Lange Überlegungen und so manches Gespräch haben mich zu der Idee bewegt, diesen Thread zu starten.
In der Musikgeschichte gibt es zwei revolutionäre Momente des Stilwandels:
Den Umbruch um das Jahr 1600, wo sich die Musik von der horizontal getragenen Polyphonie hinwendet zu einer generalbass- (also harmonie-)gestützten Struktur. Für Jahrhunderte ist fortan eine Melodie nicht ohne (zumindest vom Hörer mit gedachten) Bass denkbar.
Um die Wende zu 20. Jahrhundert vollzog sich (freilich lange vorbereitet) die Wende des Stilangebots in die Atonalität. Viele Komponisten verwarfen teils oder gänzlich die bisher geltenden Regeln des Zusammenklangs.
Ich beobachte anhand meiner Hörvorlieben schon lange einen weiteren, doch eher unscheinbar vor sich gegangenen Wendepunkt, der etwa um das Jahr 1800 eintritt. Meiner Meinung nach [und in diesem Thread werden wir akzeptieren müssen, dass vieles nur auf subjektiver Ebene darstellbar ist] hat sich die Gefühlsqualität der Musik etwa ab Franz Schubert grundlegend geändert. Sehr vereinfacht meine ich, dass Musik bis etwa Mozart (dies ist jetzt wirklich sehr simplifiziert dargestellt und erwähnt sehr werh viele Schattierungen und Unterschiede NICHT) eine Art übergeordneter Gefühlswelt repräsentiert, die dem Hörer reichlich Spielraum lässt für eigene Erfahrungen und Empfindungen. Seien diese vielleicht bildlich oder anders persönlich oder unpersönlicher, vielleicht auch religiöser oder philosophischer Natur.
Ab 1800 wird dieser Spielraum deutlich verkleinert. Man hat eine Musiksprache entwickelt, die äußerst präzise Gefühlsbeschreibungen erlaubt. Man wird vom Komponisten gleichsam in eine Emotion versetzt, die den Hörer packt, führt und geleitet, wohin eben der Schaffende es möchte. Es ist nicht nötig, eigenständig fühlen zu wollen, man muss sich nur dem Fluss der Musik anvertrauen.
Liebe Taminos,
Ausgangspunkt meiner Überlegungen war die Frage: "Was ist der grundlegende, gefühls-qualitative Unterschied in der Musik vor und nach 1800 ? Was macht in dieser Hinsicht Bach anders als Schubert ?"
Dass mit der Erweiterung der Harmonik in der Romantik feiner ziselierte emotionale Zustände geschildert werden können, ist evident. Schubert hatte es aufgrund der Musiksprache wohl wesentlich leichter als Bach, sein individuelles persönliches Leidensgefühl darzustellen. Doch konnte nicht Bach mit seinem Stil ganz andere Bereiche des Mensch-Seins ansprechen, die bei Schubert vielleicht zwischendurch durchschimmern, jedoch nicht im Vordergrund stehen? Und wie verhält es sich mit Bruckner, Mahler, Wagner? Gibt es hier den Spielraum für "übergeordnete Empfindungen"? Gibt es hier überhaupt Spielraum? Wie verhält sich hingegen Victoria, Händel, Haydn? Wenn es diesen Unterschied gibt, wie kann man ihn beschreiben? Woran kann man ihn festmachen?
Ein einziges Beispiel möchte ich zunächst nennen. Manche von Händels Opernarien sprechen von Zuständen des Leidens, die keiner von uns erleben würde wollen. Dennoch kann man diese Lamenti auch einfach als wunderschöne, sogar erhebende Musik hören. Dies ist in einer Winterreise undenkbar!
Ich hoffe ihr verzeiht mir, dass ich jetzt (auch aus Gründen der Beitragslänge) nur ansatzweise meine Überlegungen skizziert habe. Ich bin mir bewusst, hiermit auch sehr kontroversielle Meinungen anzuziehen und hoffe sehr, viele eurer Ansichten kennen lernen zu dürfen. (Ich wünsche mir allerdings sehr, dass sich hier keiner in die Haare gerät, sondern wir dies als förderliche Plattform des Gedanken- und Meinungsaustausches nutzen. ;))
Viele Grüße
Bachiania