für Rosenkranz´ Ästhetik des Hässlichen bildet Hegels systematische, idealistische Ästhetik: Die Kunst ist demnach die Darstellung eines Absoluten der „Idee“ – in der Hegelschen Formel kommt das Schöne zum Vorschein als das „sinnliche Scheinen der Idee“. Das Hässliche, die „Hölle des Schönen“ (Rosenkranz), wird entsprechend von diesem „absoluten“ Ausgangspunkt der ästhetischen Idee als das nicht Absolute sondern Relative, nicht Positive sondern Negative, nicht Harmonische sondern in sich Widersprüchliche und überhaupt ästhetisch Unselbständige und an ihm selbst Nichtige systematisch bestimmt. Im Hässlichen verkehren sich alle „Bestimmungen, welche die Notwendigkeit des Schönen ausmachen“, „in ihr Gegenteil“. Eine solche Verkehrungsgestalt des Schönen ist die Erscheinungsform des Hässlichen als das „Widrige“, zu der wiederum das „Scheußliche“ gehört als die negative Gestalt des „Reizenden“. Das Reizende, es verkörpert das „gefällig Schöne“ – im Unterschied zum „erhaben Schönen“. Das ästhetische Erlebnis des Reizenden besteht – anders als bei der Unnahbarkeit des Erhabenen, das „Bewunderung und Ehrfurcht“ erweckt – im Anziehenden des Genusses und dieser ästhetische Reiz verkehrt sich schließlich durch das Scheußliche ins Negative des Ungenießbaren und schlechterdings Abstoßenden, den Ekel:


    „Der Reiz des Gefälligen lockt uns zu sich hin, es zu genießen, und schmeichelt uns in allen unsern Sinnen. Das Widrige dagegen stößt uns von sich ab, weil es uns durch seine Plumpheit Missfallen, durch seine Scheußlichkeit Ekel erweckt.“


    Die zentrale Bestimmung des Scheußlichen lautet schließlich:


    „Dem Reizenden entgegengesetzt ist das Scheußliche als die Ungestalt, die in ihrer häßlichen Bewegung nur immer neue Mißformen, Mißtöne und Mißworte hervorbringt. Das Scheußliche hält uns nicht, wie das Erhabene, in ehrfürchtiger Ferne, sondern stößt uns von sich ab; es zieht uns nicht, wie das Gefällige, lockend zu sich heran, sondern macht uns vor sich schaudern. Es befriedigt uns nicht, wie das vollkommen Schöne, durch absolute Versöhnung in dem Innersten unseres Wesens, sondern wühlt vielmehr aus den Tiefen desselben die äußerste Entzweiung hervor. Das Scheußliche vornehmlich ist dasjenige Häßliche, dessen die Kunst gar nicht entbehren kann, will sie nicht auf die Darstellung des Bösen verzichten und in einer oberflächlichen und beschränkten Weltauffassung sich bewegen, deren Ziel nur die angenehme Unterhaltung wäre."


    Das Hässliche in Gestalt des Scheußlichen, eben weil es den Genuss aufhebt, sprengt nach Rosenkranz die Grenzen des gefällig Schönen und damit auch jede Kunst als Form nur „angenehmer Unterhaltung“. Damit jedoch steht die Opernästhetik von Brecht und Weill vor einem nicht unbedeutenden Problem. Für Brecht kann die Oper letztlich unmöglich etwas Anderes als nur „Abendunterhaltung“ sein; der Unterhaltungscharakter ist für die Kunstform Oper schlechterdings konstitutiv. So geht es auch opernästhetisch lediglich darum, die unvernünftige in vernünftige Unterhaltung zu verwandeln – Brecht steht hier durchaus in der Tradition von Kant und der Geselligkeitskultur der Aufklärung, das Privativ-Subjektive und Destruktive des Genusses durch gesellige Unterhaltung zu kultivieren und ihm damit die Hässlichkeit des Maßlosen zu nehmen. Wie aber – lässt sich mit Rosenkranz fragen – vermag das „Scheußliche“ als ästhetischer Widerpart des Gefälligen und Angenehmen so überhaupt noch zu erscheinen? Die Idee des radikalen Bösen, wie kann sie im sinnlichen Scheinen des Hässlichen noch irgendwie künstlerisch gefällig und damit unterhaltsam werden? Dass Brecht das „Provozierende“ des Vielfrasses gar nicht mehr ästhetisch, vielmehr allein moralisch bestimmt, hat hier seinen verborgenen sachlichen Grund. Die Lösung dieser scheinbaren Aporie ist jedoch bei Rosenkranz vorgezeichnet durch den Gedanken der ästhetischen Selbstaufhebung des Hässlichen im Komischen und in der Karikatur.


    V. Das Hässliche und der Humor


    Das Ekelhafte ist der Grenzfall für eine Ästhetik des Hässlichen, denn hier droht die „Idealisierung“ des Hässlichen unmöglich zu werden, die es überhaupt zu einem ästhetischen Objekt macht. In diesem Falle würde sich der „negative“ Charakter des Hässlichen in einen positiven verwandeln – das Hässliche hätte gar keinen Bezug mehr auf das Schöne. Die Grenze vom Ästhetischen zum Unästhetischen liegt für das Hässliche deshalb dort, wo es nicht mehr unselbständig als ein Relatives auf das Absolute, die Idee des Schönen, bezogen bleibt, sondern sich selber als ein Absolutes behauptet. Wenn aber andererseits das Hässliche nicht irgendwie ästhetisch verharmlost werden soll, dann darf gerade auch das Ekelhafte und Scheußliche aus der Ästhetik nicht verbannt werden.


    An dieser Stelle kommt der gewisse Klassizismus auch der Ästhetik des Hässlichen zum Vorschein: Das Hässliche ist nicht nur das „Negativschöne“, es muss sich letztlich mit dem Schönen wieder versöhnen. Die „Versöhnung“ auch der schärfsten Gegensätze bildet das „dialektische“ Grundgesetz von Hegels Philosophie. Doch kann das Hässliche nicht mit dem Schönen begrifflich irgendwie „vermittelt“ werden, weil es schlicht die totale Verkehrung des Schönen ist. Deshalb ist der „innere Zusammenhang“ des Hässlichen mit dem Schönen in „seiner Selbstvernichtung begründet“, der „Möglichkeit“, dass es sich so als Hässliches im Lächerlichen selbst „wieder aufhebt“:


    „Das Schöne wird in diesem Prozess als die Macht offenbar, welche die Empörung des Hässlichen seiner Herrschaft wieder unterwirft. In dieser Versöhnung entsteht eine unendliche Heiterkeit, die uns zum Lächeln, zum Lachen erregt. Das Hässliche befreit sich in dieser Bewegung von seiner hybriden, selbstischen Natur. Es gesteht seine Ohnmacht ein und wird komisch.


    Der Ekel – er ist eine „widerliche“ Empfindung und diese ist als solche überhaupt unästhetisch. Wird auch das Ekelhafte und Scheußliche aber letztlich komisch, dann verliert es damit das unästhetisch Abstoßende, indem es in eine Bewegung des Schwindens und Verschwindens gesetzt wird. Während das Schöne das Hässliche von sich ausschließt – heißt es bei Rosenkranz – „fraternisiert“ sich das Komische mit dem Hässlichen, indem es ihm „das Abstoßende“ nimmt, und somit „dem Schönen gegenüber, seine Relativität und Nullität erkennen lässt.“


    Wie im Komischwerden die Macht des Hässlichen zur Ohnmacht wird, indem sie sich selbst zur „Nullität“ depotenziert, wird in der Dynamik der Karikatur deutlich. Die Karikatur bedient sich des dynamischen Kunstmittels der „Potenzierung“, indem sie entweder übertreibt oder untertreibt, die Dinge wie in einem Brennglas vergrößert oder verkleinert. „Idealisierend“ ist auch sie, indem die Übertreibung alleine noch keine Karikatur ausmacht, sondern erst dann, wenn sie – wie Rosenkranz phänomenologisch ungemein einleuchtend ausführt – ihre „Desorganisation“ „organisch“ werden lässt, d.h. das Ganze in Mitleidenschaft zieht und damit das Hässliche in den Potenzierungsprozess seiner Selbstvernichtung vollständig hineinzieht. Jack der Vielfrass führt uns genau diese Wendung des Hässlichen ins Total-Komische exemplarisch vor:


    Jetzt hab´ ich gegessen zwei Kälber
    Und jetzt esse ich noch ein Kalb,
    Alles ist nur halb,
    Ich äße gerne mich selber.

    Die satirische Übertreibung ist hier offenkundig – kein Mensch war und wird jemals dazu im Stande sein, ein oder zwei ganze Kälber überhaupt aufzuessen. Aber die Spitze dieser Karikatur, in der ihre Übertreibungsdynamik kulminiert, bildet die Formulierung des Wunsches, in einer Art von Kannibalismus sich selber aufessen zu wollen: Nichts widersteht dem Verzehr, nicht einmal der Verzehrende, der sich in seinem Verzehr jenseits jeglicher Halbherzigkeit zum Äußersten treibend schließlich selber zu verzehren trachtet. Der Genuss, er wird damit in seiner hässlichen Maßlosigkeit zur komischen „Nullität“ der Verzehrung, einer konsumatorischen Selbstvernichtung, welche spontan das Lachen provoziert als die Befreiung von jeglichem triebhaften Zwang in der Erfassung seines im Grunde Unmöglichen in der hässlichen Verkehrung. Dass auch Mahagonny ein großer Opern-„Spaß“ selbst im Provozierend-Scheußlichen ist und bleiben kann, dies garantiert also letztlich die Ästhetik des Hässlichen durch ihre Vollendungsgestalt des Humors. Die Kunst jedoch muss das Hässliche durchaus nicht notwendig humoristisch verwenden, woran sich der ästhetische Klassizismus wie auch ein Verständnis von (Opern-)Kunst als geselliger, den Anstand wahrender Unterhaltung letztlich klammert. Die Wahrnehmung des Hässlichen, sie kann sich noch einmal künstlerisch potenzieren zur Katharsis des Ästhetischen, indem sie – mit Aristoteles – des Scheußliche in der Erregung von Furcht und Mitleid idealisierend nicht mehr mit der Bedeutung des sich komisch selbst aufhebenden „Un-Schönen“, vielmehr der Betroffenheit von einer unmöglich zu leugnenden Realität des „Un-Wahren“ und „Un-Guten“ belegt.