O Freunde, nicht diese Töne!

  • Ein polemischer Artikel des KLASSIK-Redakteurs Oswald Beaujean hat mich sofort an dr. pingel denken lassen und diesen Thread initiiert. Es wird nämlich die Frage gestellt, ob es angesichts von weltweitem Terror, sozialer Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung und unerhört hohen Flüchtlingszahlen angebracht ist, zum „Jahresende allerorten das hohe Lied der Brüderlichkeit“ anzustimmen. Sollte man, so die weitergehende Frage, nicht besser Beethoven und Schiller (natürlich anders, als es die Klassiker gemeint haben) wörtlich nehmen und ganz auf das „überstrapazierte“ und „unpassende“ sowie „überschätzte“ Werk verzichten?


    Ich gebe allerdings zu, dass in Beaujeans Artikel nicht explizit auf den von dr. pingel immer wieder kritisierten musikalischen Aspekt des Finalsatzes eingegangen wird. Wer mag, kann hier nachlesen und dann diskutieren:


    "https://www.br-klassik.de/aktuell/meinung/neunte-symphonie-beethoven-polemik-100.html"


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Ich kann der Argumentation von Herrn Beaujean nicht folgen. Man mag den Finalsatz der Neunten musikalisch für schwach halten, aber darum geht es ihm doch wohl nicht. Der Grund für die besondere Bedeutung, die die Symphonie genießt, ist ja auch die Botschaft, die Utopie einer universellen Verbrüderung. Sonst könnte man auch die Fünfte oder die Siebte zum Jahreswechsel aufführen. Und wenn Beaujean dazu schreibt: "Solange, bis irgendwann die Irritation zurückkehrt, wir zumindest die utopische Botschaft dieser Musik wieder vernehmen, anstatt uns in falscher Zufriedenheit lediglich selbst zu beweihräuchern?", dann ist das meiner Meinung ein so großes Missverständnis, dass es mir geradezu mutwillig vorkommt. Er kann doch nicht im Ernst unterstellen, dass die Aufführung dieses Werkes der Selbstbeweihräucherung dient, dass wir uns beim Hören in der wohligen Zufriedenheit zurücklehnen, das Zeitalter des "Alle Menschen werden Brüder" schon erreicht zu haben? Wer könnte das angesichts der allgegenwärtigen Kriege und Konflikte, angesichts der Barbarei vom IS in Arabien und Terroranschlägen in Paris, angesichts der Forderung einer zumindest nominell "christlich-sozialen" Partei nach Flüchtlingsobergrenzen und in unserem Lande alltäglich verübten Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte ernsthaft glauben? Nein, gerade heute ist das Beschwören dieser Utopie mindestens ebenso wichtig wie zu Beethovens und Schillers Zeiten.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Beethovens "Neunte" und speziell ihr Finalsatz sind eine Grenzsprengung der (bisherigen) Gattung Sinfonie, die übliche rein instrumentale Besetzung einer Sinfonie reichte dem Komponisten nicht mehr aus, Solisten und ein großer Chor mussten dazukommen, um die universelle Botschaft auszudrücken, die er ausdrücken wollte. Und auch rein musikalisch werden Grenzen gesprengt: "muss ein lieber Vater wohnen" - das sind teilweise Schmerzensschreie der Verzweiflung, wie überhaupt vieles, was an dem Satz als "störend" wahrgenommen wird, gradios gelungen ist, weil es stören soll. Es ist keine Feier dessen, was erreicht ist, sondern eine schon beinahe schmerzvolle Bekräftigung dessen, was sein soll, aber (noch?) nicht ist. Und da es heute immer noch nicht erreicht ist, wie Schiller, Beethoven und andere sich das gewünscht haben, ist das Werk hochaktuell und soll aufgeführt werden. Dann werden die, die in Feierlaune sind, spätestens im Finalsatz an einigen Stellen spüren, dass ungetrübtes Feiern nicht angesagt ist...


    Meine Meinung: Keine noch so schönen Strauß-Walzer können die "Neunte" an Silvester ersetzen! Die ideale Mahnung zum Ausklang des Jahres...

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Hallo!


    Gerade in den vergangenen (und wahrscheinlich auch in den bevorstehenden) Jahren, kommt der Utopie der Brüderlichkeit hohe Bedeutung zu. Es scheint so, als seinen wir von diesem Ziel weiter entfernt als das jemals in der Nachkriegszeit der Fall war. Umso wichtiger sind richtungsweisende Visionen. Skeptiker mögen das als Selbstgefälligkeit oder Gutmenschentum abtun. Wenn ich mir die Aufnahme vom Vorplatz der Semperoper ansehe und -höre, ist von Selbstgefälligkeit nichts zu spüren. Mir fällt auf Anhieb auch keine verbindende Dichtung / Komposition ein, die dieselbe Wirkung erzeugen könnte.


    https://www.youtube.com/watch?v=IFOfRSu0Qfo


    Gruß WoKa

    "Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber Schweigen unmöglich ist."


    Victor Hugo

  • Für mich ist dieser Beitrag von Oswald Beaujean vom Bayetrischen Rundfunk wieder eine so eine ganz typische Feuilleton-Kopfgeburt im gemütlichen Studierstübchen fernab vom Leben und der Realität. Dabei alt wie das Gebirge. Gibt's denn nicht mal was Neues? ?( Ich fühle mich - etwas weithergeholt - an eine peinliche Aktion hier in Berlin erinnert, bei der syrischen Kriegsflüchtlingen zur Begrüßung Glühwein (!) und Weihnachtslieder (!) verabreicht wurden. Eine Tradition ist viel schneller abgeschafft, also dass etwas an ihre Stelle träte, was Menschen genau so bewegt wie Beethovens Neunte am Jahreswechsel. Plötzlich tut sich ein gähnendes Loch auf, und unser aller Leben ist wieder ein Stück ärmer. Zu erinnern ist, warum dieses Werk genau zu diesem Zeitpunkt immer und immer wieder zur Aufführung gelangt. Diese Gewohnheit geht auf Leipzig, das Gewandhausorchester und Arthur Nikisch zurück. Ich erspare mir die Einzelheiten und möchte meinerseits einen Artikel verlinken, der knapp zusammenfast, was Gegenstand der Musikgeschichte ist:


    Die Friedensbotschaft der 9. Sinfonie


    Etwas gewöhnungsbedüftig und bedenklich finde ich allerdings die "Aufführung" vor der Semperoper, zu der uns ein Link von WoKa führt. Hier wärmt sich nach meinem ganz persönlichen Eindruck wirklich der "Gutmensch" auf. :untertauch:

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Hallo!


    Gerade in Dresden halte ich ein solches Signal in die Welt für hoch respektabel.


    Gruß WoKa

    "Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber Schweigen unmöglich ist."


    Victor Hugo

  • Ich kann den vielen ablehnenden Statements zu Beaujeans Artikel nur zustimmen. Ich bin allerdings nicht so ganz bei Stimmenliebhaber, halte dessen Heranziehung von Strauss-Walzern als Vergleich für unangebracht. Es sind in meinen Augen völlig unterschiendliche Genres und von daher nicht vergleichbar. Das Jahr mit Bachs Weihnachts-Oratorium und Beethovens Neunter zu beschließen und mit Strauss-Kompositionen das neue Jahr zu begrüßen ist eine wunderbare Tradition, die ich nicht missen möchte.
    Persönlich gelingt es mir aber nie, Fernsehübertragungen der Neunten zu verfolgen, weil das bei uns mit dem ebenfalls zur Tradition gewordenen Jahresabschlussgottesdienst kollidiert. Und danach kommt in der Regel der Besuch von Freunden, mit denen man gerne das Jahr beendet, denen Beethoven aber "viel zu schwer" ist...


    :hello:


    Da ich im Moment meinen Beitrag editieren kann, will ich, was ich vorhin total vergessen habe, Rheingold 1876 ausdrücklich für den Link in seinem Post danken. Da ist für mich einiges Interessante zu lesen gewesen...

    .


    MUSIKWANDERER

  • Ich bin allerdings nicht so ganz bei Stimmenliebhaber, halte dessen Heranziehung von Strauss-Walzern als Vergleich für unangebracht. Es sind in meinen Augen völlig unterschiendliche Genres und von daher nicht vergleichbar.


    Natürlich sind das völlig unterschiedliche Genre, aber es sind häufig die beiden an Silvester angebotenen Alternativen. Es gibt ja nicht nur die Neujahrskonzerte, sondern selbige werden häufig (mit dem üblichen Walzer-Programm) auch schon an Silvester als "Silvesterkonzert" angeboten. Sie können aber nach meiner Meinung die Neunte nicht ersetzen, wenn auch an Neujahr ergänzen. Ein bissl "schwer" darf's (mindestens einmal im Jahr) auch sein...

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ich denke auch, dass mit der Aufgabe der Neunten ein Signal gesetzt würde, das nicht sinnvoll ist. Wir haben schon viel zu viele ehemalige "Kulturgüter" aufgegeben, z.B. St. Martin gegen Halloween eingetauscht. Ich persönlich halte die Neunte für eine der genialsten Sinfonien überhaupt, und wie kühn der vierte Satz angelegt ist, wurde ja hier beschrieben. Nur finde ich die Chorkomposition selber, also die Ausführung der Idee, nicht als erstklassig, im Vergleich zu dem, was es an erstklassigen Chorkompositionen gibt, zu denen ich neuerdings auch die früher von mir abgelehnte Missa solemnis zählt (Harnoncourt sei Dank!). Ich bin ernsthaft der Meinung, dass mal ein Dirigent kommen sollte, der die Solisten und den Chor durch ein zweites kleines Orchester oder durch Blechbläser ersetzt.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Ich bin ernsthaft der Meinung, dass mal ein Dirigent kommen sollte, der die Solisten und den Chor durch ein zweites kleines Orchester oder durch Blechbläser ersetzt.


    Wirklich? Und warum?
    Ich bin fest davon überzeugt, dass es schon derlei "Bearbeitungen" gibt.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Banner Interviebanner 1 Gelbe Rose
  • Und der Chor-Satz selbst würde sich ja auch nicht verändern, wenn er von einem zweiten Orchester statt vom Chor selbst erklingen würde.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"


  • Vielen Dank! Das war mir tatsächlich neu. Ich hatte die Sitte mit der 9. Sinfonie an Silvester auch immer etwas seltsam gefunden (zumal sie mir erst zur Wendezeit Ende der 1980er bewusst wurde) und für eine etwas fragwürdige Vereinnahmung des Werks. Klar, darüber kann man immer noch streiten, ob es sich um eine unzulässige Vereinnahmung handelt, aber ich wusste nicht, dass es seit 1918 eine entsprechende Tradition in einer (breiten) Friedens- und Arbeiterbewegung gegeben hatte.


    Bei den Walzern, Fledermaus u.ä. "light music" könnte ich Beaujeans Einwände noch teilweise nachvollziehen. Aber Beethovens 9. Sinfonie mit der Darstellung des "verzweiflungsvollen Zustandes" im Kopfsatz und allmählichen Gewinnung der Freudenode (und wie schon gesagt wurde, bleibt auch die keine simple, unreflektierte Feier) ist sozusagen das Gegenteil von "Eskapismus". Zumal wenn man weiß, in welcher persönlichen (Taubheit, Kränkeln, soziale und künstlerische Isolation) und politischen (Metternichsche Restauration, inkl. seinerzeitige Gestasipo) Situation Beethoven das Stück komponiert hat.
    Mann/Leverkühn haben aber schon missverstanden, dass eine Utopie nicht durch die Wirklichkeit widerlegt werden kann. Sie ist nicht gegeben, sondern "aufgegeben".

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)