Von "zeitgemäßen" und "nicht mehr zeitgemäßen" Interpretationen

  • Die Idee zu diesem Thread kam mir heute vormittag, als in einem anderen Thread über Karl Richter und seine Bach-Interpretationen geschrieben wurde. Es wurde unter anderem behauptet, Richters Interpretationen sei einfach "nicht mehr zeitgemäß"...
    Diese Ansicht hört man im Zusammenhang mit anderen verblichenen Interpreten immer wieder - und ich frage mich, ob man so etwas überhaupt behaupten kann, bzw. inwieweit eine Tonaufnahme überhaupt "zeitgemäß" sein muß - und kann....
    Tonaufnahmen wurden ja immer zu dem Zweck gemacht, Interpretationen der Gegenwart (zur Zeit der Aufnahme) für ewige Zeiten zu konservieren. Dieser Denkansatz ist mit der Tatsache vertraut, dass jede Interpretation sich doch von einer anderen unterscheidet. Dazu kommt, daß jede Zeit der Interpretation einen Stempel aufdrückt.
    Heute wird vielfach so getan, als habe man endlich das ideale Tempo gefunden, und das non plus ultra erreicht.
    Ich kann alle jüngeren Mitgliedern mitteilen, dass man das schon in meiner Jugend dachte - und "zeitgemäße" Aufahmen produzierte..........


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Es wird die Zeit kommen, da die zeitgemäßen Interpretationen die unzeitgemäßen sind. Ich mache mir da gar keine Sorgen. Entsprechende Debatten - das gilt aber nicht für diesen Thread! - finde ich nicht so spannend. Da tut sich mancher auch ziemlich wichtig. Ich nehme mich da nicht aus. Für mich ist entscheidend, ob mich eine Interpretation erreicht, mich packt, zu Erkenntnissen führt, mir das Werk nahe bringt usw. Das ist unabhängig davon, wann und wo sie zu hören ist oder auf Tonträger gelangte. Denn die nun spielen bei diesem Thema eine entscheidende Rolle. Wir wissen ja nicht, wie Mozart live klang oder Brahms. Oder Bülow. Aus der Zeit vor der Erfindung der Aufnahmetechnik gibt es nur Berichte und Beschreibungen, die für ein Urteil nicht ausreichen. Wir reden hier über ein Jahrhundert. Was ist das schon? Zufällig sah ich gestern eine Sendung mit dem Pianisten Menahem Pressler, der mit seinen mehr als neunzig Lebensjahren und seiner dramatischen Lebensgeschichte wissen dürfte, was Vergänglichkeit und Wandel ist. Er sagte sinngemäß, man verlängere die eigene Kunst, indem man sie an Schüler weitergebe. Das gefiel mir gut.


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Ich möchte den "sorgenfreien" Ton, den Rheingold angeschlagen hat, gerne aufnehmen und meine Ansicht dahingehend definieren, dass mir Neuerungen stets willkommen waren, sei es hinsichtlich der Aufnahmetechnik oder auch der Erkenntnisse bezüglich der Interpretation älterer Werke - Stichwort HIP. Mich kann - als Beispiel hier genannt - die Matthäus-Passion unter Otto Klemperer ebenso begeistern wie die Interpretation eines John Eliot Gardiner. Oder dass, auf Mozart bezogen, die Sinfonien, von Karl Böhm dirigiert, ebenso wertvoll sind, wie die unter Jaap ter Linden. Die Aufnahmetechnik ist mir, früher war das mal anders, inzwischen gleichgültig, gibt es doch im Mono-Bereich genügend wertvolle künstlerische Interpretationen, die das Aufnahmeverfahren in den Hintergrund treten lassen. Es muss nicht immer Stereo sein. Oder was auch sonst noch alles vorhanden ist oder noch kommen wird. Rheingold schrieb, seinen Beitrag einleitend:


    Zitat

    Es wird die Zeit kommen, da die zeitgemäßen Interpretationen die unzeitgemäßen sind.


    Wie wahr!


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Es wird die Zeit kommen, da die zeitgemäßen Interpretationen die unzeitgemäßen sind.


    Das ist wahrscheinlch so, und es ist auch nicht überraschend, weil Interpretationen von Musik nicht im luftleeren Raum entstehen, sondern immer im Kontext einer bestimmten Aufführungstradition stehen, von aktuellen Vorlieben und Moden abhängig sind, von sich verändernden Standards und natürlich auch von fortschreitenden Kenntnissen der Musikwissenschaft (siehe HIP). Insofern sind Interpretationen immer zeitgebunden und können sehr wohl ihrer Zeit gemäß oder eben auch nicht mehr gemäß sein. Manche Aufführungen vergangener Jahre würde ich heute nur noch mit historischen Interesse betrachten ("schau an, so hat man das damals gemacht"), aber nicht mehr als adäquate Wiedergabe des jeweiligen Werkes betrachten, weil meine Standards heute eben andere sind als die damaligen. Das entwertet übrigens nicht die Leistungen der damaligen Interpreten. Besonders stark ist diese Zeitgebundenheit wohl für die Alte Musik, weil wir über historische Aufführungspraktiken heute einfach viel mehr wissen als noch vor fünfzig Jahren und vielleicht auch stärkeren Wert darauf legen, die Musik möglichst "original" zu hören, während frühere Zeiten sich weniger um historische Korrektheit gekümmert haben und keine Probleme damit hatten, alles durch die Brille der romantischen Tradition zu sehen und entsprechend aufzuführen. Es gibt aber sicher auch Interpretationen, die zeitlos sind und immer zu den Sternstunden der Aufführungen klassischer Musik gehören werden. Bei den älteren Interpretationen würde ich einmal die These wagen, dass dies vor allem das Repertoire des 19. Jahrhunderts betrifft.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Es gibt durchaus Aufnahmen, die nicht mehr zeitgemäß sind und zu Recht in der Versenkung verschwinden. Man sieht es daran, dass sie einfach nicht mehr gespielt werden. Mein Lieblingsbeispiel ist Raymond Leppards Cavalli-Interpretationen. Das sind Bearbeitungen, die niemand mehr spielt.
    Ich denke auch an die Haydn-Sinfonien mit großem romantischem Orchester; das sind für mich Bearbeitungen von Haydn-Sinfonien. Der Witz hier ist, dass inzwischen auch die großen Orchester bei Haydn mit sehr wenig Personal auskommen und damit den Abstand zu den HIP-Aufnahmen sehr verringert haben, wie letztlich Simon Rattle in Luzern mit seinem Haydn-Pasticchio bewiesen hat. Das Schlussstück dort war das terremoto aus den 7 Worten (Orchester-Fassung). So brillant habe ich das noch nie gehört.
    Bei Richter bleibe ich stur. Ich kann akzeptieren, dass es große Bach-Aufnahmen sind und will sie hier auch keinem wegnehmen, wie mir immer fälschlicherweise unterstellt wird. Aber kaufen und hören will ich sie nicht.
    Nachtragen möchte ich dies: ich habe jetzt erst Bertaridos Beitrag gelesen und finde, dass ich mich ihm total anschließen kann.
    Noch ein Nachtrag: es gibt auch HIP-Produktionen, die extrem langweilig sind. Das ist besonders bei den Messen der großen Komponisten der Polyphonie so, also Josquin, Ockeghem, Palestrina, Victoria. Bei YouTube kann man sich ein Bild machen, welche Chöre diese Kompositionen "exekutieren". Als Beispiel nehme ich mal wieder das großartige Stück von William Byrd "Ne irascaris, Domine", das ich gut kenne, weil ich es schon selber gesungen habe (wahrscheinlich haben wir das auch mehr oder weniger exekutiert, aber wir haben dann nicht die Chuzpe, es bei YouTube zu veröffentlichen). Gerade die Aufnahmen mit größeren Chören sind eine Zumutung, bestehen können lediglich die King´s Singers, der Chor des Clare College (wo unser guter alter Gombert sel. gesungen hat) und als Non plus Ultra die Aufnahme mit dem Ensemble "Stile antico". Und wenn ich mir dann zum heimischen Singen die Noten hinlege, dann nur mit dieser Aufnahme. Das Bessere ist doch fast immer des Guten Feind.

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  • Es gibt eine Reihe historischer Aufnahmen, die praktisch seit ihrem Erscheinen im Katalog präsent waren und nahezu durchgehend als "Klassiker" empfohlen wurden, obwohl sie klangtechnisch schon 20 Jahre nach ihrem Erscheinen veraltet waren, z.B. Schnabel, Busch Quartet, Mozartopern aus Glyndebourne, Toscaninis Beethoven und Verdi usw. Die werden anscheinend als zeitlos relevant empfunden, obwohl klang- und teils auch spieltechnisch kaum mehr konkurrenzfähig. Wohlgemerkt, "zeitlos" natürlich nur in den etwa 120 Jahren Tonaufzeichnung oder 80 Jahren seit ihrer Aufnahme.


    Als "nicht mehr zeitgemäß" werden seit einiger Zeit wohl v.a. Aufnahmen von Barock und Alter Musik empfunden, die sich deutlich von den heute für diese Musik dominierenden Gepflogenheiten unterscheiden. Nun sind aber z.B. Karl Richters Bach-Aufnahmen auch die meiste Zeit auf CD greifbar gewesen (wenn auch nicht alles und nicht immer) und kürzlich in größeren Boxen erschienen; es scheint also offenbar nach wie vor eine Nachfrage zu bestehen. Interessant ist ja auch, dass 1970 Richter ein vergleichsweise moderner Bach-Interpret gewesen ist, verglichen mit z.B. Karajan. Zwar gab es damals schon deutlicher historisierende Ansätze wie Wenzinger, Leonhardt, Harnoncourt, aber es war ja noch gar nicht absehbar, dass 20 oder gar 40 Jahre später der HIP-Ansatz weitgehend dominieren würde.


    Es gibt hier aber keine eindeutige Beziehung zwischen Fortschritten in der musikhistorischen Forschung und Interpretationen. Zu viele Faktoren spielen da hinein. Harnoncourt (und meines Wissens sogar Leonhardt) sind später z.B. von (historisch fraglos korrekten) Knabenchören/solisten wieder abgerückt, die Chorbesetzung ist nach wie vor umstritten, Richter war evtl. historisch richtiger als die meisten HIPisten, was den Einsatz einer großen Kirchenorgel in den Passionen betrifft usw. Es gibt Moden, wie extrem üppig (u.a. mit vielen Zupfinstrumenten) besetzte Continuogruppen, was sich historisch nicht oder höchstens regional nachweisen lässt. Wenn man einmal hunderte Contratenöre ausgebildet hat, lässt man die auch singen, selbst wenn z.B. in Händel-Opern historisch eher Frauen als Falsettisten korrekt sind...


    Und Sachen ändern sich auch wieder. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es in den letzten 30 Jahren erheblich mehr Bach-Aufnahmen (und auch Händel, Scarlatti, Rameau) auf dem modernen Klavier gegeben hat als 1950 bis 1980, als nämlich viele Pianisten meinten, diese Musik gehöre aufs Cembalo (so hat meines Wissens Brendel deswegen nur sehr wenig Bach und keinen Scarlatti eingespielt)

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  • Wenn ein Ansatz heute nicht mehr zeitgemäß ist, dann heißt es ja nicht zwingend, dass er es nie wieder sein wird.
    Allerdings gibt es ja durchaus Interpretationen der Vergangenheit, bei denen es extrem unwahrscheinlich sein dürfte, dass sie jemals wieder in Mode kommen.
    Man denke nur an eine gängige Praxis der Vergangenheit, italienische Opern deutsch zu singen.


    Viele Grüße
    Frank

  • Sagitt meint:


    heute diese Aufnahme gehört: https://www.br-klassik.de/prog…/ausstrahlung-652600.html.
    Die H Moll Messe in großer Chorbesetzung. Sicher kann man sich daran freuen, dass es nur einwandfreie Stimmen gibt, die natürlich die hohen Töne beherrschen oder man Tenöre klar identifizieren kann. Aber die Chorteile dieser Messe in einer solchen Massierung zu hören, ist heute schon ungewohnt. Derzeit sind einfach kleinere Ensembles in Mode. Erstaunlicherweise kombiniert Peter Dijkstra diesen großen Chor mit Concerto Köln.
    Zusammen mit gut an hörbaren Solisten, vor allem dem fabelhaften Andreas Wolf, kommt eine sehr ordentliche Wiedergabe heraus.
    Dennoch bleibt die Irritation des Unzeit- Gemäßen

  • Ich denke auch an die Haydn-Sinfonien mit großem romantischem Orchester; das sind für mich Bearbeitungen von Haydn-Sinfonien.


    Ich finde, das ist ein problematisches Statement, wieso sind das Bearbeitungen? Was ist mit den Haydn-Aufnahmen von ASMF oder den Dorati Aufnahmen mit der Philharmonia Hungarica. Das waren doch eher kleine Orchester. Wie klein waren denn die, die Haydn seinerzeit in London vorfand?

  • Es wird die Zeit kommen, da die zeitgemäßen Interpretationen die unzeitgemäßen sind.


    Wenn ein Ansatz heute nicht mehr zeitgemäß ist, dann heißt es ja nicht zwingend, dass er es nie wieder sein wird.


    Diesen beiden Bemerkungen stimme ich voll zu.
    Irgendwie kann ich mit der ganzenFragestellung dieses Threads noch nichts anfangen. Wäre Mengelbergs Matthäser-Passion wirklich unzeitgemäß? Oder Barbirollis Haydn-Sinfonien? War Maria Galvanys Lucia di Lammermoor je zeitgemäß? Und wann war Bernsteins Mahler zeitgemäß?


    Bin mal neugierig, was dieser Thread für Einsichten bringt.


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


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  • Es sind natürlich keine Bearbeitungen. Die "Orchester" in Haydns Zeit reichten nachweisbar von sehr kleinen Ensembles mit nur ca. 12 Streichern bis zu Besetzungen, die die, die man heute für eine Haydn-Sinfonie ansetzt, deutlich übertreffen. Vgl. Mozarts Beschreibung aus Paris: 40 Violinen (also >60 Streicher) und die Bläser verdoppelt. Das Londoner Orchester war nicht ganz so groß, aber auch ingesamt 40 Musiker oder so.
    Im Barock war das so ähnlich. Zwar war ein großer Teil dessen, was wir Orchestermusik nennen, von Kammermusik kaum unterschieden, aber es gab auch Gelegenheiten, bei denen man z.B. Corellis Konzerte (die man 8-10 Leuten spielen kann) mit an die hundert Musikern und Bläserverstärkung aufgeführt hat.


    Der Punkt ist einfach, dass es dafür meistens keine Regeln gab. Das wurde rein pragmatisch gehandhabt. Es ist nicht so, wie wenn man ein Streichquartett mit einem Orchester aufführen würde oder eine von Bachs Solosonaten mit 10 Geigern.


    Ein anderer Fall sind evtl. so etwas wie Madrigale um 1600 (oder früher). Die hat man noch in den 1970ern teils auch mit größeren Chören gesungen, heute beinahe nur noch solistisch und das war vermutlich wirklich so wie Streichquartette mit Streichorchester.
    Andererseits wurde noch früher eben überhaupt keine Musik dieser Zeit gespielt. Es ist ja nicht so, dass es bei Monteverdi oder Marenzio eine durchgehende Aufführungstradition wie bei Mozart (und bei Bach zumindest seit dem frühen 19. Jhd., wenn auch oft in Bearbeitungen) gegeben hätte.

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  • ....als in einem anderen Thread über Karl Richter und seine Bach-Interpretationen geschrieben wurde. Es wurde unter anderem behauptet, Richters Interpretationen sei einfach "nicht mehr zeitgemäß"...


    Das ist er ja in der Tat nicht mehr. Man kann nicht Schuberts Unvollendete oder Brahms`Vierte im Vergleich zur Furtwängler-Zeit und zur Jetzt-Zeit hernehmen und die bei einem solchen Vergleich gewonnenen Erkenntnisse auf das Gebiet der Barockmusik und der Bachinterpretation übertragen. Würde man im Richter-Stil einen Charpentier, Couperin oder auch einen Vivaldi heute noch spielen, dann würde diese Art der Darbietung sicherlich von allen - zurecht- als verstörend und absurd empfunden werden.
    Dass es bei Bach immer noch eine weltweit zwar kleine, aber dennoch vorhandene Richter-Anhängerschaft gibt, hängt sehr mit der überragenden hochqualitativen Kompositionsweise Bachs zusammen. Bach klingt auch mit einem Massenchor, mit fetter Orchesterbesetzung, ohne sprechendem Spiel ( also terassendynamisch, entweder legato oder staccato, ohne Detaildynamik) und modernen Instrumenten immer noch gut, manchmal sogar enorm gut ( mit Abstrichen kann man das auch für Händel so sagen, bei dem dann ein festlich hohler Pathos herauskommt).
    Das rechne ich dann allerdings nicht der Spielweise und Besetzung eines Karl-Richter an, sondern eben Bachs Satztechnik, die einen aus ganz verschiedenen Blickwinkel heraus begeistern kann.
    Es kann nämlich auch sein - bzw. es war ja auch so- dass der Bach ebenso mit einer sicherlich nicht adäquaten Aufführung durch die Moog-Synthesizer einer Wendy Carlos toll und begeisternd klingen konnte/kann. Auch Carlos hat(te) von einer stilgerechten, sprechenden Vortragsweise eigentlich keine Ahnung, konnte aber dennoch mit ihrer Musikalität und ihrem Einfallsreichtum viele begeistern, darunter auch einen gewissen Glenn Gould.....


    Nimmt man hingegen die Haydn-Variationen von Brahms in einer aktuellen Interpretation und in derjenigen mit Furtwängler und dem BPO ( nach dem Krieg, aber noch mono) dann fällt auf, dass Furtwängler ggf. näher am Puls der Musik war, als man es heute hinbekommt. Das hängt in diesem Fall sicher auch damit zusammen, dass Furtwängler, der ja auch Komponist war, noch aus einer deutsch-romantischen Tradition herkommt, ebenso das BPO. Das sollte man aber nicht - so finde ich- nicht mit den notwendigen Kurskorrekturen in der Frage, wie man eine Alte Musik aufführt, die in den Noten überhaupt keine Vortragsbezeichnungen enthält, in einen Topf werfen. Das sind sehr unterschiedliche Phänomene und Bereiche.


    Mein Vater hat eine Aufführung der Matthäus-Passion unter Furtwängler auf CD, noch mit einem Flügel als Continuo. Für mich ist dagegen ( auch was die Unzulänglichkeiten in jeder Hinsicht der Furtwängler-Aufführung anbelangt) eine Richter-Matthäus-Passion eine reine Erholung. Sie klingt ungleich "moderner" und adäquater. Ich finde auch, dass Richter im Vergleich zu den anderen alten Garde der Bachinterpreten durchaus führend war. Auch seine hohe Überlegenheit gegenüber Karajans "Geht-gar nicht-Bach" ist mir damals in den Siebzigern sogar als Kind sehr eindeutig aufgefallen. Andererseits ist mir das berühmte Air von Bach ( aus der ersten D-Dur-Suite) in Furtwänglers Interpretation und in seinem Tempo aus diesen Zeiten in Erinnerung:



    hier ab 8.39.


    Interessanterweise habe ich in einem Live-Konzert in der Bielefelder Oekterhalle einmal Harnoncourt mit dem Concentus musicus Wien erlebt, der ein Tempo wählte, was fast genauso langsam war. Es war Elektrizität im Raum....Auf seinen CDs spielte Harnoncourt dieses Stück "werkgerechter", also in einem mehr fließenden Tempo. Der Eindruck, dass sich aus dem Nichts herkommend plötzlich der Himmel öffnete und man einen Vorgeschmack auf eine andere Welt bekam, den gab es eben nur bei dieser Live-Aufführung. Es hat mich an jene uralte Furtwängler-Interpretation erinnert, zwar nicht von den Trillern und Vorhalten her ( die sind bei Furtwängler "falsch"), aber vom Geiste her. In dieser Furtwängler-Interpretation kann er trotz der aufführungspraktischen "Fehler" dennoch mit seiner einmaligen Musikalität punkten und die Leute in eine andere Welt entrücken.



    Mit dem, was Leonhardt und Harnoncourt durchs praktische Beispiel so überzeugend vormachten, haben sie aber - wie gesagt- einen notwendigen Paradigmenwechsel in der Interpretation Alter Musik von der Renaissance bis zur Frühklassik herbeigeführt. Es lag eindeutig in der Luft. Hätten sie es nicht gemacht, dann hätten es andere machen müssen. Zum Glück gab es diese beiden besonders charakteristischen Musiker.
    Die Unterschiede zur Spielweise eines Karl Richters kann man sicherlich sehr schön an den Cembalokonzerten Bachs hören, einmal mit Karl Richter und dann in der legendären Einspielung mit Gustav Leonhardt. Nicht nur die ganz andere Spielweise, sondern auch die klangliche Überlegenheit der historischen Cembali ( oder der korrekten Kopien) gegenüber diesen Eierschneider-Dingern, die Neupert früher noch baute und Richter verwendete, haben ihren Beitrag dazu geleistet.


    Diese Wende im Verständnis einer auf Klangrede aufbauenden Musik (ich finde nicht, dass alle heutigen HIP-Leute diese gestische Klangrede tatsächlich verstanden haben und "sprechen"....) kann man also nicht als Modeerscheinung abtun. Es war so, als ob man jahrzehntelang Französisch in deutscher Aussprache vortrug und dann irgendwann jemand sich fragte, ob das denn so richtig wäre, dann alte Schriften entdeckte und sich durch jahrzehntelanges Studieren und Probieren die passende französische Aussprache wieder angeeignet hat. Das kann man weder ignorieren, noch als bloße vergängliche Mode abtun.
    Richtig ist aber auch, dass es innerhalb der HIP-Szene sehr unterschiedliche Strömungen und durchaus auch sehr deutlich erkennbare Moden gab und immer noch gibt. Harnoncourt und Leonhardt spielten in ihrer eigenen Liga und hatten ihren sehr speziellen Personalstil ( Harnoncourt leidendschaftlich, sehr sprechend, gestisch und genialisch, Leonhardt als Dirigent sehr rhythmisch, nie zu schnell und konsequent klar in der Artikulation) den ein Kenner nach ein zwei Takten mühelos erkennt.
    Musica Antiqua Köln tat sich in der ersten Zeit durch eine gewohnheitsmäßige Schwell-Drücker ( mitunter unangenehm) hervor, später war es dann ein nur noch ein energetische Drücken, wie man bei der "Chaconne"-CD hören kann. Hogwood und Pinnock zeichneten sich durch den Verzicht auf Manierismen und durch hohe Perfektion und Transparenz aus, aber standen eben auch in der Gefahr, hierbei das Publikum gelegentlich einzuschläfern, bzw. wiesen sich nicht durch besonderen Ideenreichtum aus.
    Dann gab es neuere Ensembles, die ich hier nicht namentlich nennen möchte, die sich durch die ein oder andere ruppige und sehr schnelle MAK-Aufnahme angestachelt fühlten, in eine Art Wettbewerb der ruppigen Geschwindigkeit einzutreten. So etwas gibt es wohl bis heute, aber ich meine festzustellen, dass diese Mode am verklingen ist.
    Bei Bach gibt es dann noch den hochkultivierten Klangästheten Herreweghe und den ähnlich non-manieristisch, aber manchmal druckvoller oder auch schwebender interpretierenden Suzuki, dessen Klangbild auch etwas heller erscheint, als bei Herreweghe. Gardiner hat manchmal gute Momente, ist dann aber oft zu schnell und manchmal auch nicht ausgereift genug, bzw. mit sehr unterschiedlichen Sängerleistungen, wenn es um die Kantaten geht.


    Dann kam eine neuen Mode auf - sie scheint noch aktuell zu sein, aber ich gebe ihr keine große Zukunft- nämlich dass man Bachs Kantaten mit einem Solistenquartett besetzt und auch sonst das Orchester ähnlich klein besetzt ist, beim Kuijken sogar nur mit 8-Fuß-Bass, wodurch die für Bach wichtige Wärme und das Bassfundament gänzlich verlorengegangen ist. Ebenso wird bei ihm mit kleinem Ambitus musiziert, also nicht zu große Unterschiede, nicht zu leise, nicht zu laut. Diese Spielweise passt ideal zum dünnen Klangbild, langweilt jedoch schon nach wenigen Takten, wie ich finde.
    Gustav Leonhardt, immerhin ein jahrzehntelanger Kammermusikpartner Kuijkens hat diejenigen, die den Chor ganz abschaffen wollen, schlicht und ergreifend "Idioten" genannt. Man kann den Film hierzu auf Youtube finden. Es gäbe das Eine oder das Andere, was bei Bach immer noch im Dunkeln läge, aber ausgerechnet zu dieser Frage dürfe es aufgrund der Bachforschung doch kaum Diskussionen geben. Zwar räumte er ein, dass er ( und wohl auch Harnoncourt) einen zu großen Chor eingesetzt haben, aber diese Mode mit dem OVPP hat er drastisch abgelehnt.


    Interessant ist aber, wie von der Continuo-Besetzung her Karl Richter durchaus in einem anderen Punkt richtig lag: Er setzte eine große Orgel ein, die auch Bach vorausssetzte. Wenn Suzuki das z.B. bei der Altkantate "Vergnügte Ruh" ebenfalls so macht, dann finde ich die Wirkung einfach überwältigend, auch deshalb, weil das Basspedal seine Wirkung nicht verfehlt ( mit meinen Subwoofern kann man es gut hören...)
    Da frage ich mich dann schon, weshalb er es nicht gleich immer so macht, bzw. warum Leonhardt und Harnoncourt diese kleinen Truhenorgeln einsetzten.


    Es gibt Moden, wie extrem üppig (u.a. mit vielen Zupfinstrumenten) besetzte Continuogruppen, was sich historisch nicht oder höchstens regional nachweisen lässt.


    Ja, für Bach ist es m.E. eine ärgerliche Unart. Für mich ist es so, dass ich bei Koopmans Kantatenaufnahmen immer versuchen muss, über dieses Geklampfe ( sorry, aber es klingt mir manchmal so) hinwegzuhören. Umso überzeugender wirken auf mich Theorben, wenn man sie z.B. für die Aufführung der Psalmen Davids von Heinrich Schütz einsetzt.


    Was ist nun zeitgemäß und nicht zeitgemäß?
    Wenn sich etwas als eindeutige überlegen herausgestellt hat, dann sollte man es m.E. auch so als Grundlage behalten, aber dennoch immer wieder hinterfragen bzw. Ansatzpunkte zur Verbesserung finden.
    Das, was bei diesen Prozessen nicht musikalisch überzeugt, sollte irgendwann auf den Müllhaufen der Interpretationsgeschichte ausgeschieden werden. Aberwitzige, rasante Tempi, aber auch absurde Besetzungen gehören m.E. dazu.
    Nicht alles, was historisch geboten erscheint, ist auch musikalisch sinnvoll. Wie vehement hat man z.B. die Knabenchöre für Bachs Musik gefordert und sie auch eingesetzt. Heute machen diese chorisch oft überforderten Knabenchorpartien ( oder auch so mancher Knabensolist) das Anhören einer ansonsten oft durchaus instrumental sehr guten bis herausragenden Interpretation bei der Ersteinspielung der Kantaten zur Geduldsprobe. Man hat das Collegium Vocale Gent oder das Bach Collegium Japan im Ohr und kann das für bestimmte Chorsätze einfach nur noch mit großer Überhörungsanstrengung ertragen.
    Ebenso absurd wirken auf mich allerdings jene Ansätze, bei der aus einer h-moll-Messe irgendwie eine gemütliche Hausmusik wird. "Ihr singt erste, zweite, dritte-Stimme und Papa, du singst den Bass".....
    Weil Furtwängler und Richter in Bezug auf die Besetzungsstärke massiv überzogen und auch Harnoncourt und Leonhardt viel zu große Chöre ( 40 Sänger...) verwendeten, hätte man nicht das Kind mit dem Bade ausschütten müssen um dann nur noch ein Quartett antreten zu lassen.
    Macht man es so, wie es sich Bach vorstellen ( 3 bis 4 Leute pro Stimme), dann wirkt es auch überzeugend, auch im Verhältnis zum Orchester. Eventuell kann man in den Chorsätzen hier und da Solisten mit den Ripienisten ( also dem Rest des Chores) abwechseln lassen, ebenso auch im Orchester. Letzteres hat Harnoncourt schon in seinen Bach-Aufnahmen gemacht, ersteres ist vor allem durch Jos von Veldhoven bekanntgeworden, aber auch Koopman und Suzuki haben solche Dinge schon gemacht, übrigens sehr überzeugend, wie ich finde.


    Spätestens wenn man so weit gekommen ist, dass man auch Wagner mit jeweils einem Musiker bei den Streichern aufführt, müsste man eventuell merken, auf welchem Holzweg man sich gerade mit der OVPP befindet.


    Was andere, spätere Musikstile anbetrifft, sehe ich es so: Mozart und Beethoven profitieren von einer Kenntnis der aus dem Barock herstammenden Klangrede, man muss aber auch die Zeit der "Empfindsamkeit", die es dazwischen ja auch gab, miteinbeziehen, d.h. auch die gesanglich-melodiösen Elemente zu ihrem Recht kommen lassen und die Klangrede darauf abstimmen, großbogiger denken.
    Von den Besetzungen her sehe ich nicht, dass die Verwendung der Originalinstrumente jene Vorteile brächten, die man beim Barock genießen kann.
    Einen Brahms mit Darmsaiten, kleiner Besetzung und auf kühle Transparenz im Non-Vibrato getrimmt, empfinde ich als furchtbar. HIP, früher so wichtig und notwendig, verkommt dann zur Masche, zum Experiment oder zum bewusst nur Anders-Sein-Wollen.
    Ähnlich sehe ich es mit historischen Klavierinstrumenten wie dem Hammerklavier. Sie können hier und da bereichernd wirken, aber jene zwingende Überzeugungskraft, die ein Barockorchester für eine Telemann-Suite hat, werden sie bei Schubert nie erreichen können. Das hat eben mit rein musikalischen Gründen zu tun, die m.E. immer auch die Aspekte der historischen Korrektheit überstimmen sollten.


    Eine Unvollendete mit Böhm oder eine Bruckner-Neunte mit Giulini kann daher in meiner Musikwelt jedenfalls immer noch als aktuell, bzw. als "zeitgemäß" wirken, eben weil da so viele Elemente handwerklicher und musikalischer Güte enthalten sind, die immer gelten und deshalb auch zum "Klassiker" der Interpretationsgeschichte taugen. Für Karajans Bach oder so manchen Monteverdi-Versuchen vor Harnoncourt kann man das aus meiner Sicht jedoch in keinem Fall so sehen. In der Musik ist es wie im wirklichen Leben: Nicht alles ist relativ und nur "Geschmacksache" bzw. "Meinungsfreiheit"....Da könnte ich jetzt sehr schön abschweifen, aber um des Forumsfriedens willen, lasse ich das bleiben... ;)


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Es ist ja auch nicht so, dass es immer ein eindeutig richtig oder falsch gäbe. Es gibt mindestens drei Dirigenten, die mehr oder weniger persönlichen Kontakt zu Mahler hatten und berühmte Mahler-Interpreten wurden und sie unterscheiden sich stilistisch sehr deutlich voneinander: Bruno Walter, Klemperer und Mengelberg. Ebenso wird überliefert, dass Brahms Interpretationen seiner Werke von Dirigenten schätzte, die als sehr unterschiedlich beschrieben wurden, etwa Hans von Bülow, Hans Richter, Fritz Steinbach.


    Ab den Spätromantikern haben wir oft Interpretationen aus dem unmittelbaren Freundes/Schülerkreis (Toscanini hat bei Verdi im Orchester gesessen und Puccinis Premieren dirigiert) oder gar eigene Interpretation (z.B. Elgar, Strauss, Rachmaninoff, Stravinsky u.a.), jedenfalls Musiker, die entweder persönlichen Kontakt hatten oder in derselben musikalischen Kultur aufgewachsen sind. Daher kann mir niemand erzählen, dass für Musik ca. ab den 1880ern eine HIP-Rekonstruktion authentischer wäre als die erhaltenen Interpretationen aus der ersten Hälfte des 20. Jhds. von Musikern, die in den 1870ern bis 1900ern ausgebildet wurden.

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  • Ich finde, das ist ein problematisches Statement, wieso sind das Bearbeitungen? Was ist mit den Haydn-Aufnahmen von ASMF oder den Dorati Aufnahmen mit der Philharmonia Hungarica. Das waren doch eher kleine Orchester. Wie klein waren denn die, die Haydn seinerzeit in London vorfand?


    Wieso ist das ein problematisches Statement? Wieso sind das keine Bearbeitungen, wenn man Sinfonien in der dreifachen Stärke wie vorgesehen spielen lässt? Die Dorati-Aufnahmen und die der ASMF werden nicht mit alten Instrumenten gespielt, hier liegt die Academy of Ancient Music unter Christopher Hogwood klar vorn.
    Die Sinfonien etwa ab 88 sind ein Sonderfall, denn die hat Haydn tatsächlich für größere Orchester geschrieben. Gerade die mir liebsten Sinfonien, die 40er (Sturm und Drang), sind für kleine Orchester geschrieben. Ich bin allerdings auch der einzige hier, dessen Wertschätzung der Haydnschen Sinfonien bei 88 aufhört; kennen tue ich alle 104, ich weiß also, was ich sage. Ob das jetzt ein problematisches Statement ist, ist mir auch ziemlich egal.

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  • Glockenton: Dir ganz herzlichen Dank für Deinen tollen, fundierten Beitrag ! :hail:
    (allen anderen natürlich auch ein Dankeschön ! :untertauch: )


    Ich hatte meinen Beitrag geschrieben und dann erst den von Glockenton gelesen. Ich kann mich dem Urteil von Hüb´ nur neidlos anschließen. 8o

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  • Glockentons Beitrag ist natürlich wie schon so oft einfach wunderbar. :)


    Ich würde nur folgende "systematische" Unterscheidung anbringen wollen:


    Fragen der Aufführungspraxis hängen mit Interpretationsfragen zusammen oder können mit ihnen zusammenhängen, sind aber mit ihnen auch nicht einfach identisch. Wenn Barockmusik in der Art der Romantik aufgeführt wird, kann das ja zunächst ganz einfach dadurch bedingt sein, dass man die barocke Aufführungstradition gar nicht mehr kennt. (Czerny z.B. wußte als Herausgeber von J.S. Bach bereits nicht mehr, wie Bach eigentlich richtig phrasiert wird.) Dann ist das aber keine "Interpretation". Wenn sich dagegen eine historische Aufführungspraxis neu etabliert, und jemand trotzdem bei der alten bleibt, dann beinhaltet das eine Stellungnahme und wird so zum Ausdruck einer Interpretation, etwa einer "romantisierenden" oder betont klassizistischen. Die Frage, was "zeitgemäß" ist oder nicht, läßt sich so einfach nicht beantworten, sondern ist eine Frage des Standpunktes. Interpretationen können natürlich auch anachronistisch unzeitgemäß sein, wenn sie bestimmte Entwicklungen einfach ignorieren. Vielleicht ist das bei Karajans Bach so gewesen. Anders ist es dagegen, wenn der Interpret bewußt gegen die historische Aufführungspraxis Stellung bezieht.


    Eine andere Frage ist natürlich die nach der "Bedeutung" einer Interpretation. Die ist durchaus unabhängig davon, ob die Interpretation zeitgemäß oder unzeitgemäß ist. Natürlich wird heute niemand mehr Chopin genau so wie Cortot, oder Beethoven wie Kempff oder Schnabel 1930 spielen können. Trotzdem ist jeder Interpret von heute gut beraten, diese Aufnahmen zu kennen und seine Erkenntnisse daraus ziehen.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Wieso ist das ein problematisches Statement? Wieso sind das keine Bearbeitungen, wenn man Sinfonien in der dreifachen Stärke wie vorgesehen spielen lässt? Die Dorati-Aufnahmen und die der ASMF werden nicht mit alten Instrumenten gespielt, hier liegt die Academy of Ancient Music unter Christopher Hogwood klar vorn.
    Die Sinfonien etwa ab 88 sind ein Sonderfall, denn die hat Haydn tatsächlich für größere Orchester geschrieben. Gerade die mir liebsten Sinfonien, die 40er (Sturm und Drang), sind für kleine Orchester geschrieben. Ich bin allerdings auch der einzige hier, dessen Wertschätzung der Haydnschen Sinfonien bei 88 aufhört; kennen tue ich alle 104, ich weiß also, was ich sage. Ob das jetzt ein problematisches Statement ist, ist mir auch ziemlich egal.


    Aber das sind ja nun erst einmal zwei Paar Schuhe: die Größe des Orchesters und alte und neue Instrumente. Und wenn Deine Bemerkung sich vor allem auf die frühen Symphonien bezieht, verstehe ich sie auch eher. Mit denen habe ich mich bisher nicht richtig befasst. Aber wie Johannes schon ausführte, sollte man da heute nicht kleinlicher sein als es die Komponisten seinerzeit gewesen sind.

  • Lieber Holger,


    gerade bevor ich etwas absenden wollte, habe ich noch Deinen Beitrag gelesen und stimme Dir zu. Das Schöne dabei ist, dass ich ohnehin etwas Musik mit Wilhelm Kempff posten wollte...:-)


    Gerade entdeckte ich nämlich über eine Facebook-Gruppe eine alte Aufnahme mit Wilhelm Kempff, der ein Stück aus einem Cembalokonzert für Cembalo und Orchester für den modernen Flügel bearbeitete (Bach selbst hat es auch für Oboe und Orchester bearbeitet und als Vorspiel für eine Kantate verwendet) und auch - wie ich finde sehr meisterhaft- spielte.




    Ist das noch zeitgemäß?
    Ja, das finde ich schon!
    Warum?
    Weil es einfach richtig gut gemacht ist und den Menschen direkt erreichen kann. Ob man heute sagt " ja, aber der hat das doch für Barockensemble und Cembalo geschrieben" ist dann auch egal. Was richtig gut ist, das ist auch zeitlos. Was zeitlos ist, dass ist dann auch immer "zeitgemäß". Wäre es nicht so, dann würden wir uns hier alle nicht kennen, denn die Musik, über die wir uns kennengelernt haben, ist ja auch nicht mehr brandaktuell, sondern teilweise einige hundert Jahre alt. Warum ist sie aber noch -für uns- zeitgemäß? Eben, weil sie so gut ist, jedenfalls so manches davon.


    Ähnlich wie bei dem obigen Beispiel geht es mir übrigens mit einer Bach-Busoni-Bearbeitung von "Nun komm der Heiden Heiland", aber auch nur dann, wenn es Alfred Brendel spielt. Ich würde es auf der Orgel sicherlich anders spielen, aber liebe dennoch diese irgendwie gar nicht in die Zeit passende Bearbeitung und die Spielweise Brendels sehr. Bestimmt nicht historisch korrekt, aber es hat doch so viel Wahrheit...für den, der es hört.



    Gruß
    Glockenton


    PS.: Ach ja, fast vergessen: Danke für die Blumen :)

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Ich freue mich, daß dieses Thema auf Interesse gestoßen ist:
    Über Karl Richter wurde ja schon viel geschrieben, aber man sollte im Auge behalten, daß er zu Lebzeiten einerseits vone ein Schar von Bewunderern umjubelt wurde, aber auch abgelehtn wurde, und zwar wegen seiner damals als revolutionär gesehenen Interpretationsphilosophie, die Bach vom Thron runterholte und einen vitalen Komponisten aus ihm machte. Man war damals sicher, daß hier ein Stil für die Ewigkeit gefunden war (ähnlich wie im Falle Karl Böhms bei Mozart und Herbert von Karajans bei den Beethoven Sinfonien.
    Man irrt, wenn man glaubt daß in den 60erJahren nieman Ahnung davon hatte, wie die alten Klassiker und Braockkomponisten zu Lebzeiten aufgeführt wurden - aber man hielt diesen Stil für antiquert und überwunden,
    Dunkel erinnere ich mich an eine Jubelkritik, wo Bach mittels Moog-Synthesyzer aufgeführt wurde. Dreißig oder vierzig Jahre später kam ein Rezensent zu dem Schluß, daß dies ein Vergehen an Bach sei....
    Heute wird (wie schon in meiner Jugend auch - lediglich von anderen Leuten)so getan, als habe man die Weisheit und die Erkenntnis in Bezug Interpretation mit dem Löffel gefressen. Man sei am Ende einer Kette angelangt und habe nun die einzig wahre Interpretation entdeckt, bzw wiederentdeckt...
    Eine Illusion !!!


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Ist das noch zeitgemäß?
    Ja, das finde ich schon!
    Warum?
    Weil es einfach richtig gut gemacht ist und den Menschen direkt erreichen kann. Ob man heute sagt " ja, aber der hat das doch für Barockensemble und Cembalo geschrieben" ist dann auch egal.

    Das finde ich auch, lieber Glockenton! Musik kann auch mit der Zeit "wachsen", Keime, die in ihr liegen, durch eine spätere Epoche erst so richtig aufblühen - und auch ein anderes Instrument wie das moderne Klavier kann die Keime so richtig zum Blühen bringen. Bei Bach ist das finde ich evident. Warum hat Busoni Bach so kongenial transkribieren können? Weil Bach vieles an "Romantik" vorweg genommen hat. Ganz ähnlich ist es bei Scarlatti - vielleicht sogar noch evidenter. Was für einen Zauber ein Horowitz da entfalten kann!


    Die Gesanglichkeit ist wirklich zeitlos - "Nun komm der Heiden Heiland" dafür ein besonderes Beispiel, besonders, weil es "Bekenntnismusik" ist. Brendel ist wirklich sehr schön - etwas mehr Bach, als Busoni. Bei Horowitz ist das dagegen Busoni-Bach, die Apotheose von Gesang auf dem Klavier. Einfach überirdisch! :hello:





    Herzlich grüßend
    Holger

  • Noch einige Nachbemerkungen zu "Nun komm, der Heiden Heiland".


    Brendels Aufnahme ist deshalb so gelungen, weil sie romantische Empfindung mit barockem Geist verbindet. Brendel spielt das ungemein besinnlich getragen (das erinnert in dieser Strenge fast an Svjatoslav Richter) und auch sehr tonschön. Bei ihm führt aber typisch für Barockmusik der Bass die Melodie und nicht umgekehrt - das ist ein durchlaufendes basso continuo.


    Ganz anders Horowitz. Er "romantisiert" eindeutig. Die Begleitung bei ihm läuft nicht durch, sie ist eine Art stimmungshafte Untermalung der tragenden Melodie - genau die Umkehrung von Brendels Sicht. Warum man bei Horowitz so ins Schwelgen gerät, ist seine unvergleichliche Kunst, einen Klavierton wirklich zum "Leben" zu erwecken. Diese Melodie atmet so dynamisch flexibel, als würde wirklich ein Sänger vor uns stehen. Dazu spielt er das mit einer solchen tief berührenden Melancholie, dass man einfach hingerissen ist. Im Vergleich dazu spielt Brendel zwar schön - aber es bleibt eben letzlich ein "normaler" Klavierton. Wenn man diese Aufnahme hört, versteht man finde ich, warum Joachim Kaiser Horowitz den "Gott des Klaviers" nannte. Nicht wegen irgendeines Tastenzirkus. Nein! Was er eben konnte, war die Grenzen des mechanischen Instruments vergessen zu machen, eine Melodie so "atmen" und schwingen zu lassen wie hier als werde der Ton gar nicht einmalig "angeschlagen", sondern kontinuierlich veränderlich durch Druck wie ein Geigenbogen auf der Saite. Es gibt nur einen anderen Ausnahme-Pianisten, der diese besondere Kunst ebenfalls beherrschte. Das war Benedetti Michelangeli.


    Nun die Frage: Ist Horowitz´ romantisierter Bach nun zeitgemäß oder nicht? Diese Frage ist finde ich völlig akademisch. Jeder Hörer, vor allem jeder Pianist wird diese Aufnahme bewundern, Brendel wahrscheinlich auch (Cortots Aufnahme der Chopin-Preludes bewundert Brendel (Filmmitschnitt) auch wegen genau dieser Fähigkeit, das Seelische auf dem Klavier auszudrücken). Wenn ich Anne Sophie Mutter mit einem Bach-Violinkonzert höre, finde ich diese spätromantische Sentimentalität, mit der sie die Musik auflädt, ziemlich unerträglich. Bei Horowitz ist das aber ganz anders. Ihm gelingt es, die Musik selber sprechen zu lassen, trotz aller pianistischen Akkuratesse bleibt das eben völlig natürlich. Es ist ja auch eine Transkription. Bei Brendel hört man: Da wird Bach romantisch transkribiert. Bei Horowitz ist die Übersetzung in eine romantische Empfindungswelt vollkommen - und das Wunder dabei ist, dass genau das dem Stück in keiner Weise fremd ist, sondern ihm dazu verhilft, wie ein Juwel zu leuchten.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zitat

    Nun die Frage: Ist Horowitz´ romantisierter Bach nun zeitgemäß oder nicht? Diese Frage ist finde ich völlig akademisch. Jeder Hörer, vor allem jeder Pianist wird diese Aufnahme bewundern, Brendel wahrscheinlich auch (Cortots Aufnahme der Chopin-Preludes bewundert Brendel (Filmmitschnitt) auch wegen genau dieser Fähigkeit, das Seelische auf dem Klavier auszudrücken). Wenn ich Anne Sophie Mutter mit einem Bach-Violinkonzert höre, finde ich diese spätromantische Sentimentalität, mit der sie die Musik auflädt, ziemlich unerträglich


    Die Ausführungen sind sehr interessant, im Falle von Anne Sophie Mutter allerdings sehr "persönlich" gefärbt - was per se kein Fehler ist. Tatsäcklich sind ebefalls alle sie beschriebenen Interpreten "persönlich" von ihrem Stil her. Und somit sollten wir das anerkennen und zulassen. Dank der Schallplattte (CD SACD etc etc) können wir diese individuellen - oft vom jeweiligen Zeitgeist geprägeten Interpretationen auch hören - dabei einen Zeitraum von Jahrzehnten (dereinst Jahrhunderten) überbrückend - und sind nicht - wie in der Vergangenheit - auf Berichte und Erzählungen angewiesen


    Ob eine Interpretation als "angemessen" empfunden wird, wird stets eine Frage des persönlichen Geschmacks und des musikalischen Zeitgeistes bleiben.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !