Liebe Forum-Freunde!
Zuerst muss ich euch um Nachsicht bitten, dass ich so lange in der Versenkung verschwunden war. Dafür gibt es zwei Gründe. Der eine lautet „Alter Mann und neue Medien“, also meine Schwierigkeiten, mich im Internet zu bewegen. Der andere hat mit meiner Tätigkeit für den Wiener Merker zu tun, die mich in Anspruch genommen hat (z.B. der Leitartikel Heft 1/16). Aber jetzt versuche ich einen neuen Start. Bei der Lektüre eurer Diskussionen bin ich an einigen Punkten hängengeblieben, zu denen ich gern etwas sagen möchte. Nicht alles auf einmal, aber peu à peu.
Inszenierte Ouvertüren: Als Maßstab sollte doch der Wille des Autors gelten. Er besagt: Die Ouvertüre findet vor geschlossenem Vorhang statt. Am Beginn der ersten Szene steht in der Partitur die Anweisung „Der Vorhang geht auf“. Es gibt begründete Ausnahmen, z.B. „Hänsel und Gretel“ als Oper a u c h für Kinder. Eine andere Ausnahme hat mich kürzlich überzeugt: Bei Janaceks „Makropoulos“ wurde in Straßburg die Ouvertüre bebildert – mit mehrfachem Kostümwechsel der Protagonistin auf der Bühne, als Veranschaulichung ihrer wechselnden Identidäten in 300 Jahren. Aber ich möchte beim „Freischütz“ keine Herde Wildsäue auf den Vorhang projeziert bekommen oder mir beim „Tannhäuser“ den Pilgerzug und die folgende Venusberg-Orgie schon während der Ouvertüre illustrieren lassen. Dafür ist mir die Musik zu schade. Es wäre das Recht des Dirigenten, sich derlei zu verbitten.
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Freiheit der Kunst: Wir kennen Tucholskys Forderung Satire darf alles. Das wird heute gern variiert zu Kunst darf alles. (Der Betrachter darf aber auch gelegentlich bezweifeln, ob es sich noch um Kunst handelt. Nur der Rezensent hat oft Angst, als gestrig abgestempelt zu werden.) Es gibt aber auch Künste, in denen der Künstler sein Werk gleichsam unfertig abliefert: Musik und Theater, also erst recht die Oper. In der Partitur ist in Form von Regieanweisungen die Information enthalten, wie sich der schöpferische Künstler sein Werk fertig vorstellt. Das galt so lange als verbindlicher Auftrag, bis sich auch interpretierende Künstler auf die Freiheit der Kunst beriefen. Was sie vergessen (nein: verschweigen!), ist die Tatsache, dass sie diese Anweisungen zu befolgen haben – den Auftrag, abstrakte Visionen des Schöpfers in konkrete Bilder und Bewegungen umzusetzen, seine Ideen zu veranschaulichen.
Was wir heute Regietheater nennen, ist also bei Lichte besehen nicht mehr und nicht weniger als Amtsanmaßung – oder, politisch formuliert: Usurpation fremden Territoriums. Derlei funktioniert, solange sich der Besitzer nicht dagegen wehrt (wehren kann). Nun ist hier in der Regel der Besitzer tot. Aber er hat lebende Statthalter: die Theaterleiter, die Dirigenten (s.o.) und, wenn alle Stränge reißen: das Publikum! Doch die meisten Stränge sind längst gerissen: Theaterleiter sind oft selbst Regisseure, Dirigenten sind abhängig (Vertragsverlängerung). Bleibt das Publikum. Und das ist ein eigenes Kapitel:
Opernvorstellungen sind mehrheitlich ausabonniert. Ein Abonnent aber ist selten ein Mensch, dessen Gemüt von Sachkenntnis getrübt ist. Er verlässt sich gern auf die Kompetenz der professionellen Macher, wie sich die meisten angeblich mündigen Staatsbürger bei einer technischen Störung auf die Handwerker verlassen. Nichts dagegen einzuwenden. Aber die Rückseite der Medaille: Beiderlei Experten merken das schnell – und entscheiden oft nach Gutdünken: Handwerker nach Geschäftsvorteil, Regisseure nach Karrierevorteil. Und der heißt: Aufmerksamkeit. Verschärfend kommt hinzu: In einer Zeit, in der die Popkultur alle Lebensbereiche durchdringt, tendiert die Urteilsfähigkeit des Opernpublikums gegen Null. Wir (eine verschwindende Minderheit) sitzen in der Falle. Warten wir auf ein Wunder – oder genießen wir das Schöne, wo es noch zu finden ist? Ich habe mich entschieden... Leider kann ich nichts Erfreulicheres dazu sagen. Coraggio! Sixtus