Angeregt durch eine kleine Debatte über die Vollendung der 10. Sinfonie von Gustav Mahler im Konzertbesuch-Thread, möchte ich ein neues Thema aufgreifen – vorausgesetzt, es wurde nicht schon längst erschöpfend an anderer Stelle behandelt: Vollendung! Ein großer Gedanke, wie sich Thomas Mann ausdrückte. Vollendung ist ja nicht nur die letzte Note einer Partitur, das abschließende Wort einer Dichtung, der Schlussstein in einem Bauwerke. Vollendung meint auch die Größe der Erfindung einer Melodie, eines Gedankens. Im Falle Mahlers tue auch ich mich schwer mit der Ergänzung seines letzten sinfonischen Werkes durch inzwischen mehrere Experten. Die Aufgabe wird ja nicht leichter, weil auch der erste Satz, das Adagio, nicht als Partiturreinschrift vorliegt. Macht es Sinn, solche Werke zu ergänzen? Mahler ist bekanntlich nur eines von mehreren Beispielen auf dem Gebiet der Musik. Welche Werke sind noch anzuführen? Nur: Liegt im Unvollendeten nicht der viel größere Reiz?
Das Bestreben, einem Werk seine ursprüngliche, vermutet ursprüngliche oder auch nur geplante Form wiederzugeben, kennen wir ja auch bei antiken Skulpturen. Der so genannte Betende Knabe, einst von Friedrich II. für Sanssouci erworben und heute eines der bedeutendsten Stücke der Berliner Antikensammlung, ist ein solcher prominenter Fall. Die Bronze, die um 300 v. Chr. entstand, hatte bei ihrer Auffindung zu Beginn der 16. Jahrhunderts in Rhodos keine Arme mehr. Sie wurden in nachempfundener Form, woraus sich auch der aktuelle Name erklärt, wieder angesetzt. Inzwischen ist aus dieser Ergänzung auch wieder historisches Material geworden. Die Dinge gehen ineinander über. Gut so?
Grüße von Rheingold