Bloßer Arienzirkus - Lähmen Konventionen das musikalische Drama?

  • In dem etwas schillernden Thread Belcanto kontra dramatischer Gesang? wurde unter anderen behauptet, dass die Konventionen und Strukturen der Barockoper überzeugende musikdramatische Entwicklungen schwierig oder unmöglich machten.
    Nun ist das ja keine exotische Meinung; man findet auch heute noch nahezu in jedem Opernführer ähnliche Aussagen. Die Ansicht passt auch zu verschiedenen Vorstellungen von der Entwicklung der Oper, etwa einer Verfallsgeschichte von Monteverdi bis zum "Arienzirkus" bei Händel u.a., wonach dann in mehreren mühsamen Reformschritten wieder eigentliches Musikdrama (mit mutmaßlichem End- und Höhepunkt bei Wagner) gewonnen wurde. Sicher kann man auch "Nummernopern" nach dem Barock als eingeschränkt, problematisch usw. sehen.
    Um den Fokus einigermaßen eng zu halten, schlage ich jedoch vor, sich erst einmal auf die ja tatsächlich weitestgehend durch die Abfolge Rezitativ-(dacapo)Arie geprägte Oper des Hoch- und Spätbarock zu konzentrieren.


    Ist das wirklich nur ein Arienzirkus? Wie starr sind die Konventionen (verglichen mit anderen Operntypen)? Inwiefern erlauben sie welche Art dramatischen Ausdrucks oder dramatischer Entwicklung?

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Noch die Opern des von mir sehr geschätzen Händel bestehen fast ausschließlich aus der starren Abfolge von Rezitativ und Arie. Pro Akt gibt es vielleicht auch mal ein Duett, aber nicht mehr, auch keine Terzette, Quartette usw. (Ausnahmen mögen dieser Regel bestätigen).


    Am Anfang und am Ende der Oper gibt es meist einen kleinen Chor (häufig ein Tutti aler Solisten), aber viel Abwechslung ist das auch nicht.


    Ouvertüre - Chor - Arie - Rezitatativ - Arie - Rezitativ - Arie - Reziativ - Arie - Reziativ - Arie - Reziativ - Duett - Rezitativ - Arie - Rezitativ - Arie - Rezitativ - Arie - Rezitativ - Arie usw.


    Um wie viel aufregender ist doch eine Mozart-da Ponte-Oper: Ouvertüre - Introduktion (mit mehreren Solisten) - Reziativ - Duett - Reziativ - Arie, eigentlich Terzett - Rezitativ - Arie - Chor mit Duett - Rezitativ - Arie - Rezitativ - Duett - Rezitativ - Arie - Rezitativ - Quartett - Rezitativ - Arie - Rezitativ - Arie - Rezitativ - Arie - Rezitativ - Finale (Duett, Solo mit Chor, weitere Steigerungen, am Ende Septett)


    Das war jetzt mal am 1. Akt "Giovanni" orientiert, vielleicht habe ich noch eine Arie vergessen. Sicher, das traditionelle Seria-Schema der Abfolge von Rezitativ und Arie im Wechsel ist immer noch grundlegend, aber es kommen mehr Duette und Ensembles hinzu und in den große halbstündigen Finale finden alle möglichen Formen statt, entwickeln sich auseinander und gehen ineinander über, die Handlung findet nun auch in den Musiknummern selbst statt und nicht mehr nur in den Rezitativen, während die herkömmlich bei den Musiknummern (Arien) still stand.


    Der reife Mozart: das ist für mich eine völlig neue Qualität als Musikdramatiker - haushoch allen Vorgängern überlegen!
    Hier findet in der Tat ein musikalisches Drama statt, vor ihm eher selten...

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ich glaube man muss die musikhistorische Leistung der Mozartschen Finali (oder überhaupt der reifen Mozartopern) nicht herunterspielen, um Zweifel daran zu haben, dass Deine Gegenüberstellung ein konklusives Argument darstellt. Dass die Barockoper durch solche Folgen bestimmt wird, wird wohl kaum jemand ernsthaft bestreiten, obwohl es wichtige Ausnahmen mit längeren Akkompagnato-Szenen gibt. Und Du bestreitest auch nicht, dass in einer reifen Mozart-Oper ebenfalls Konventionen (wenn auch ein wenig flexiblere) herrschen und die Solo-Arie weiterhin die dominierende Nummer ist.


    Das dürfte alles unstrittig sein.
    Umstritten ist, ob die bloße Tatsache, dass es mehr Duette, vielleicht auch mal ein Terzett und ein größeres Ensemble gibt, automatisch zu einer Überlegenheit führt. Meinst Du wirklich, die Mozart-Oper sei hauptsächlich deswegen aufregender? [Das scheint mir offensichtlich falsch, sonst wären auch beliebige schwache Opern des frühen 19. Jhds. mit größeren Ensembles automatisch auch den besten Barockopern überlegen.] Und dass die Opera seria automatisch ein Problem hat. Sie hat, das wird jeder zugeben, natürlich nicht dieselben Möglichkeiten und Freiheiten wie die späte Mozartoper. Das heißt aber nicht, dass andere Möglichkeiten musikdramatischer Gestaltung nicht auch überzeugende Ergebnisse liefern können. Mehr muss der Freund der barocken Seria m.E. nicht behaupten.


    (Post)wagnersches Musikdrama oder Verismo-Oper haben auch andere Möglichkeiten (und vielleicht mehr Freiheiten) als Mozart-Opern. Daraus ergibt sich aber noch nicht automatisch, dass das eine oder andere besser/dramatischer etc. ist.


    Eine Klaviersuite von Bach ist verglichen mit einer klassischen Klaviersonate auch recht kontrastarm (alles in derselben Tonart), oft eine starre Abfolge von stilisierten Tänzen (die ihrerseits sehr ähnlichen Formen folgen). Daraus folgt aber auch nicht, dass z.B. Bachs c-moll-Partita schwächer wäre als Beethovens "Pathetique"-Sonate.

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  • Die Abwechslung ist das eine, aber macht die ein Drama aus? Das aristotelische Drama ist gekennzeichnet durch die berühmte Einheit von Zeit, Ort und Handlung. Wenige Personen, nur ein Ort mit wenigen Nebenschauplätzen, eine Handlung, die in sich zusammenhängt und abgeschlossen ist. Es gibt einen Spannungsbogen mit Anfang, Höhepunkt und Ende, das im antiken Drama tragisch war, später dann durchaus ein "happy end" sein konnte. Alles das sehe ich auch in der spätbarocken Opera seria verwirklicht. Es gibt standardisierte Personenkonstellationen, aber die hindern nicht die Entfaltung von höchst spannenden "dramatischen" Handlungen. Der Unterschied zur späteren Oper besteht darin, dass die Handlung und damit das eigentliche Drama in den Rezitativen stattfindet, während die Arien Gefühlszustände ausdrücken oder das Geschehen kommentieren. Aber die Rezitative sind natürlich ein Bestandteil der Opera seria und müssen in die Betrachtung einbezogen werden. Und immerhin sind die Rezitative Gesang, im Gegensatz zu den gesprochenen Dialogen im deutschen Singspiel oder der Opéra comique, was mich an diesen Formen immer gestört hat.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Man darf die Barockopern nicht mit heutigen Augen betrachten.Dramatik in Form von Action war eigentlich nicht gefragt, ausmeiner Sicht waren etliche dieser Opern, lediglich - wie schon weiter oben so treffend genannt . ein "Arienzirkus" zur Präsentation der Kartraten, Primadonnen und Tenöre, gleichzeitig eine Ausstattungsorgie und ein "Gesellschaftliches Ereignis" ersten Rangesm wo man sich zeigen konnte. Inwieweit sich das damalige Publikum für die Inhalte interessierte ???
    Sicher hatte aber das hohe C des Einzelnen "Stars" mehr Gewicht als der gesamte Inhalt der Oper.....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Dramatik in Form von Action war eigentlich nicht gefragt


    Action gibt es in Barock-Opern nun wirklich genug. Die Handlungen sind oft kompliziert und implausibel, aber es passiert eine Menge.

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  • Umstritten ist, ob die bloße Tatsache, dass es mehr Duette, vielleicht auch mal ein Terzett und ein größeres Ensemble gibt, automatisch zu einer Überlegenheit führt. Meinst Du wirklich, die Mozart-Oper sei hauptsächlich deswegen aufregender? [Das scheint mir offensichtlich falsch, sonst wären auch beliebige schwache Opern des frühen 19. Jhds. mit größeren Ensembles automatisch auch den besten Barockopern überlegen.] Und dass die Opera seria automatisch ein Problem hat. Sie hat, das wird jeder zugeben, natürlich nicht dieselben Möglichkeiten und Freiheiten wie die späte Mozartoper. Das heißt aber nicht, dass andere Möglichkeiten musikdramatischer Gestaltung nicht auch überzeugende Ergebnisse liefern können. Mehr muss der Freund der barocken Seria m.E. nicht behaupten.

    Meine Meinung: In der Barock-Oper steht die Forum über den Inhalt, die Arien bedienen die immer gleichen Affekte, während die Handlung still steht. Diese Arien sind beinahe beliebig austauschbar. Bei Mozart steht der Inhalt über der Form bzw. der Inhalt bestimmt die jeweilige Form. Diese Reform zugunsten des Inhalts beginnt natürlich schon bei Gluck, selbst schon bei Händel, aber diese Erweiterung der Formsprache der Oper wird meines Erachtens der glaubhaften Umsetzung ihrer Inhalte weit mehr gerechter, als dies in der Barock-Oper der Fall ist. Hier ist "Handlung" doch häufig nur Vorwand für neue Arien mit neuen Koloraturen, welche die Virtuosität der Interpreten nicht selten vordergründig ausstellen, anstatt hintergründige Figuren aus die Bühne zu stellen und hintergründige Geschichten zu erzählen.


    Für ich der erste wirklich "menschliche" Komponist, der in seinen OPrnnicht nur Typen und Figuren auf die Bühne stellt, sondern Menschen aus Fleisch und Blut mit Schwankungen und Schwächen, und der diese menschlichen Emotionen und Entwicklungen(!) in seiner Musik glaubhaft und nacherlebbar transportieren kann, eben Mozart, weshalb mich die Oper davor nur sekundär interessiert.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Für ich der erste wirklich "menschliche" Komponist, der in seinen Opern nicht nur Typen und Figuren auf die Bühne stellt, sondern Menschen aus Fleisch und Blut mit Schwankungen und Schwächen, und der diese menschlichen Emotionen und Entwicklungen(!) in seiner Musik glaubhaft und nacherlebbar transportieren kann, eben Mozart, weshalb mich die Oper davor nur sekundär interessiert (Zitat von Stimmenliebhaber).


    Nein, das trifft so nicht zu. Schon für Händel gilt es nicht, wenn man etwa den unglaublich spannenden Julius Cäsar betrachtet. Aber für Monteverdi und Cavalli gilt es überhaupt nicht, da ist alles, was eine dramatische Belcantooper braucht: Dramatik, wunderbare Melodien, genaue Rollenporträts, keine Rezitative. Wie in einer Reihe von anderen threads stelle ich leider immer wieder fest, dass hier Urteile von Leuten abgegeben werden, die vielleicht mal einen Auszug von Monteverdi gehört haben, aber von Cavalli überhaupt nichts und als eigentliche Belcanto-Musik nur die des 19. Jahrhunderts verstehen.
    Stimmenliebhaber: hör die mal die Stimmen von Nuria Rial und Hana Blazikova auf der Pluhar-Cavalli-CD an, dazu Maria Bayo und Marcello Lippi auf der Calisto-CD von René Jacobs, da wirst du Stimmen hören, die dich im Traum verfolgen.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Für ich der erste wirklich "menschliche" Komponist, der in seinen Opern nicht nur Typen und Figuren auf die Bühne stellt, sondern Menschen aus Fleisch und Blut mit Schwankungen und Schwächen, und der diese menschlichen Emotionen und Entwicklungen(!) in seiner Musik glaubhaft und nacherlebbar transportieren kann, eben Mozart, weshalb mich die Oper davor nur sekundär interessiert (Zitat von Stimmenliebhaber).


    Nein, das trifft so nicht zu.

    Doch, das trifft genau so zu! Ich empfinde es so, also trifft es für mich so zu! (Und nichts anderes habe ich geschrieben!)Du wirst du nicht besser beurteilen können oder wollen, was für mich zutrifft, oder?

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Stimmenliebhaber: hör die mal die Stimmen von Nuria Rial und Hana Blazikova auf der Pluhar-Cavalli-CD an, dazu Maria Bayo und Marcello Lippi auf der Calisto-CD von René Jacobs, da wirst du Stimmen hören, die dich im Traum verfolgen.

    Wenn du meine Antwort auf dich in einer anderen Rubrik gründlich genug gelesen hättest, dann wüsstest du, dass ich Maria Bayo sogar live als Callisto unter Jacobs in Berlin erlebt habe. Vor allem war sie laut und schrill, das verfolgte mich eher wie einen Alptraum! Nein, mit dieser Produktion kann du mich nun wirklich nicht ködern und mit diesem Komponisten auch nicht...


    Monteverdi ist schon auch toll, aber das, was ich für Mozart beschrieben habe, geht ihm dann doch ab, die Figuren bleiben ganz überwiegend Schablonen, zumindest kommt mir das so vor, etwa im "Orpheus". Sicher, seine Klage berührt, aber vieles andere doch weit weniger.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

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  • In dem etwas schillernden Thread Belcanto kontra dramatischer Gesang? wurde unter anderen behauptet, dass die Konventionen und Strukturen der Barockoper überzeugende musikdramatische Entwicklungen schwierig oder unmöglich machten.
    Nun ist das ja keine exotische Meinung; man findet auch heute noch nahezu in jedem Opernführer ähnliche Aussagen.

    Dazu habe ich eine starke These, lieber Johannes: Es fehlt so etwas wie eine originäre Opernästhetik von rudimentären Ansätzen abgesehen. Das merkt man gerade an der Opernkritik, bei Wagner "Oper und Drama" siginifikant. Die Oper wird an den Prinzipien des klassischen Dramas gemessen theoretisch und praktisch. Das eigentlich Opernhafte an der Oper wird so - Stichwort "Nummernoper" - negativ besetzt. Natürlich schneidet dann die Barockoper schlecht ab - weil sie vom klassischen Drama deutlich weiter entfernt ist als die "dramatisierte" Oper des 19. Jhd.: Es geht primär um die Darstellung von Affekten und nicht Handlungen, was man dann als "undramatisch" wertet. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Action gibt es in Barock-Opern nun wirklich genug. Die Handlungen sind oft kompliziert und implausibel, aber es passiert eine Menge.


    Gestern war ich in der Berliner Gemäldegalerie. Der Luxus einer Jahreskarte besteht darin, dass man sich ausgewählten oder den Lieblingsbildern immer wieder gründlich widmen kann. Eine Gruppe von Gymnasiasten langweilte sich zu Fransen, was ich gut verstehen konnte. Die Führerin bemühte sich redlich, sie erreichte ihr Publikum nicht, weil es dem offensichtlich an voraussetzendem Wissen mangelte. Ich fragte mich aber auch, ob das überhaupt notwendig ist, um ein allegorisches, ein von der Bibel inspiriertes oder geschichtlich orientiertes Bild auf sich wirken lassen zu können. Wirkt ein Bild auch pur, egal also, welcher Schule, Epoche oder Stilrichtung es zuzuordnen ist?


    Die Barockopern sind ja in der Regel auch ein geballtes Kompendium Wissen, das heute an den Schulen so nicht mehr gelehrt wird. Nehmen wir Opern von Hasse, Cavalli oder Händel her - sie sind stofflich und inhaltlich gewaltige Brocken. Muss man sich da genau auskennen? Oder reicht es, die Dinge so zu sehen, wie es im Zitat von Bertarido anklingt? In vielen Insznierungen von Barock-Opern habe die Handlungen lediglich als hehauptet und nicht schlüssig dargestellt empfunden. Deshalb langweile ich mich auch oft. Ein Menschen in hellem Straßenanzug gibt vor, ein Tyrann zu sein, eine schöne Frau, die in einer Hollywood-Schaukel wippt, will Glauben machen, dass sie vor einem Ungeheuer Angst hat – und der Gleichen mehr. Ich war mir nie sicher, ob das oft begeisterte Publikum die historischen Vorlagen in der Schnelligkeit, wie sie sich abspielen, in die vereinfachte oder gar zeitgenössische Optik (wobei es auch sehr gute üppige, an historischen Vorbildern orientierte Ausstattungen gut) übersetzen kann? Oder ob sich die Musik in einer der meist anzutreffenden Abfolge von Rezitativen und Arien (Stimmenliebhaber hat das schon gut auf den Punkt gebracht) am Ende nicht doch ins rein Artistische verselbständigt? Barockoper als purer und inhaltsleerer Kunstgenuss, der sich von den Inhalten und Botschaften loslöst? Ist das ein Grund für den heutigen Erfolg dieser Gattung?


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • In vielen Insznierungen von Barock-Opern habe die Handlungen lediglich als hehauptet und nicht schlüssig dargestellt empfunden. Deshalb langweile ich mich auch oft. Ein Menschen in hellem Straßenanzug gibt vor, ein Tyrann zu sein, eine schöne Frau, die in einer Hollywood-Schaukel wippt, will Glauben machen, dass sie vor einem Ungeheuer Angst hat – und der Gleichen mehr. Ich war mir nie sicher, ob das oft begeisterte Publikum die historischen Vorlagen in der Schnelligkeit, wie sie sich abspielen, in die vereinfachte oder gar zeitgenössische Optik (wobei es auch sehr gute üppige, an historischen Vorbildern orientierte Ausstattungen gut) übersetzen kann? Oder ob sich die Musik in einer der meist anzutreffenden Abfolge von Rezitativen und Arien (Stimmenliebhaber hat das schon gut auf den Punkt gebracht) am Ende nicht doch ins rein Artistische verselbständigt? Barockoper als purer und inhaltsleerer Kunstgenuss, der sich von den Inhalten und Botschaften loslöst? Ist das ein Grund für den heutigen Erfolg dieser Gattung?


    Ich sehe es gerade umgekehrt. Gerade weil die Handlungen oft einiges an historischen Vorkenntnissen erfordern (die man freilich durch ein paar Minuten des Lesens im Programmheft oder im CD-Booklet durchaus erwerben kann, wenn man sie nicht schon hat) und oft recht kompliziert sind, hilft es bei der Rezeption, die Opern nicht als Historienschinken auf die Bühne zu bringen, sondern sich auf das zu konzentrieren, worum es in der Oper meiner Meinung nach immer in erster Linie geht: um Liebe und Machtstreben, um Beziehungen und Konflikte von Menschen. Wenn da zum Beispiel in Händels "Agrippina" die Ränkespiele der Titelheldin ausgebreitet werden, die ihrem Sohn zur Macht verhelfen will, dann ist es doch eigentlich völlig egal, ob es sich um eine römische Kaiserin handelt oder eine Figur des 20. Jahrhunderts. Muss man wirklich alle Details der römischen Geschichte kennen, um das Wesentliche dieser Oper verstehen zu können? Ich meine nein. Und ebenso überflüssig oder sogar schädlich ist es, das alles mit originalgetreuen römischen Kostümen und Kulissen auf die Bühne zu bringen. Viel zugänglicher wird die Geschichte, wenn auf der Bühne Menschen agieren, die uns nicht so weit entrückt erscheinen.


    Das alles gilt im übrigen nicht nur für die Barock-Oper.

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  • Wie gesagt, ich glaube nicht, dass man Mozarts Leistungen schmälern muss, um die (unterschiedlichen) Leistungen der Barockoper anzuerkennen. Andererseits finde ich es auch ein wenig unfair, drei oder vier der von nahezu jedermann als absolute Gipfel des Musiktheaters anerkannte Opern zum Vergleich heranzuziehen. Ich für meinen Teil (aber ich bin auch kein großer Kenner der Barockoper - ich kenne z.B. die französische Barockoper kaum) hätte kein Problem damit einzuräumen, dass die Da-Ponte-Opern jedenfalls für uns eine größere Kohärenz und Schlüssigkeit besitzen als alle Barockopern. Sie besitzen aber auch eine weit größere Kohärenz und Qualität als die meisten Opern des 19. Jhds. :D


    Und in jedem Fall sind die Qualitäten, die der (typischen) Barockoper fehlen, ja nicht die einzigen, die eine Oper haben kann. Durch die große Anzahl von Arien (mitunter 5 oder mehr für die Hauptcharaktere) sind z.B. ausführliche Charakterisierungen in unterschiedlichen Situationen möglich. Natürlich sind die an eine bestimmte Affektdarstellung gebunden (aber es herrschen ja später ähnliche Konventionen - noch in Hoffmanns Erzählungen konnten Stücke aus anderen Werken eingefügt werden).


    @Rheingold: Und bei Wagners Ring muss man sich nicht auskennen? Ist der vielleicht hauptsächlich deswegen so beliebt, weil man die historisch-philosophisch-weltanschaulichen Komplikationen (oder auch nur die der bloßen Handlung) so gut ausblenden und sich dem reinen Klangrausch hingeben kann....? ;)


    Ich glaube, man muss schon ein wenig nachsichtiger vorgehen und erst einmal unterstellen, dass bei allen Restriktionen und aller historischer Distanz es kein Zufall und kein reines Missverständnis ist, wenn eine Gattung (versucht wurde das ja mit wechselndem Erfolg schon seit den Händel-Festspielen der 1920er) nach beinahe 300 Jahren erstaunlich erfolgreich wiederbelebt werden kann.
    Da spielt neben dem großen Erfolg anderer Barockmusik in den letzten 50 Jahren sicher auch mit hinein, dass wir offener gegenüber unterschiedlichen Theaterformen geworden sind. Aber vielleicht war die Rezeption der Barockoper eben auch sehr stark von Vorurteilen geprägt, die (wie fast alle Vorurteile) zwar nicht komplett daneben liegen, aber weit überzogen, und vielleicht liegt es tatsächlich an einer Neueinschätzung der musikalischen und dramatischen Qualitäten, die die besten Werke über die Konventionalität hinwegtragen.


    (Schließlich wird die Matthäuspassion auch durch Dacapo-Arien wesentlich bestimmt (und zwar ziemlich ausgedehnte) und wurde noch in den 1950ern mitunter radikal zusammengekürzt. Die Folge (dacapo)Arie-Rezitativ hat offensichtlich durchaus etwas für sich, sonst hätte sie kaum gut 100 Jahre lang die Oper und einige weitere Gattungen dominiert.)

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  • Barockoper als purer und inhaltsleerer Kunstgenuss, der sich von den Inhalten und Botschaften loslöst? Ist das ein Grund für den heutigen Erfolg dieser Gattung?

    Lieber "Rheingold1876",


    ich sehe das genauso wie du. Es passt in unsere Spaßgesellschaft, die keinen Bock mehr auf humanistische Inhalte und auf die Ideen der Aufklärung hat. Das ist ja auch das Erfolgsgeheimnis von Rossini, dessen Opern (seinerzeit stofflich sicherlich die reaktionärsten von allen) heute die meistgespielten aus dem 1. Drittel des 19. Jahrhunderts sind, während die, in denen sich die Ideen der damaligen Zeit wirklich widerspiegeln, es heute schwer haben (Man denke nur an "Fidelio"). Dass Rossini parallel zur Baock-Oper boomt, ist ganz sicher kein Zufall!

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Es passt in unsere Spaßgesellschaft, die keinen Bock mehr auf humanistische Inhalte und auf die Ideen der Aufklärung hat. Das ist ja auch das Erfolgsgeheimnis von Rossini, dessen Opern (seinerzeit stofflich sicherlich die reaktionärsten von allen) heute die meistgespielten aus dem 1. Drittel des 19. Jahrhunderts sind, während die, in denen sich die Ideen der damaligen Zeit wirklich widerspiegeln, es heute schwer haben (Man denke nur an "Fidelio"). Dass Rossini parallel zur Baock-Oper boomt, ist ganz sicher kein Zufall!


    Auch wenn ich die pessimistische Diagnose unserer Gegenwart teile: Dass zu anderen Zeiten das Publikum in die Opernhäuser geströmt ist, um dort humanistische Botschaften zu empfangen, halte ich doch für sehr unwahrscheinlich. Im Vordergrund stand doch wohl immer die Freude am virtuosen Gesang. Und welche Stücke humanistischen oder aufklärerischen Inhalts kommen denn jetzt zu kurz, während sie früher beliebter waren? Wird die "Hochzeit des Figaro", sicher ein Paradebeispiel einer solchen Oper, heute weniger gespielt als früher? Wohl kaum.


    Und das Problem des "Fidelio" ist sicher nicht seine humanistische Botschaft.

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  • Kein Problem des Fidelio hat das Werk davon abgehalten nach wie vor unter den meistgespielten Opern zu sein (wird ziemlich sicher häufiger gegeben als alles von Rossini (außer Barbiere) und alle Barockopern). Bitte das Kind nicht mit dem Bad ausschütten!


    Eine für viele Hörer (und Musiker!) spannende und bereichernde Repertoireerweiterung wie die "Renaissance der Barockoper" derart kulturpessimistisch umzudeuten, ist beinahe eines Alfred Schmidt (der hier mal den Fidelio andeutungsweise in eine wohl berechtigte, nur leider gescheiterte Rache Pizarros and dem Intriganten Florestan uminterpretiert hat :D) würdig...


    Die Denkweise, die Popularität von Kunstwerken (oder Ideen, Büchern etc.), die man selbst nur schwer teilen kann, erst einmal als nicht durch diese Werke bedingt zu sehen, sondern in äußerlichen Faktoren oder gar Charaktermängeln der Anhänger dieser Werke, ist zwar extrem verlockend, aber ebenso unfruchtbar. Es ist nämlich genau dieselben Masche, die manche dazu führt, Freunden moderner Musik (also z.B. hundert Jahre alter Schinken von Schönberg) zu unterstellen, sie würden nur vorgeben, diese Stücke wirklich zu mögen, denn es sei ja allgemein bekannt, dass diese Musik niemandem gefallen könne.
    Und natürlich auch das, was ein Teil derjenigen, die mit jeglicher Klassik nichts anfangen können, vorbringt: Die Klassikliebhaber würden das ja nur hören, um sich elitär abzusetzen usw. in Wahrheit könne kein Mensch das Gejodel und Gefiedel ertragen.


    Ich vermute dagegen, dass (spezifische) Inhalte und Formen eher sekundär sind. Der Erfolg der Barockoper ist ein Beleg dafür, dass (wie wir alle im Grunde wissen) "prima la musica" entscheidend ist.

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  • Wird die "Hochzeit des Figaro", sicher ein Paradebeispiel einer solchen Oper, heute weniger gespielt als früher?

    Ja, im deutschsprachigen Raum in Zeiten des Frönens der Originalsprachlichkeit schon.


    Es ist in den Barockopern völlig schnuppe, was da genau verhandelt wird, ob der König aus Persien oder Griechenland oder sonstwo stammt. Und diese Beliebigkeit ommt unserer heutigen Zeit mit ihrem Hang zur Beliebigkeit bestens entgegen. Und nun kommen wieder unsere großen Nivellierer wie Johannes und erklären, dass das ja alles gar nicht so schlimm ist und dass sich unabhängig von den Inhalteneinfach die gute Musik durchsetzen würde. Die gewaltigen Fortschritte und Entwicklungen, welche die Gattung Oper durchlaufen hat, werden fleißig wegnivelliert und es wird so getan, als wenn die Oper nach Mozart genau dieselben Probleme hätte wie davor - sorry, aber ich kann so etwas nicht ernst nehmen! :no:


    Es ist wie im Regietheaterstreit und beides hat auch miteinander zu tun: Die Regietheaterregisseure suchen Werke, die sich zum beliebigen Auffüllen mit Fremdinhalten eignen - und da sind die Barockopern mit ihrer relativen Zusammenhanglosigkeit zwischen Musik und Handlung geradezu ideal geeignet. Da Publikum will Spaß und bekommt ihn - und das geht mit Barockoper und Rossini einfacher als mit "Fidelio" oder "Hans Heiling", so sieht's aus!

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Die gewaltigen Fortschritte und Entwicklungen, welche die Gattung Oper durchlaufen hat, werden fleißig wegnivelliert und es wird so getan, als wenn die Oper nach Mozart genau dieselben Probleme hätte wie davor - sorry, aber ich kann so etwas nicht ernst nehmen! :no:


    Niemand leugnet, dass es in der Musikgeschichte Entwicklungen gegeben hat und auch Fortschritte, wenn dies im wörtlichen Sinne verstanden wird. Meistens ist mit Fortschritt aber auch Verbesserung oder Perfektionierung gemeint, und das halte ich für falsch. Ist eine Wagner- oder Strauss-Oper besser als eine von Mozart? Ist Verdi besser als Rossini? Gluck besser als Händel? Sind die Opern von Schönberg und Berg besser als die von Wagner? Nein, es sind alles Meisterwerke, wenn auch sehr verschiedene.

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  • Fakt ist, dass die Oper seit Gluck und Mozart einen neuen Anspruch hatte und dass dieser Anspruch ab da beibehalten wurde bzw. dass die Opern an ihm gemessen wurden.


    Ich habe ja auch gar nichts gegen die Renaissance der Barockoper, brauche diese aber nur in kleinen Doesen und lehne es ab, wenn sich die Gewichte immer weiter zugunsten dieser verschieben.


    Als Jacobs und andere vor ca. 25 Jahren anfingen, solche Opern wieder auszugraben, waren echte Juwelen darunter - dann wurde das Ganze immer mehr zur Ausgrabung um der Ausgrabung willen, die sich gefundenen Spezialisten wollten beschäftigt werden. Da wurde auch etliches ausgegraben, was lieber nicht ausgegraben worden wäre.


    Ich bin sehr dafür, den Anteil der Barockoper nicht von Jahrzehnt zu Jahrzehnt größer und größer werden zu lassen, denn sonst bleibt zu vieles andere, was ich als wesentlich wertvoller erachte, stattdessen auf der Strecke.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

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  • Nach der Lektüre der ersten 15 Beiträge habe ich das Bedürfnis, etwas Positives anzumerken. (Nicht zu glauben!)
    Das Thema läuft nicht nur zügig an, sondern verläuft äußerst seriös, wozu ich Johannes Roehl neidlos gratuliere!


    Ein Punkt scheint mir noch nicht genügend ausdifferenziert worden zu sein:
    Könnte man nicht das Dramma per musica so beschreiben, dass es sich der jeweiligen gesellschaftlichen Situation angepasst hat (auch anpassen musste) und sich dadurch in jedem Jahrhundert andere Schwerpunkte herauskristallisierten, die vom folgenden wieder belächelt wurden - weshalb wir heute aus dem Grinsen (und Streiten) gar nicht mehr herauskommen??
    Dazu meine persönliche Graphik:


    Nach dem gewaltigen Aufbruch mit Monteverdi (Poppea!) machte sich die feudale Oberschicht über die Oper her und baute Logentheater, die zur lockeren Kommunikation von Loge zu Loge während der Rezitative ermunterte. Die Handlung, ohnehin nur ein Vorwand, interessierte nicht wirklich. Wenn dann eine Arie kam und der Sänger sie virtuos servierte (wie heute die Soloauftritte im Kabarett), amüsierte man sich gut, um danach wieder seine privaten Vorlieben zu verfolgen.
    Nachdem Mozart gezeigt hatte, dass es auch anders geht (was sogar Kaiser Joseph II. irritierte!), kehrte man nach seinem frühen Tod erleichtert zur alten Tagesordnung zurück: Rossini zum virtuosen l´art pour l´art der Virtuosität, Bellini zur elegischen Melancholie - beides vertraute Überreste der Opera seria, stilistisch der neueren Zeit angepasst (Belcanto-Oper). Erst Verdi und (in Deutschland) Wagner erkämpften einen neuen (Doppel-)Gipfel: das Musikdrama, von dem dann sogar noch Puccini und Strauss zehren konnten. Dass in den Zeiten zwischen den steilen Gipfeln auch sehr schöne Opernmusik entstand, wird niemand bestreiten.


    p.s. Über die Karriere meines "Arienzirkus" freue ich mich - so viel Eitelkeit darf sein!


    Aus der Ferne: Grüße von Sixtus

  • Sorry, aber es ist in der Oper des 19. Jhd. anscheinend auch egal, ob jemand der Gouverneur von Boston oder der König von Schweden ist.
    Wie kann man denn all die Konventionen und Künstlichkeit der Oper des 19. Jhds. fraglos anerkennen, aber bei geringfügig starreren Konventionen der Barockoper interessantes Musiktheater für unmöglich halten?


    Ich hatte dieses Thread eigentlich nicht als das noch intensivere Pflegen von Vorurteilen (da die Barockopern Schrott sind, können nur oberflächliche Idioten den Fortschritt leugnen) gedacht, sondern als einigermaßen ernsthafte und offene Annäherung an diese Werke und ihre erneute Popularität.
    Natürlich kann man auch solche äußerlichen Ursachen (wie dass wir oberflächliche Idioten sind, weil wir statt Rap (oder Marschner und Lortzing) lieber Händel und Rameau hören) in Erwägung ziehen. Das sollte m.E. aber nicht der erste Schritt sein.


    Gluck ist m.E. ein interessantes Beispiel. Meinem Eindruck nach erschöpfen sich die Bekenntnisse zum "Opernreformer" meistens auf theoretische Lippenbekenntnisse. Die Opern wirken auf uns ähnlich fremd wie die Barockoper (stehen eher noch deutlicher im Schatten Mozarts, während wir die Barockoper als etwas anderes anerkennen können) Ich kenne die Stücke bisher leider nicht gut genug, um Vermutungen anstellen zu können, woran das liegt. (Außer an mir oberflächlichem Idiot, der lieber Händel hört...)


    Und dass der Anspruch und das Niveau Mozarts im 19. Jhd. beibehalten wurde, scheint mir eine sehr theoretische Position. Jedenfalls scheitern m.E. nahezu alle Opern des 19. Jhds. von ein paar Spitzenwerken Wagners und Verdis abgesehen an diesem Anspruch (bzw. haben sie ihn oft erst gar nicht, wie z.B. die Belcanto-Operfabrik). Der Ausnahmerang der reifen Mozartopern hängt nicht einfach nur an ihrer historischen Position (sonst fänden wir ja viel mehr Opern des 19. Jhds. besser als Mozart).


    Wie auch immer, wäre ein Messen an Mozart auch historisch unfair ggü. der Barockoper (oder Glucks). Genau das wurde ja bis vor wenigen Jahrzehnten getan. Natürlich muss man sich in mancher Hinsicht auf die andere "Poetik" einlassen.


    Meine, zugegeben etwas simple Hypothese ist schlicht, dass die Musik so attraktiv ist, dass sie über die Starrheit der Arienfolgen hinwegträgt. Händel oder Rameau waren eben fantastische Komponisten, denen außerdem eine ausgefeilte Musiksprache zur Affektdarstellung zu Gebote stand, die sie virtuos beherrschten.

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  • Meine, zugegeben etwas simple Hypothese ist schlicht, dass die Musik so attraktiv ist, dass sie über die Starrheit der Arienfolgen hinwegträgt. Händel oder Rameau waren eben fantastische Komponisten, denen außerdem eine ausgefeilte Musiksprache zur Affektdarstellung zu Gebote stand, die sie virtuos beherrschten.


    Das meine ich auch. Sonst würde sich auch kein Publikum über 3 Stunden und mehr reine Spielzeit in eine Barock-Oper setzen, wo man heute eben nicht mehr mit dem Nachbarn plaudern kann.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Sorry, aber es ist in der Oper des 19. Jhd. anscheinend auch egal, ob jemand der Gouverneur von Boston oder der König von Schweden ist.


    Nein, es ist nicht egal, aber hast du vielleicht schon einmal das Wort "Zensur" gehört? ?(


    Gerade dieses Beispiel "Maskenball" zeigt ja sehr deutlich, dass es im 19. Jahrhundert eben NICHT egal war, wo eine Oper spielt...



    Außer an mir oberflächlichem Idiot

    Das ist jetzt deine Eigenbezeichnung, die ich nicht weiter kommentieren werde...




    Meine, zugegeben etwas simple Hypothese ist schlicht, dass die Musik so attraktiv ist, dass sie über die Starrheit der Arienfolgen hinwegträgt.

    Meine zugegeben etwas simple Gegenhypothese ist, dass sie genau über diese Starrheit der Arienfolgen NICHT über vierstündige Aufführungen hinwegträgt! Gerade dass Chöre in diesen Opern eigentlich überhaupt keine Rolle spielen, verarmt sie formal für mich (neben dem Fehlen wirklicher Ensemblesätze) ganz beträchtlich. Ich schätze Opern mit hohem Choranteil besonders, und wenn ein Chor de facto fehlt (und zwar nicht manchmal, sondern immer), geht mir persönlich etwas ab. Das ist nun bei Mozart-da Ponte zwar auch noch so, aber dafür gibt es ja dann Opern von Beethoven, Auber, Weber, Meyerbeer, Lortzing, Marschner, Wagner, Verdi, Gounod, Bizet, Smetana, Mussorgski, Tschaikowski u.v.a., wo der Chor zu seinem recht kommt. Gluck übrigens auch, im "Orpheus" spielt der Chor neben dem Orpheus selbst als sein Gegenpart die wichtigste Rolle, wichtiger als Euridike und Amor zusammen. Deshalb höre ich zum Beispiel viele lieber Gluck als Hasse oder Graun, weil das dann eben kein "Arien-Zirkus" mehr ist!

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ich schätze Opern mit hohem Choranteil besonders, und wenn ein Chor de facto fehlt (und zwar nicht manchmal, sondern immer), geht mir persönlich etwas ab.


    Und was hat Deine Vorliebe für Chorszenen mit dem Thema dieses Threads zu tun? Braucht man einen Chor, damit eine Oper als Drama funktionieren kann? Braucht man Ensembles? Das sehe ich nicht.


    Mir fehlt auch immer noch eine Erklärung, was unter dem "musikalischen Drama" eigentlich verstanden werden soll, um sinnvoll darüber diskutieren zu können, ob Barockopern solche Dramen sind oder nicht. Ist hier das Musikdrama im Wagnerschen Sinne gemeint? Dann kommt allerdings keine Oper vor Wagner als ein solches in Frage.


    Übrigens scheint Wagner die Opera seria (oder was er davon kannte) keineswegs gering geschätzt zu haben, denn er schreibt in "Oper und Drama":


    Schon lange vor Gluck – wir erwähnten dessen bereits – ist es glücklich begabten, gefühlvollen Komponisten und Sängern ganz von selbst angekommen, den Vortrag der Opernarie mit innigem Ausdrucke auszustatten, bei Gesangsfertigkeit und trotz der Virtuosenbravour überall da, wo es die Textunterlage gestattete, und selbst, wo sie diesem Ausdrucke nirgends entgegenkam, durch Mitteilung wirklichen Gefühles und wahrer Leidenschaft auf ihre Zuhörer zu wirken. Es hing diese Erscheinung ganz von der individuellen Aufgelegtheit der musikalischen Faktoren der Oper ab, und in ihr zeigte sich das wahre Wesen der Musik insoweit siegreich über allen Formalismus, als diese Kunst, ihrer Natur nach, sich als unmittelbare Sprache des Herzens kundgibt.


    Ich sehe genau darin das Wesen einer Oper: die "Mitteilung wirklichen Gefühles und wahrer Leidenschaft" durch den Gesang, egal ob nun in Solo-Arien, Duetten etc. oder Chorszenen. Und das gelingt in vielen Barock-Opern meiner Meinung nach wesentlich besser als etwa in mancher Belcanto-Oper.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Und was hat Deine Vorliebe für Chorszenen mit dem Thema dieses Threads zu tun?


    Viel. Opern mit starken Choranteilen sind eben nicht nur "bloßer Arien-Zirkus", sondern auch Chor-Zirkus! :P


    Wobei ich das Wort "Zirkus" ja gar nicht so negativ sehe, denn Zirkus hat ja auch seine Berechtigung.


    Diese "Zirkus"-Elemente war z.B. in den Händel-Opern ganz wichtig, du hast drauf selbst auch schon hingewiesen und mir war das durch meine intensive Beschäftigung mit Händel und seinen Opern auch schon bekannt.



    "Bloßer Arienzirkus - Lähmen Konventionen das musikalische Drama?" - so lautet der Titel dieser Rubrik.


    Ich aus meiner Sicht möchte diese Frage noch einmal bejahen und ziehe mich dann aus dieser Rubrik zurück, weil es keinen Sinn macht, nun immer und immer wieder die eigenen Positionen zu wiederholen, wie toll oder eben nicht toll Barock-Oper ist.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ein Punkt scheint mir noch nicht genügend ausdifferenziert worden zu sein:
    Könnte man nicht das Dramma per musica so beschreiben, dass es sich der jeweiligen gesellschaftlichen Situation angepasst hat (auch anpassen musste) und sich dadurch in jedem Jahrhundert andere Schwerpunkte herauskristallisierten, die vom folgenden wieder belächelt wurden - weshalb wir heute aus dem Grinsen (und Streiten) gar nicht mehr herauskommen??

    Musiksoziologische Betrachtungen sind ja durchaus erhellend - nur ist die Frage doch: Wie geht hier die "Anpassung" vor sich?


    Nach dem gewaltigen Aufbruch mit Monteverdi (Poppea!) machte sich die feudale Oberschicht über die Oper her und baute Logentheater, die zur lockeren Kommunikation von Loge zu Loge während der Rezitative ermunterte. Die Handlung, ohnehin nur ein Vorwand, interessierte nicht wirklich. Wenn dann eine Arie kam und der Sänger sie virtuos servierte (wie heute die Soloauftritte im Kabarett), amüsierte man sich gut, um danach wieder seine privaten Vorlieben zu verfolgen.

    Hier gibt es eben zwei Interpretationsmöglichkeiten. Es gab die Form Arie und Rezitativ. Hat sich nun die vergnügungssüchtige adlige Gesellschaft (man denke an Pascals "Divertissement") dieser Form angepaßt oder ist nicht umgekehrt diese Form überhaupt wegen solchen gesellschaftlichen Treibens entstanden? - dann ist die musikalische Form die Anpassung an ein gesellschaftliches Bedürfnis. Das "Barock-Bashing" (das man ja auch von der Architektur her kennt: Barock ist überladen, eine entartete Renaissance) kann natürlich vornehmlich an die zweite Varainte anknüpfen.


    Erst Verdi und (in Deutschland) Wagner erkämpften einen neuen (Doppel-)Gipfel: das Musikdrama, von dem dann sogar noch Puccini und Strauss zehren konnten.

    Auch hier kann man aber mit eben solchem Genuß musiksoziologisch argumentieren. :D Gerade Wagner eignet sich für eine "Entzauberung" vorzüglich, siehe Friedrich Nietzsches boshafte Satire und Parodie: Wagners Musikdramen sind demnach Beispiele für typisch moderne, populistische Massenkultur der Musik, also musiksoziologisch eine Verfallserscheinung: Man kommt nach Bayreuth, um zum "Idioten" (Nietzsche wörtlich) zu werden, um sich an dieser Musik in der großen Menge untertauchend nur noch zu berauschen. Und Wagner kalkuliert all das: Diese Musik ist als ihr einziger Sinn und Zweck auf größtmögliche Wirkung hin konzipiert, so Nietzsche.


    Und selbst wenn man nun ästhethisch Wagner gegen den Barock auszuspielen versucht, wird das schnell zur Retourkutsche. Bei Wagner ist es nicht zuletzt der Gedanke einer kontinuierlichen Entwicklung, weswegen die Unterscheidung Arie und Rezitativ angegriffen wird - an deren Stelle tritt dann die "unendliche Melodie". Demnach ist der "Fortschritt" also dramaturgisch und musikalisch, dass bei Wagner dramatische Entwicklungen dargestellt werden, und nicht wie in der "Nummernoper" die Szenen austauschbar aufeinander folgen. Nur dann kommt die Parade der Barock-Liebhaber. Die "unendliche Melodie" (in Nietzsches Parodie: "Unendlichkeit ohne Melodie") fördert letztlich nur den besinnungslosen Rausch, d.h. raubt dem Hörer den Verstand, weil einfach alle Unterscheidungen, welche die alte Oper noch kennt, in einem unterschiedslosen Einerlei zum Verschwinden gebracht werden. Was so herauskommt, ist ein Fest des Irrationalismus.


    So kommt man offenbar einfach nicht weiter - natürlich ist an solcher Satire immer auch etwas wahr, nur ist das nicht die ganze Wahrheit. Was ist denn der dramaturgische Sinn der Unterscheidung von Arie und Rezitativ? Und "Entwicklung" ist geistesgeschichtlich eine Kategorie des späten 18. und 19. Jahrhunderts. Wenn es in einer Barockoper also keine Entwicklung gibt, dann vielleicht deshalb, weil sie etwas ganz Anderes aufzeigen möchte? Die Behauptung, die Barockoper, weil ihr Inhalt primär die Affekte und nicht die Handlungen seien, sei deshalb kein wirkliches "Drama", ist letztlich nur ein ästhetisches Vorurteil. Es wird so nämlich einfach nicht bedacht, dass sie eben diesen "Affekt" in der großen Arie zum dramatischen Moment gestaltet.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Danke für deine Mühe, lieber Holger. Deine eloquenten Auslassungen sind lesenswert. Aber man kann der Interpretation auch zu viel tun. Ich habe meinen Nietzsche lächelnd wiedererkannt, gebe aber zu bedenken, dass er grade bei Wagner manchmal (bewusst!) aus dem Ressentiment heraus überzieht, um alte Rechnungen zu begleichen.


    Bei den ästhetischen Vorurteilen stimme ich dir gern zu. Doch wer davon frei ist, der werfe den ersten Akkord.
    Ich wollte diesmal eigentlich weniger werten als beschreiben. Aber auch darin steckt ja immer ein Gen-bedingter Rest von Subjektivität - zum Glück, sonst wäre es ja langweilig.


    Beste Grüße von
    Sixtus

  • Danke für deine Mühe, lieber Holger. Deine eloquenten Auslassungen sind lesenswert. Aber man kann der Interpretation auch zu viel tun. Ich habe meinen Nietzsche lächelnd wiedererkannt, gebe aber zu bedenken, dass er grade bei Wagner manchmal (bewusst!) aus dem Ressentiment heraus überzieht, um alte Rechnungen zu begleichen.

    Das wäre natürlich merkwürdig, lieber Sixtus, wenn ausgerechnet Nietzsche, der das Ressentiment als wertschöpferischen Akt entdeckt und analysiert hat, Nietzsche aus Ressentiment bekämpfen würde! :D Nein, Nietzsche ist ja selber durch und durch Wagnerianer - das ist, so sehe ich es, eine "Abrechnung" mit seinem eigenen Ich, eine Art Selbstbefreiung durch satirische Spitze.


    Bei den ästhetischen Vorurteilen stimme ich dir gern zu. Doch wer davon frei ist, der werfe den ersten Akkord.
    Ich wollte diesmal eigentlich weniger werten als beschreiben. Aber auch darin steckt ja immer ein Gen-bedingter Rest von Subjektivität - zum Glück, sonst wäre es ja langweilig.

    Das stimmt - ohne persönlich gefärbtes Erleben wird Beschreibung steril! Den Mut dazu sollen wir auch nicht verlieren! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger


  • Nein, es ist nicht egal, aber hast du vielleicht schon einmal das Wort "Zensur" gehört? ?(


    Gerade dieses Beispiel "Maskenball" zeigt ja sehr deutlich, dass es im 19. Jahrhundert eben NICHT egal war, wo eine Oper spielt...


    Die Praxis zeigt doch, dass es völlig schnuppe ist, ob König Gustav oder Gouverneur Ricardo auftreten. Das Stück ist letztlich eine Liebes- und Eifersuchtsgeschichte, die nur durch seinerzeitige äußere Umstände politisch brisant wurde.


    Meinem Verständnis nach haben die dominierenden mythologischen und pseudohistorischen Stoffe in der Barockoper oft eine ähnliche Funktion wie bei Wagner: Sie sind quasi zeitlos und es lassen sich so besonders gut grundlegende Konfliktsituationen darstellen (wobei Wagner natürlich seine Privatphilosophien reingemixt hat). Das ist jedenfalls eine ebenso plausible Vorgehensweise wie das Aufarbeiten zeitnaher oder historisch genauer bestimmter Stoffe (und es war in 2500 Jahren abendländischer Theatergeschichte eher die dominierende).


    Klar, im 19. Jhd. war so etwas wie La Traviata mutig oder gar skandalös. Das ist aber heute egal. Paris 1840 hat mit meiner Lebenswelt ähnlich viel/wenig zu tun wie Alexandria 50 v. Chr. oder "Mythische Vorzeit. Auf dem Grunde des Rheins"


    Zitat

    Meine zugegeben etwas simple Gegenhypothese ist, dass sie genau über diese Starrheit der Arienfolgen NICHT über vierstündige Aufführungen hinwegträgt! Gerade dass Chöre in diesen Opern eigentlich überhaupt keine Rolle spielen, verarmt sie formal für mich (neben dem Fehlen wirklicher Ensemblesätze) ganz beträchtlich. Ich schätze Opern mit hohem Choranteil besonders, und wenn ein Chor de facto fehlt (und zwar nicht manchmal, sondern immer), geht mir persönlich etwas ab.


    Das ist nun aber reine Geschmackssache und hat mit "Drama" kaum etwas zu tun. Es gibt zig hochbedeutende Opern mit minimaler oder ganz ohne Chorpartie: Ring, Tristan, Tosca, Blaubart, Rosenkavalier u.v.a.


    Ich bin der Antwort auf die Frage, warum die hedonistischen Handytipper von heute 3 Stunden Arien-Rezitativ-Langeweile durchhalten goutieren, während die feinsinnigen Opernfreunde vergangener Zeiten wussten, dass das Zeitverschwendung ist, und sich lieber den Holzschuhtanz reingezogen haben, jedenfalls noch nicht näher gekommen.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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