Kann ein Stück zu lang sein? Und wenn ja, warum?

  • Nach der berühmten Anekdote soll Kaiser Joseph II. zu Mozarts „Entführung aus dem Serail“ gesagt haben: "Gewaltig viel Noten, lieber Mozart" – worauf Mozart geantwortet habe: "Gerade so viel Noten, Eure Majestät, als nötig sind." Wer wollte das in Frage stellen? Allerdings finden sich hier im Forum bei der Besprechung von Werken auch immer wieder Äußerungen der Art, das Stück sei „zu lang“, und ich frage mich, was damit eigentlich gemeint ist. Natürlich gibt es den Fall, dass mir ein bestimmtes Stück einfach nicht gefällt und ich beim Hören denke: „Nimmt es denn kein Ende?“ im Sinne von „je länger, umso schlimmer“. Aber das ist ja wohl mit den Äußerungen nicht gemeint, die ich hier im Blick habe. Die verstehe ich eher so, dass ein Werk grundsätzlich durchaus positiv oder zumindest neutral beurteilt wird, dass man aber meint, es wäre kürzer oder straffer (noch) besser. Oder im Sinne der obigen Anekdote: hier habe der Komponist mehr Noten zu Papier gebracht, als nötig oder geboten gewesen sei. Mir fällt es nicht leicht, Beispiele dafür zu finden, vielleicht abgesehen von der einen oder anderen Oper, wo es aber eher dramaturgische Gründe sind, die mich manchen Akt als zu lang empfinden lassen. Aber mich interessieren hier Stücke, die aus musikalischen Gründen zu lang sind – wenn es solche überhaupt gibt. Wer kann hier eines oder mehrere Beispiel geben und begründen, warum die betreffenden Werke besser geworden wären, wenn sie kürzer ausgefallen wären?

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Nur am Rande: Ich hatte die Bemerkung des Kaisers immer weniger auf die Länge (da ist die "Entführung" höchstens für ein Singspiel relativ lang) als auf die (besonders für ein Singspiel) sehr reichhaltige musikalische Ausgestaltung bezogen. Also eher: "zu viele Noten gleichzeitig" als "zu viele Noten hintereinander".


    "Zu lang" verstehe ich oft als sehr persönliche "Kritik": Man selbst hat schlicht Schwierigkeiten, die Geduld aufzubringen. Oder man meint, "zu lang für das Material", wenn der Eindruck besteht, dass es zu viele Wiederholungen gibt oder die musikalischen Ideen nicht attraktiv genug sind, um zB 15 min Musik auszufüllen.


    Und es gibt ja gar nicht so selten (nahezu wörtliche) Wiederholungen: Doppelstrich-Wdh., dacapos, Reprisen etc. Hier besteht m.E schon ein Unterschied, ob man, wie damals fast immer vorher unbekannte Musik hört und diese Musik auch nur einige Male hören wird, oder ob man ein Stück in anderen (oder dank Konserve oft auch exakt derselben) Interpretation schon zigmal gehört hat. Je nachdem, wie ein Interpret mit diesen Wiederholungen umgeht, hört man z.B. beim 3. Satz von Schuberts Großer C-Dur-Sinfonie EXAKT dieselbe Musik bis zu viermal oder so...

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • "Zu lang" verstehe ich oft als sehr persönliche "Kritik": Man selbst hat schlicht Schwierigkeiten, die Geduld aufzubringen. Oder man meint, "zu lang für das Material", wenn der Eindruck besteht, dass es zu viele Wiederholungen gibt oder die musikalischen Ideen nicht attraktiv genug sind, um zB 15 min Musik auszufüllen.


    Ich würde auch sagen, dass das immer ein sehr persönliches Urteil ist. Allerdings mag etwas daran sein, im Sinne einer Verallgemeinerung, wenn sich solche Wertungen bezogen auf ein Werk häufen. Mir sind Stücke zu lang, wenn sie nicht auf den Punkt kommen, ohne dem musikalischen Geschehen wesentlich Neues (Ideen, Struktur, Wirkung) beizusteuern. Das ist für mein Empfinden wie mit der Sprache. Mancher kommt einfach nicht zur Sache und "labert nur drumherum". Weniger ist eben manchmal mehr.


    Viele Grüße
    Frank

  • Ich steige zumnächst mal bei Der Bemerkung von Kaiser Joseph II ein, dessen Bemerkung eine unterschwellige Kritik an der Komplexität von Mozarts Werken gewesen sein wird. Es gar ja ein diesbezügliches Gespräch des Kaisers mit Dittersdorf, wo man übereinstimmen zu dem Schluß kam. Mozart habe zu viele Ideen auf einmal.
    Persönlich muß es schon eine Oper (aber keine von Wagner !) sein, wo ich eine gewisse Länge ertrage.
    In meiner Jugend war es so, daß ich die langsamen Sätze bei Sinfonien "übersprang" - weil sie mich langweilten. Später zwang ich mich dann dazu, wollte aber keine Sinfonien hören, die eine Stunde dauerten, wobei Schuberts große C-Dur Sinfonie eine Ausnahme darstellte. Besondere Schwierigkeiten hatte ich mit Bruckner (von Mahle höre ich bis heute nur einige Sinfonien), weil ich mich mit seinen "Scheinfinali" nicht anfreunden konnte, immer wenn der Höhepunkt scheinbar erreicht warm ruderte der Komponist zurück - eine interessante Parallele zu seiner Vorliebe, Werke niemals abzuschliessen, sondern immer wieder umzuarbeiten. Da ich Werke das späten 18. bzw. frühen 19 Jahrhunders sehr schätze - und deshalb bevorzugt höre - komme ich nur selten in die Situation, daß mir ein Werk zu lange sein könnte.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Dass mir der 4. Satz der 9. von Beethoven zu lang ist, wird ja hier niemanden wundern. Zum Glück ist mein Lieblingskomponist, Leos Janacek, Meister der Knappheit.
    Ich habe übrigens bei Bach eine Beobachtung gemacht, die völlig falsch sein kann, warum ich sie hier zur Diskussion stelle. Ich meine, dass Bach sehr gut gewusst hat, welche Arien und Chöre ihm besonders gut gelungen waren. Die sind dann meist besonders lang. Als Musterbeispiel möchte ich "Schlummert ein, ihr matten Augen" aus der Kantate "Ich habe genung" (kein Tippfehler) nennen; und da könnte man manchmal denken, dass die gar nicht mehr aufhören soll.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Nur am Rande: Ich hatte die Bemerkung des Kaisers immer weniger auf die Länge (da ist die "Entführung" höchstens für ein Singspiel relativ lang) als auf die (besonders für ein Singspiel) sehr reichhaltige musikalische Ausgestaltung bezogen. Also eher: "zu viele Noten gleichzeitig" als "zu viele Noten hintereinander".

    Dann habe ich diese Bemerkung bislang missverstanden, aber darauf kommt es hier ja nicht an.



    Mir sind Stücke zu lang, wenn sie nicht auf den Punkt kommen, ohne dem musikalischen Geschehen wesentlich Neues (Ideen, Struktur, Wirkung) beizusteuern.

    Hast Du dafür ein Beispiel parat?



    Dass mir der 4. Satz der 9. von Beethoven zu lang ist, wird ja hier niemanden wundern.

    Und warum ist er Dir zu lang? Mich interessieren ja gerade die Gründe.



    Zum Glück ist mein Lieblingskomponist, Leos Janacek, Meister der Knappheit.

    Das ist eine interessante Bemerkung, weil sie von der Annahme ausgeht, dass Knappheit eine Tugend ist. Könnte man nicht auch sagen: mehr schöne Musik ist besser als weniger schöne Musik, vorausgesetzt, dem Komponisten gehen die Einfälle nicht aus bzw. das Material bietet genug Stoff z.B. für einen langen Satz einer Symphonie?

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  • Hast Du dafür ein Beispiel parat?


    Ja, zuletzt bspw. der 4. Satz aus Rotts' Sinfonie, der mir zu weitschweifig erscheint und weder den Satz noch die Sinfonie in Gänze bei einer Kürzung entwertet haben würde.


    Viele Grüße
    Frank

  • Es war bis vor nicht allzu langer Zeit bei einigen Werken durchaus üblich, auch mal zu kürzen. Und damit meine ich nicht nur die Doppelstrichwiederholungen, die oft weggelassen wurden, oder die verbreiteten Striche einzelner Stücke in Opern (es gibt bei Wagner meines Wissens eine Reihe von "Bühnenstrichen", u.a. um die Sänger zu schonen, zB im 2. Tristan-Akt) oder Oratorien, sondern Striche innerhalb eines zusammenhängenden Instrumentalstücks.


    Manchmal haben sogar die Komponisten selbst kürzere Alternativfassungen erstellt (meiner Erinnerung nach Rachmaninoff für eines seiner Klavierkonzerte). Neulich habe ich bei der Ankündigung einer neuen Einspielung von Tschaikowskys b-moll-Konzert gelesen, dass der Komponist sich seinerzeit zu Kürzungen hätte überreden lassen und dass hier eine (auch von anderen editorischen Zufügungen bereinigte) Originalfassung zu hören sei. Beim G-Dur-Konzert wurde der 2. Satz oft radikal zusammengekürzt und Heifetz hat meines Wissens das Violinkonzert auch immer nur mit Strichen gespielt (ich kenne das Stück nicht gut genug, um zu sagen, wo diese Kürzungen liegen und wie umfangreich sie sind).
    Die Bruckner-Bearbeitungen Schalks u.a. um 1900 waren fast immer auch Kürzungen.
    Es scheint mir jedenfalls keine inkohärente Idee zu sein, dass ein Stück zu lang sein kann... ;)

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  • Lieber Bertarido, die Sache mit Beethovens 4. Satz der 9. ist in einem anderen Thread lange verhandelt worden und hat zu viel Missstimmung geführt; vielleicht siehst du dort nach. Meine Äußerungen über Janacek und über Bach widersprechen sich ja auch, was eben heißt, dass man die Sache nicht endgültig entscheiden kann. Jeder Komponist hat seinen personalen Stil, und bei Janacek ist die Verknappung eine Tugend, weil sie die Musik intensiviert. Bei Bach hättest du Recht, wenn du schöne Musik lange genießen willst. Wie so oft hier stehen wir vor Problemen, die wir nicht entscheidend lösen können.

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

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  • Nach der berühmten Anekdote soll Kaiser Joseph II. zu Mozarts „Entführung aus dem Serail“ gesagt haben: "Gewaltig viel Noten, lieber Mozart" – worauf Mozart geantwortet habe: "Gerade so viel Noten, Eure Majestät, als nötig sind."


    Es ist ja schon bemerkt worden, dass diese Geschichte nichts, aber auch gar nichts mit der Länge bzw. den Ausmaßen eines Musikstückes zu tun hat. Wenn ich mich nicht irre, ist diese Anekdote auch in den Film "Amadeus" von Miloš Forman eingegangen. Halten wir uns nicht dabei auf, Bartarido hat es ja nach eigenem Bekunden wirklich anders gemeint. Interessant finde ich das Thema auch. Wenn ein Werk vom Komponisten gut ausgearbeitet und von seinen Interpreten ebenso gut aufgeführt wird, ist es für mich nicht langweilig. Quälende Längen entsteht nach meiner Überzeugung vornehmlich durch langweilige Aufführungen. Oder durch Uninformiertheit. Neulich las ich in einem Thread, dass man im "Don Carlos" das Ballett ruhig weglassen könnte. Dadutrch verkürzt sich die Länge der französischen Originalfassung um fast eine halbe Stunde. Wird das Ballett aber gestrichen, entsteht eine gewaltige dramaturgische Lücke, weil es ein Handlungsballett ist, in dessen Verlauf der Manteltausch zwischen Königin und Prinzessin Eboli stattfindet. Fällt es weg, wird nicht klar, warum denn Carlos in den nächtlichen Gartenszene Eboli für Elisabeth hält. Typisch Oper, dachte auch ich, bevor ich die ungekürzte faszinierende Fassung kannte. HIP bedeutet für mich auch die originale Länge eines Werkes. Das Publikum hat ein Recht darauf, sie kennenzulernen. Kürzungen - in der Oper - sind oft Einfallstore für missverständliche Aufführungen. Ich könnte mit dem Kompromiss leben, dass es in einer Aufführungsserie komplette Fassungen konzertant gibt, auf der Bühne kann meinetwegen auch schon mal gekürzt werden, wenn sonst der Rahmen gesprengt würd. Künstlerisch ist das schwierig! Schließlich wird an großen Gemälden ja auch nichts weggeschnitten, damit es an eine bestimmte Wand passt. Länge kann anstrengend sein, fürwahr.


    Wagner selbst - seine Werke sind ja immer von Kürzungen so gut wie ausgeschlossen - war für Kürzungen. Das hat mich immer fasziniert.


    Können Stücke aus musikalischen Gründen zu lang sein, wie es Bertarido mutmaßt? Nein. Wenn sie durch Länge unerträglich werden, sollten sie im Kasten bleiben. Die Entscheidung sollte aber beim Publikum liegen. Ausufernde Werke haben wenig Chancen. Dafür gingt es zig Beispiele. Stellvertretende möchte ich August Bungert nennen. Mitunter erscheint mir der Hinweis auf die Ausmaße einen Stückes auch als Vorwand, ein Werk zu verbannen und in die Ecke zu stellen, das es aber verdient hätte, mal aufgeführt zu werden. In Diktaturen wurde gern aus politischen Gründen gekürzt. Es gibt für mich also verschiedene Gründe, mit Längen und Kürzungen sehr behutsam und begründet umzugehen.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Schließlich wird an großen Gemälden ja auch nichts weggeschnitten, damit es an eine bestimmte Wand passt.

    In der Vergangenheit soll dergleichen teilweise geschehen sein. Nur ein Beispiel: Bei dem berühmten Kardinalsportrait von Jan van Eyck wurde vermutlich das Wappen des Dargestellten, das sich oben befand, in einer späteren Zeit abgeschnitten. Auf diese Weise weiß man bis heute nicht genau, wen es darstellt. Gott sei Dank ist man da heutzutage lange darüber hinweg.



    Ausufernde Werke haben wenig Chancen. Dafür gingt es zig Beispiele. Stellvertretende möchte ich August Bungert nennen.

    Leider wahr! Dabei wäre es wirklich einmal anstrebenswert, Bungerts antikes Opern-Epos zumindest auf Tonträger zu hören. Mit genügend "Lobbyismus" sollte es doch möglich sein, alle ein, zwei Jahre eine der Opern konzertant zur Aufführung zu bringen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Das Label, welches sich dessen annähme, ginge jedenfalls in die Geschichte ein.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Wenn man mit "HIP" das Imitieren zeitgenössische Interpretationspraxis meint, müsste man Opern umstellen, kürzen, mit Arien andeer Komponisten erweitern, bearbeiten usw. :D Denn das war bis ins 19. Jhd. gang und gäbe, wovon noch die "Pariser Fassungen" bei Verdi und Wagner zeugen. Das ist aber eine andere Sache als "zu lang", kann, wie schon angedeutet wurde, auch "zu kurz", zu wenig/kein Ballett, zu wenige Arien für Sänger/in X usw. sein.

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  • Neulich las ich in einem Thread, dass man im "Don Carlos" das Ballett ruhig weglassen könnte. Dadurch verkürzt sich die Länge der französischen Originalfassung um fast eine halbe Stunde.

    Lieber Rheingold,


    Jean-Jacques Rousseau, der ja eine sehr erfolgreiche Oper komponiert hat (der frz. König bot ihm daraufhin eine lebenslange Pension an, was Rousseau aber ablehnte, er wollte um jeden Preis unabhängig bleiben!), haßte diese Konvention der Balletteinlagen in der frz. Oper regelrecht. Ihn hätten solche Kürzungen sicher gefreut. Von Wagner gibt es zu den Balletten in der Oper auch ziemlich abfällige Bemerkungen, wenn ich es richtig im Kopf habe.



    Schließlich wird an großen Gemälden ja auch nichts weggeschnitten, damit es an eine bestimmte Wand passt.

    Von wegen! :D Im Amsterdamer Rijksmuseum gleich unten hinter dem Eingang hängt Rembrandts berühmte "Nachtwache" - ein Riesenbild, wo die Ratsherren einfach ein Stück an der rechten Seite abgeschnitten haben, weil es ihnen zu sperrig war. Das erkennt man nämlich an der Kopie in verkleinertem Format, die sich der leitende Offizier hat anfertigen lassen. Dieses kleine Bild hängt im Rijksmuseum zur Verblüffung der Betrachter direkt daneben - da ist das Bild "komplett". Die Ironie der Geschichte: Manche berühmte Interpreten aus der Vergangenheit, welche davon natürlich nichts wußten, haben doch tatsächlich ziemlich tiefsinnige Bemerkungen über die "unfertige" Bildkomposition von Rembrandts Nachtwache angestellt. :D :D :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Die Frage dieses Threads zielt auf etwas ab, das gerade nicht in Worte gefasst werden kann. Ein Stück ist sicherlich zu lang, wenn es Abschnitte gibt, die von der Proportion nicht passen oder die im "Gesamtbild" stören. Ein Stück ist für mich gut, wenn ich bei jedem neuen Hören, etwas Neues entdecken kann oder "anders höre", es mich anregt, mich intensiv damit auseinander zu setzen. Es kann dennoch sein, dass es Abschnitte gibt, die von der Proportion nicht passen.


    a.) So ist zum Beispiel in Rimski-Korsakows Nacht vor Weihnachten, die ich als Ganzes sehr schätze, die Tanzfolge der Gestirne (vor Wakulas Flug durch die Luft) etwas zu lang, da zwei der Tänze mit ähnlichen Tempi auf einander folgen.


    b.) Glinkas Tanzfolge im 2. Akt des Sussanin dagegen wirkt mir nicht zu lang, obgleich sie das Geschehen nicht voranbringt.


    c.) Bei der ersten Sinfonie Gustav Mahlers ist der letzte Satz aufgebläht, steht zwar in scharfem Kontrast zu den restlichen drei, liefert aber musikalisch zu wenig Neues.


    d.) Dagegen kann ich der Kritik an dem Goldenen Spinnrad, op. 109 von Antonin Dvorak oft nichts abgewinnen. Das Stück empfand ich niemals zu lang, auch diejenige Stelle nicht, an der die Körperteile der armen Dornicka wieder zurückgewonnen werden, obgleich sich das musikalische Material dreimal wiederholt. Aber es ist eine Orchestervariation mit einer bedeutenden Funktion.


    e.) Orchestervariationen sind nicht jedermanns Sache. Man man Rimskis Scheherazade von der Orchestrierung ebenso "schrecklich", "einfallsarm" empfinden, wie sie als Orchestervariation genial ist.


    Werke, die vor Einfällen überborden, und dem Hörer keine Chance lassen, das Material ohne Programm zu verarbeiten, sind ebenfalls zu lang. Das gilt zum Beispiel sicherlich für die ersten beiden Sinfonien Dvoraks.


    Musikdramen, in denen ein Meister der Harmonie einen endlosen Monolog von sich gibt, also eine Rede, ohne Punkt und Komma, sind ganz bestimmt zu lang ;-).


    Am Ende läuft es auf einen Satz hinaus, den Smetana einst formulierte: "Musik sagt das Unsagbare". Bildende Kunst übrigens auch. Nur auf eine andere Weise.


    Grüße von Heiko

    Heiko Schröder
    Ahrensburg


    "Wer sich im Ton vergreift, sucht nur in den glücklichsten Fällen nach neuen Harmonien."

  • c.) Bei der ersten Sinfonie Gustav Mahlers ist der letzte Satz aufgebläht, steht zwar in scharfem Kontrast zu den restlichen drei, liefert aber musikalisch zu wenig Neues.


    Tut mir leid, aber solch einen kompletten Unsinn habe ich zu Mahlers 1. bislang noch nicht gelesen! :no: Mahler hat in der 1. bereits exemparisch seine Konzeption einer "Finalsymphonie" realisiert. Der eigentlich tragische, dramatische Konflikt (der im Kopfsatz anders als bei Beethoven etwa völlig fehlt!) wird hier erst ausgetragen. Da ist wirklich kein einziger Takt zuviel - das Finale ist überhaupt das dramatische Zentrum dieser Symphonie.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zitat

    Dr. Holger Kaletha: Tut mir leid, aber solch einen kompletten Unsinn habe ich zu Mahlers 1. bislang noch nicht gelesen! :no: Mahler hat in der 1. bereits exemparisch seine Konzeption einer "Finalsymphonie" realisiert. Der eigentlich tragische, dramatische Konflikt (der im Kopfsatz anders als bei Beethoven etwa völlig fehlt!) wird hier erst ausgetragen. Da ist wirklich kein einziger Takt zuviel - das Finale ist überhaupt das dramatische Zentrum dieser Symphonie.


    Schöne Grüße
    Holger


    Dem kann ich vollinhaltlich zustimmen. Am 19. Februar dieses Jahres habe ich die Erste zuletzt im Konzert in Köln live erlebt, mit Chailly und seinem Gewandhausorchester, am 5. September folgte in Bonn die Neunte unter Mehta mit dem Israel Philharmonic, am 4. 3. 2016 wird, wiederum in Köln, Mahlers Siebte unter Nelsons mit dem WDR-Sinfonieorchester folgen, am am 19. 6. in Köln Mahlers Dritte unter Haitink mit dem Bayerischen RSO und zum Abschluss am 22. 6. 2016 unter Michael Sanderling mit der Dresdener Philharmonie wieder Mahlers Erste.
    Wenn, zumindest von der Zeitdauer her, das Finale der Dritten und der Siebten nicht so dominierend sind und in der Neunten der Kopfsatz genauso umfangreich sit wie das Finale, so sind doch die Adagio-Finali der Dritten und der Neunten von ihrem musikalischen Gehalt her m. E. logische Zielpunkte.
    Bei der Ersten jedoch ist die Sache völlig klar, und wenn ich sie am 22. 6. 2016 gehört und gesehen haben werde, so wird es das vierte Mal innerhalb der letzten fünf Jahre gewesen sein. Wenn mir das Finale zu lang wäre und zu wenig aussagen würde, würde ich doch nicht immer wieder hingehen. :D


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Dem kann ich vollinhaltlich zustimmen. Am 19. Februar dieses Jahres habe ich die Erste zuletzt im Konzert in Köln live erlebt, mit Chailly und seinem Gewandhausorchester, am 5. September folgte in Bonn die Neunte unter Mehta mit dem Israel Philharmonic, am 4. 3. 2016 wird, wiederum in Köln, Mahlers Siebte unter Nelsons mit dem WDR-Sinfonieorchester folgen, am am 19. 6. in Köln Mahlers Dritte unter Haitink mit dem Bayerischen RSO und zum Abschluss am 22. 6. 2016 unter Michael Sanderling mit der Dresdener Philharmonie wieder Mahlers Erste.
    Wenn, zumindest von der Zeitdauer her, das Finale der Dritten und der Siebten nicht so dominierend sind und in der Neunten der Kopfsatz genauso umfangreich sit wie das Finale, so sind doch die Adagio-Finali der Dritten und der Neunten von ihrem musikalischen Gehalt her m. E. logische Zielpunkte.
    Bei der Ersten jedoch ist die Sache völlig klar, und wenn ich sie am 22. 6. 2016 gehört und gesehen haben werde, so wird es das vierte Mal innerhalb der letzten fünf Jahre gewesen sein. Wenn mir das Finale zu lang wäre und zu wenig aussagen würde, würde ich doch nicht immer wieder hingehen. :D


    Lieber Willi,


    bei dem Programm werde ich gleich schwach! :) Besonders Haitink in Köln wäre eine Versuchung wert... :D In Bielefeld habe ich ja einige Mahler-Symphonien gehört auf einem wirklich sehr guten Niveau! Und die Finalsätze bei Mahler können wirklich nicht lang genug sein, so geht es mir auch! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Lieber Holger,


    ich habe gerade Andris Nelsons gebucht, der am 4. 3. 2016 Mahlers Siebte dirigiert mit dem WDR-Sinfonieorchester, Reihe 10 Mitte, das ist für Mahler nah genug, denn man muss bei dem Aufgebot der Siebten damit rechnen, dass die ersten beiden Reihen versenkt werden.
    Offiziell beginnt der Vorverkauf morgen, aber als Abonnent kann ich schon eine Woche vorher buchen. Ich hätte also schon letzte Woche buchen können, aber da hatte ich den Kopf noch voll mit dem Fauré-Requiem, dass wir am Sonntag in einem wirklich erfüllenden Konzert zur Aufführung brachten. Leider habe ich keinen Zugriff auf den Artikel unseres lokalen Käseblättchens, sonst hätte ich heute schon den Artikel eingestellt. So muss ich ihn wohl abschreiben und werde ihn vermutlich erst morgen einstellen können.


    Liebe Grüße


    Willi :)

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  • Lieber Holger, das Ballett im französischen "Don Carlos" unterscheidet sich schon von anderen derartigen Einlagen. Es ist - und das geht auf Verdis genialen Theaterinstinkt zurück - in die Handlung einbezogen. Wenn schon Ballett in Paris, dann muss es auch Sinn machen. Es finden in der großen Szene zu Beginn des dritten Aufzuges - die auch ein Gegengewicht zum Autodafé bildet - wichtige Handlungsverläufe statt, die - ich sagte das schon - die folgende nächtliche Gartenszene zwischen Carlos und Eboli dramaturgisch erklären. Deshalb bin ich in diesem Fall für die Länge - und nicht für die vorschnelle Kürzung. Ich nehme die Länge also sehr gern in Kauf. Was den Rousseau anbelangt, freue ich mich über Wissenszuwachs. :)


    Die Bildergeschichten - Joseph II. hatte auch schon eine genannt - sind mir nicht bekannt gewesen. Danke euch beiden! Ich habe etwas gelernt. Allerdings hatte ich ehr an die Neuzeit gedacht.


    Es grüßt Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • ich habe gerade Andris Nelsons gebucht, der am 4. 3. 2016 Mahlers Siebte dirigiert mit dem WDR-Sinfonieorchester, Reihe 10 Mitte, das ist für Mahler nah genug, denn man muss bei dem Aufgebot der Siebten damit rechnen, dass die ersten beiden Reihen versenkt werden.

    Lieber Willi,


    da bist Du aber mutig bei dieser Riesenbesetzung mit viel dickem Blech! In Bielefeld habe ich bei der 7. im sicheren Abstand oben auf der Empore gesessen! :) :hello:



    Lieber Holger, das Ballett im französischen "Don Carlos" unterscheidet sich schon von anderen derartigen Einlagen. Es ist - und das geht auf Verdis genialen Theaterinstinkt zurück - in die Handlung einbezogen. Wenn schon Ballett in Paris, dann muss es auch Sinn machen. Es finden in der großen Szene zu Beginn des dritten Aufzuges - die auch ein Gegengewicht zum Autodafé bildet - wichtige Handlungsverläufe statt, die - ich sagte das schon - die folgende nächtliche Gartenszene zwischen Carlos und Eboli dramaturgisch erklären. Deshalb bin ich in diesem Fall für die Länge - und nicht für die vorschnelle Kürzung. Ich nehme die Länge also sehr gern in Kauf.

    Das leuchtet mir absolut ein, lieber Rheingold - und ich denke da ganz genau wie Du! Ein Herrmann Scherchen hat auch gemeint, die 5. Mahler kürzen zu müssen. Da war man in vergangenen Zeiten einfach etwas zu sorglos und zu "pragmatisch" - die Grenze zu aus Unverständnis erwachsener Willkür dabei mehr oder weniger fließend. :D :hello:

  • Tut mir leid,

    Es tut mir leid, denn genau das kann "ich" an dieser Stelle nicht glauben. :)



    Der eigentlich tragische, dramatische Konflikt (der im Kopfsatz anders als bei Beethoven etwa völlig fehlt!) wird hier erst ausgetragen.

    Ich kann mich nicht erinnern, das bestritten zu haben.



    Da ist wirklich kein einziger Takt zuviel

    Ja, das akzeptiere ich natuerlich. Und wie ungeschickt von mir, nicht noch einmal zu betonen, dass es einen Konsens über "zu lang" nicht geben kann. Selbst wenn es ein Dr Kaletha sagt, dessen Beitraege ich fast immer schaetze, muss das kein Naturgesetz sein.


    Zum Thema "kompletter Unsinn", habe ich mich nach meinem Beitrag mal auf die Suche gemacht und dies gefunden, was ein Mahler-Spezialist vermutlich kennen duerfte: "Wenn einer diesen ersten Satz schreiben kann, dann soll er, verdammt noch mal, nicht so ein leeres Getöse als Finale hinschreiben."


    Und das stammt ganz gewiss nicht aus der Feder eines Irgendwer. Es koennte also sein, dass Empfindungen verschieden sind (um es ganz vorsichtig auszudruecken). Mich hat das Finale der ersten nie ueberzeugen koennen, und moeglicherweise hat das damit zu tun, mit welcher Musik ich aufgewachsen bin, die mich als ziemlich junger Mensch zuvor begeistert hat (Mahler lernte ich erst mit 17 kennen). Dass es das dramatische Zentrum des Werkes sein soll, ist ja nun wirklich offenhörbar. Aber es gibt fuer mich weitaus dramatischere Musik, die mit erheblich weniger "Geschrei" auskommt. Das heißt alles Andere als dass ich mir hier anmaße, das Werk eines Mahlers als Ganzes zu kritisieren, wie wahrscheinlich befuerchtet wird.


    Gruss Heiko

    Heiko Schröder
    Ahrensburg


    "Wer sich im Ton vergreift, sucht nur in den glücklichsten Fällen nach neuen Harmonien."

  • Ich hoffe also, daß der Frieden wieder eingekehrt ist. Auch zu MEINEN Beiträgen hat oft jemand "Unsinn !" geschrieben. Aber das übergehe ich stet nonchalent mit der mir eigenen stillen Arroganz, das holt mich von meinem Thron nicht runter.... ;)


    Zitat

    Schließlich wird an großen Gemälden ja auch nichts weggeschnitten, damit es an eine bestimmte Wand passt.


    OH doch. Relativ oft sgat, es wurde n Bilder auf ovoal zugeschnitten als es Mode war, und sie wurden manchamal auch wieder durch Restauratoren ergänzt.
    Ein besonders krasser Fall ist das berühmte Bild Rembrandts "Die Nachtwache" - korrekter Titel:


    Die Kompanie des Frans Banning Cocq (niederländisch: De compagnie van Frans Banning Cocq).
    Wikipedia schreibt dazu folgendes:


    Zitat

    Die Nachtwache ist eines der bekanntesten und auch beliebtesten Gemälde Rembrandts. Es war für den Festsaal der Amsterdamer Schützengilde bestimmt und blieb dort bis 1715. In diesem Jahr kam es ins Amsterdamer Rathaus und wurde an allen vier Seiten beschnitten, weil das ursprüngliche größere Format nicht zum neuen Standort passte. (Das Originalgemälde war 4,02 Meter hoch und 5,10 Meter breit.) Deutlich wird die Beschneidung vor allen Dingen auf der rechten Seite: Der Trommler ist in der Mitte durchgeschnitten.


    In der Londoner Nationalgalerie hängt eine von Gerrit Lundens im 17. Jahrhundert gemalte verkleinerte Kopie der Nachtwache, die das Bild in seiner ursprünglichen, unbeschnittenen Fassung zeigt.[5] Ob zusätzlich Restauratoren im späteren 17. oder 18. Jahrhundert mit einem ergänzenden gelb-braunen Firnis dem Bild zu einem sogenannten „Galerieton“ verhalfen, ist nicht geklärt.


    Wie man sieht gibt es nicht nur Opernverunstalter, sondern Kunstbanausen durch alle Zeiten der Geschichte...


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich kann mich nicht erinnern, das bestritten zu haben.

    Dann helfe ich Dir ein wenig auf die Sprünge:


    c.) Bei der ersten Sinfonie Gustav Mahlers ist der letzte Satz aufgebläht, steht zwar in scharfem Kontrast zu den restlichen drei, liefert aber musikalisch zu wenig Neues.

    Genau dieses letzte Urteil ist - formal und semantisch betrachtet - Unsinn. Das musikalisch "Neue" ist eben die Verdichtung des bis dahin ungelösten dramatischen Konfikts, der sich durch den Kontrast der Sätze 1 und 2 zu 3 bereits konstituiert hat. Aus dem Nebeneinander wird ein hochexpressives Gegeneinander mit dem Versuch, die Gegensätze abschließend zu versöhnen. Die Länge des Satzes korrespondiert damit sehr genau mit seiner Bedeutung. Wenn es Dir hilft - zu dieser Symphonie gibt es einen Programmentwurf von Mahler selbst. Und dass es viel mäßige und unverständige Mahler-Kritik gibt, ist bekannt. Adorno, dessen Mahler-Kritik natürlich Niveau hat, kritisiert dagegen lediglich die Schlußapotheose als lärmende Positivität (was man wiederum mit guten Gründen kritisieren kann), aber eben nicht den ganzen Satz. Ganz abgesehen davon: Diese Musik mit ihren aufbrechenden tiefen Abgründen gehört zum psychologisch Genialsten, was die Musikgeschichte zu bieten hat. Und von wegen "Geschrei": Da kippt Romantik hochmodern um in Expressionismus: Munchs "Der Schrei" als Musik.


    Ansonsten: Nichts für Ungut! :hello:


    Wie man sieht gibt es nicht nur Opernverunstalter, sondern Kunstbanausen durch alle Zeiten der Geschichte...

    Da machst Du Dir es ein bisschen zu einfach. :D Das Beispiel Rembrandt zeigt, dass man eben Vieles, was man heute als autonomes und unantastbares Werk ansieht, in der Vergangenheit gar nicht als solches betrachtet hat. Kirchen wurden einfach den Erfordernissen der Zeit entsprechend umgebaut - Schlösser ganz oder teilweise abgerissen, um Neubauten Platz zu machen (Beispiel: die "Orangerie" von Schloß Benrath als "Rest" der alten Schloßanlage). Entsprechend hat man Opern über Jahrhunderte nach dem Baukastenprinzip den jeweiligen Bühnenverhältnissen entsprechend umgebastelt. Die polemische Bezeichnung "Opernverunstalter" ist hier schlicht und einfach eine völlig unhistorische Projektion von modernen Maßstäben von "Werktreue", die es im 17., 18. oder 19. Jhd. gar nicht gab. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Es lohnt doch nicht sich über anders geartete Meinungen so aufzuregen - und dann seine als das einzig Wahre darzustellen - Jeder hat halt andere Empfindungen !


    Aber um hier von "Kann ein Stück zu lang sein" zu schreiben muss man schon Beispiele nennen.


    Hier mein Beispiel für "zu lang":
    Ich schätze ja den Komponisten Allan Pettersson sehr - aber einige Sinfonien sind doch deutlich zu lang geraten. Dann gehen oft auch noch einige Sätze in einander über und werden (bei den cpo-Aufnahmen) nicht mal durch CD-Tracks getrennt. :D Weiterzappen ausgeschlossen :D


    Der Komponist hatte ja auch zeitlebens mit schweren seelische Problemen zu kämpfen. Dies drückt er deutlichst in seiner Musik aus. Aber als Hörer will und kann man sich dieser unsäglichen Schwermut nicht immer anpassen. Das mag man einfach nicht immer in diesen Wahnsinns - Längen miterleben; ja, das geht sogar aufs eigene Gemüt !
    Viele Sätze in seinen Sinfonien empfinde ich als deutlich zu lang - da wartet man (übertrieben gesagt) Stunden bis sich mal etwas erbauliches mit Aha-Erlebnis tut.
    Wenn ich Musik höre möchte ich mich auch daran erfreuen und so wie Bertarido an anderer Stelle mit anderem Zusammenhang schreibt - Musik hören "die auf der Stuhlkante musiziert ist oder mich beim Hören vom Stuhl reißen". Hier wird es doch oft sehr langatmig ohne das da überhaupt was "vom Stuhl Reissendes" vorkommt ... (möchte jetzt auch keine konkreten Beispiele nennen, aber die Sinfonie Nr.10 finde ich absolut ungeeignet auch nur im mindesten etwas auszusagen, woran man Hörspass bei empfinden könnte ... ).


    Der Komponist hat es im Prinzip durch seine seelische Verfassung schwer in einigen seiner Werke überhaupt viele Hörer zu erreichen. Diese Stimmung einer Anti-Musik lässt sich keiner gerne in diesen Längen aufzwingen.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Nun habe ich den Satz noch zweimal so aufmerksam gehoert, wie es mir moeglich ist, obgleich ich ihn in- und auswendig "kann".


    Das musikalisch "Neue" ist eben die Verdichtung des bis dahin ungelösten dramatischen Konfikts, der sich durch den Kontrast der Sätze 1 und 2 zu 3 bereits konstituiert hat.


    Gut, Du argumentierst auf einer anderen Ebene als ich. Mit "musikalisch Neues" meinte ich allein das musikalische Material: Der Satz lebt sehr stark vom musikalischen Material des ersten, das für meine Ohren nur wenig verändert wiederkehrt (Hörst Du auch Anklänge aus den anderen Sätzen?) Der Wirbel vor dem gewaltigen Hörnereinsatz am Ende des ersten Satzes leitet im vierten kurz vor der Schlussapotheose in das Titan-Motiv über, wie ich es nenne. Auch das (für meine Ohren ziemlich einfach gestrickte) Glockenmotiv aus dem ersten Satz hat im vierten seine dramatische Funktion. Wunderbar, und wirklich für meine Begriffe hinreißend ist die lyrische Oase des Seitenthemas. Ich hatte ja nicht gesagt, dass es gar nichts "Neues", Interessantes gäbe. Es ist klar, dass sich ein Gegensatz aus den Sätzen 1,2 < --- > 3 zusammengebraut hat, der gelöst werden soll. Allein aber das klingt für meine Ohren nicht überzeugend.


    Alles, was sich um das Hauptthema herum bewegt, wirkt auf mich schroff, grell und --- ich gebe es zu --- gewollt. Zerrissen sicherlich. Aber das "tief verwundete Herz" ist mir zu hoch gegriffen. Man kann Josef Suks "Asrael" op. 27 sicherlich Einiges vorwerfen. Aber das ist für meine Begriffe wesentlich erschütternder und klanglich um ein Vielfaches interessanter, farbiger. I can't help.


    Wenn es Dir hilft - zu dieser Symphonie gibt es einen Programmentwurf von Mahler selbst.


    Leider nein. Mir helfen Programmentwürfe nur sehr selten, da sie ein Zusatz sind. Wenn man mit der Musik erst etwas anfangen kann, wenn man das Programm kennt, stimmt mit einem selbst etwas nicht, oder mit der Musik. Aber es ist ja gleich, wenn der Funke nicht überspringt. Mahler hat das Programm ja ohnehin zurückgezogen und damit sozusagen für ungültig erklärt.


    Und dass es viel mäßige und unverständige Mahler-Kritik gibt ...


    Das Zitat stammte von Michael Gielen.


    Adorno, dessen Mahler-Kritik natürlich Niveau hat ...


    Ich kenne leider die Mahler-Kritiken von Adorno nicht, vielleicht deswegen, weil ich zu viel Sibelius-Kritiken von ihm gelesen habe, bei denen nicht allzu viel von Niveau zu spüren ist. Die Schlussapotheose stört mich nicht weniger und nicht mehr als das restliche "Titanen-Geschrei (für meine Ohren)". Es ist nicht befreiend, womit offen bleibt, ob die Versöhnung tatsächlich gelungen ist, oder mit dem Brecheisen erzwungen wurde, was ja eine gute Idee ist.


    Und nun sollte es doch klar sein, worauf ich hinaus will: Ein "zu lang" gibt es nicht. Was für den Einen zu lang ist, hat für den Anderen genau die richtige Länge. Für mich ist die "Bedeutung" nebensächlicher als das, was ich mit "musikalischem Gehalt" (für meine Ohren) nur vage umschreiben kann. Der "Schrei" als Musik -- naja, ich weiss nicht. Bei dem "Schrei" von Munch höre ich auch das, was nach dem Schrei kommt: Und das ist nicht unbedingt lärmend.


    Diese Musik mit ihren aufbrechenden tiefen Abgründen gehört zum psychologisch Genialsten, was die Musikgeschichte zu bieten hat. Und von wegen "Geschrei": .


    Das ist ziemlich suggestiv. Für Dich und für viele, viele Andere mag es so sein, und das ist doch auch das Interessante. Aber das heißt noch lange nicht, dass Ihr "Recht" habt, genau so wenig wie ich.


    Aber -- wie Du sagtest -- nichts für ungut :hello:


    Gruesse von Heiko

    Heiko Schröder
    Ahrensburg


    "Wer sich im Ton vergreift, sucht nur in den glücklichsten Fällen nach neuen Harmonien."

  • Gut, Du argumentierst auf einer anderen Ebene als ich. Mit "musikalisch Neues" meinte ich allein das musikalische Material: Der Satz lebt sehr stark vom musikalischen Material des ersten, das für meine Ohren nur wenig verändert wiederkehrt (Hörst Du auch Anklänge aus den anderen Sätzen?)

    Von Carl Dahlhaus gibt es einen sehr instruktiven Aufsatz über das Problem der "Finalsymphonien", eine Entwicklung in der Romantik, die bei Mahler kulminiert. Die Verschiebung des Zentrums der Symphonie vom Kopfsatz auf das Finale geht einher damit, dass die Mittelsätze zu Intermezzi werden und an die Stelle der proportionalen und ästhetischen Korrespondenzen thematische Verklammerungen zwischen den Sätzen treten. Dass Mahlers Finale sich mit Material aus dem ersten Satz beschäftigt, ist also kein Wunder. Das Finale "sammelt" gewissermaßen die Gedanken aus den vorangegangenen Sätzen, um ihren Konflikt auszutragen. Alles ist sozusagen als "Vorbereitung" für das Finale komponiert.


    Auch das (für meine Ohren ziemlich einfach gestrickte) Glockenmotiv aus dem ersten Satz hat im vierten seine dramatische Funktion.

    Du meinst das Quartenmotiv. Das ist ganz bewußt einfach gestrickt, weil es den Ausdruck des Ungekünstelten und Naturhaften haben soll.


    Alles, was sich um das Hauptthema herum bewegt, wirkt auf mich schroff, grell und --- ich gebe es zu --- gewollt. Zerrissen sicherlich. Aber das "tief verwundete Herz" ist mir zu hoch gegriffen. Man kann Josef Suks "Asrael" op. 27 sicherlich Einiges vorwerfen. Aber das ist für meine Begriffe wesentlich erschütternder und klanglich um ein Vielfaches interessanter, farbiger. I can't help.

    Ich mag auch den Suk sehr. Doch man kann Suk und Mahler einfach nicht vergleichen - Mahler tendiert zum Expressionismus und Suk in Richtung Jugendstil. Das ist schlicht eine ganz andere Ästhetik.


    Leider nein. Mir helfen Programmentwürfe nur sehr selten, da sie ein Zusatz sind. Wenn man mit der Musik erst etwas anfangen kann, wenn man das Programm kennt, stimmt mit einem selbst etwas nicht, oder mit der Musik. Aber es ist ja gleich, wenn der Funke nicht überspringt. Mahler hat das Programm ja ohnehin zurückgezogen und damit sozusagen für ungültig erklärt.

    Die Diskussion über "Programmmusik" zu Mahlers Zeiten war vertrackt und sehr polemisch. Daher auch Mahlers Skrupel. Mahler ist aber kein Anhänger von "absoluter Musik", sondern steht auf der Seite von Liszt, dem "Erfinder" der Gattung "Symphonische Dichtung", wonach die Form Ausdruck eines Inhalts ist und die dazu gehörenden Programme die Funktion von Wegweisern haben, den poetischen Gehalt zu erschließen. Den 1. Satz der 2. Symphonie hat Mahler ja auch als Symphonische Dichtung mit dem Titel "Totenfeier" veröffentlicht. Von dieser Grundauffassung ist Mahler nie abgerückt - die Programme der Symphonien 1-4 sind daher Ernst zu nehmen. Die Musikwissenschaft hat da doch inzwischen etliche hoch interessante Belege für programmatische Bezüge gefunden. Besonders bei der 1. ist es hilfreich, sich auf die verwendeten Lieder zu beziehen. Nicht zuletzt daran sieht man, dass der "programmatische" Bezug einkomponiert ist.


    Das Zitat stammte von Michael Gielen.

    Noch extremer äußert sich Hanslick: Entweder ich bin verrückt oder Mahler. Bei Bruckner lassen sich auch jede Menge solcher von Unverständnis geprägte prominente Äußerungen finden, aber dadurch werden sie nicht richtiger. Es genügt ein Blick in die umfangreiche musikwissenschaftliche Literatur, dass solche Meinungen letztlich der sachlichen Grundlage entbehren. Das Problem liegt hier also nicht bei Mahler, sondern dem Mahler- und Musikverständnis mancher Exegeten.


    Die Schlussapotheose stört mich nicht weniger und nicht mehr als das restliche "Titanen-Geschrei (für meine Ohren)". Es ist nicht befreiend, womit offen bleibt, ob die Versöhnung tatsächlich gelungen ist, oder mit dem Brecheisen erzwungen wurde, was ja eine gute Idee ist.

    Mahler selbst sagt zum apotheotischen D-Dur-Akkord, er müsse klingen, als sei er "vom Himmel gefallen". In der Mythologie ist die Apotheose die titanische Erhebung des Menschlichen ins Göttliche durch eine göttliche Handlung. Aus eigener Kraft kann dem verzweifelten Menschen die Versöhnung also nicht gelingen, sie geschieht durch eine quasi "übernatürliche" Gewalt "von oben". Dem entspricht auch die Orchestrierung, der "Lärm" ist Ausdruck einer über das musikalische Subjekt hereinbrechenden Urgewalt, die den Menschen salopp gesprochen aus seinem Schlamassel herausreißt. Mit Blick auf die späteren Symphonien Mahlers kann man allerdings sagen, dass diese "Lösung" der 1. Symphonie eine gewisse jugendliche Naivität behält - Mahler und seine Musik werden da doch immer skeptischer. Das als hohlen Lärm zu verdächtigen ist aber schlicht eine Verkennung des Sinnes dieser Apotheose - behaupte ich selbst gegen Adorno und glaube auch, das zeigen zu können. Ob man diese Mahler-Symphonie mag, ist freilich eine persönliche Angelegenheit. Davon abgesehen wäre aber festzustellen, dass das Aufregende dieser Musik gerade ist, dass sie sich traut, Verzweiflung, die bis zum Aufschrei geht, auch musikalisch auszusprechen. Da fällt ein "Tabu" - was typisch ist für moderne Kunst. Was erregte das "Eisenwalzwerk" von Adolph Menzel für einen Skandal - unmöglich kann man so etwas malen, lautete die zeitgenössische Kritik! Bevor man also Mahlers Musik als hohlen Lärm verdächtigt, sollte man das bedenken. Das "Elementare" in seiner ungezähmten Urgewalt so rücksichtslos und ungeschminkt in Musik umzusetzen, weist voraus auf Schönberg, Strawinsky und Andere. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Wenn einem Mahlers Erste gehört zu lang ist: Hier ist sie in neun Emojis als Teil eines Musikrätsels der NMZ, bei dem die Leser anhand der Piktogramme die einzelnen Sinfonien zuordnen sollten:



    Erklärung hier.


    Nur so zur Auflockerung eures fachlichen Disputs.


    Herzliche Grüße


    Christian

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Meiner Ansicht nach zeigt sich bei der Diskussion über das Mahler-1-Finale die im Eingangsbeitrag erwähnte Schwierigkeit: Es ist kaum möglich "zu lang" zu urteilen, ohne gleichzeitig über viele andere Aspekte der Musik. "Nur zu lang, sonst ganz toll" ist schwierig...


    Für mich liegt das Problem dieses Finales eher darin, dass es *zu wenig* mit den vorhergehenden Sätzen zu tun hat. Es wirkt, ungeachtet der Zitate beinahe wie ein völlig neuer Anlauf, ein ganz eigenständige sinfonische Dichtung, auf die die vorhergehenden drei Sätze schlecht vorbereiten. (Das spiegelte sich auch in den ursprünglichen Satztiteln.) Meinem Eindruck nach ein Einzelfall in den Mahler-Sinfonien. Zu lang ist es m.E. nicht absolut gesehen, aber ich finde die 2. Hälfte stellenweise dramaturgisch unplausibel, weil das Triumph/Choral-Thema eigentlich zu früh kommt und dann nochmal eine Rücknahme erfolgen muss (und die Steigerungen danach teils äußerlich und hypertroph)

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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