Geht es um die "goldene Zeit" der großen Dirigenten, stellt man immer wieder fest, dass diese sich lange an das jeweilige Orchester banden.
Um nur einige berühmte Beispiele aus der Vergangenheit zu nennen:
- Jewgenij Mrawinskij: Leningrader Philharmonie (1938—1988) => 50 Jahre
- Willem Mengelberg: Concertgebouworkest (1895—1945) => 50 Jahre
- Eugene Ormandy: Philadelphia Orchestra (1936/38—1980) => 42/44 Jahre
- Herbert von Karajan: Berliner Philharmoniker (1954—1989) => 35 Jahre
- Jewgenij Swetlanow: Staatliches Symphonieorchester der Sowjetunion/Russländischen Föderation (1965—2000) => 35 Jahre
- Günter Wand: Gürzenich-Orchester (1946—1974) => 28 Jahre
- Sir John Barbirolli: Hallé Orchestra (1943—1970) => 27 Jahre
- Leopold Stokowski: Philadelphia Orchestra (1912—1938/41) => 26/29 Jahre
- Hans Schmidt-Isserstedt: N(W)DR-Sinfonieorchester (1945—1971) => 26 Jahre
- Kurt Masur: Gewandhausorchester Leipzig (1970—1996) => 26 Jahre
- Wilhelm Furtwängler: Berliner Philharmoniker (1922—1945 und 1952—1954) => 25 Jahre
- Serge Koussevitzky: Boston Symphony Orchestra (1924—1949) => 25 Jahre
- George Szell: Cleveland Orchestra (1946—1970) => 24 Jahre
- William Steinberg: Pittsburgh Symphony Orchestra (1952—1976) => 24 Jahre
- Sir Georg Solti: Chicago Symphony Orchestra (1969—1991) => 22 Jahre
- Václav Neumann: Tschechische Philharmonie (1968—1989) => 21 Jahre
- Christoph von Dohnányi: Cleveland Orchestra (1984—2002) => 18 Jahre
- Rafael Kubelík: Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (1961—1979) => 18 Jahre
- Arturo Toscanini: NBC Symphony Orchestra (1937—1954) => 17 Jahre
- Sergiu Celibidache: Münchner Philharmoniker (1979—1996) => 17 Jahre
- Esa-Pekka Salonen: Los Angeles Philharmonic (1992—2009) => 17 Jahre
- Otto Klemperer: (New) Philharmonia Orchestra (1959—1973) => 14 Jahre
In eigentlich allen genannten Fällen gelten die jeweiligen Amtszeiten als Glanzpunkte in der Geschichte der jeweiligen Orchester. Man könnte die Reihe noch lange fortsetzen.
In der heutigen Zeit wurde es seltener, dass sich Dirigenten länger als ein Jahrzehnt an ein Orchester binden. Sir Simon Rattle wird bei den Berliner Philharmonikern auf immerhin 16 Jahre kommen, genauso lange wie Jonathan Nott bei den Bamberger Symphonikern. Man muss schon lange suchen, will man heutzutage noch längere Amtszeiten finden.
Den heutigen Rekord dürfte Nikolaus Harnoncourt halten, der seit 1953 dem Concentus Musicus Wien vorsteht. Gewiss, eher ein Sonderfall. Sehr lange, nämlich bereits seit 1968, leitet Zubin Mehta das Israel Philharmonic, zunächst als musikalischer Berater, seit 1977 auch als Musikdirektor. Rekordverdächtig auch James Levine, der das Met Orchestra seit 1972 (Chefdirigent) bzw. 1976 (Musikdirektor) hat. Iván Fischer kommt beim Budapest Festival Orchestra derzeit auch auf stolze 32 Jahre, Seiji Ozawa beim Saito Kinen Orchestra auf 31 Jahre, Jurij Temirkanow bei der Sankt Petersburger Philharmonie auf 26 Jahre und Michael Tilson Thomas beim San Francisco Symphony immerhin auf 20 Jahre.
Trotzdem: Solch lange Amtszeiten sind mittlerweile die Ausnahme denn die Regel. Ist eine lange Verweildauer eines Dirigenten bei einem Orchester also automatisch ein Qualitätsgarant? Diese Frage dürfte überwiegend bejaht werden. Dennoch gibt es auch Ausnahmen. In Boston denkt man eher mit Unbehagen an die letzten Jahren unter Ozawa zurück, der das Orchester 29 Jahre lang, von 1973 bis 2002, leitete.
Damit sich eine Marke wie "Berliner Philharmoniker & Karajan","Philadelphia Orchestra & Stokowski" oder "Cleveland Orchestra & Szell" überhaupt entwickeln kann, braucht es scheinbar einfach Zeit. Die drei genannten Orchester werden noch heute, Jahrzehnte danach, fast automatisch mit den jeweiligen omnipräsenten Orchesterleitern verbunden. Alle, die danach kamen, mussten sich an ihnen messen — und scheiterten im Bewusstsein vieler am übermächtigen Vorbild, ob sie nun Abbado, Ormandy oder Welser-Möst hießen.
Was denkt ihr? Wäre es besser, wenn sich Dirigenten (und Dirigentinnen) wieder vermehrt auf ein einziges Orchester konzentrierten und diesem möglichst lange vorstünden?