Dieser Thread will den für einen musikwissenschaftlichen Laien zweifellos vermessenen Versuch unternehmen, den Gründen nachzuspüren, die Arnold Schönberg kompositorisch in die Atonalität führten und zur Entwicklung des Konzepts der Dodekaphonie motivierten. Hierbei wird von der These ausgegangen, dass das Klavierlied es den Komponisten gegen Ende des Jahrhunderts ermöglichte, ein „spätes Primat der Subjektivität“ (H. Danuser) zu setzen und ihnen, als noch stark der spätromantischen Tradition verhaftete Gattung, einen gleichsam kleinen und überschaubaren Ort bot, kompositorisch zu experimentieren und neue musikalische Ausdrucksmittel zu entwickeln und zu erproben.
Die bei Schönberg Anfang der neunziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts einsetzende, bis zum Jahr 1909 andauernde, im Opus 15 („Das Buch der hängenden Gärten“) gleichsam kulminierende und danach endende und nur noch mit einem späten „Nachklang“ versehene Klavierlied-Komposition bildet seine kompositorische Entwicklung tatsächlich in allen ihren Stufen ab, - im Miniformat sozusagen. Insofern lohnt es sich also, sein Liedschaffen ein wenig näher unter die Lupe zu nehmen, in der Hoffnung, dort nicht nur diese Entwicklung in ihrem musikalisch materialisierten Niederschlag fassen zu können, sondern vielleicht sogar, eben weil das Lied wie keine andere Gattung sonst das Medium für die Artikulation von Subjektivität ist, auf die Ebene der Motive vorzustoßen.
Schönbergs kompositorisches Schaffen ist wesenhaft sprachorientiert und -initiiert. Nicht nur seine ersten Kompositionen als Autodidakt lassen das erkennen, eben weil es Lieder waren, - im Gesamtkatalog seiner Werke haben Textkompositionen ein deutliches Übergewicht. Bis hin zu Opus 22 finden sich in diesem Katalog nur fünf Werke, die keinen wie auch immer gearteten Textbezug aufweisen. Nicht nur sein umfangreiches Klavierlied-Schaffen, auch das kammermusikalische und orchestrale lassen diese gleichsam fundamentale kompositorische Ausrichtung auf lyrische Sprache und Auseinandersetzung mit ihr erkennen. Das geht so weit, dass in das zweite Streichquartett in fis-Moll (op.10) die melodische Linie auf zwei Gedichte von Stefan George integriert wurde. Und bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass sich zwischen dem ersten Streichquartett op.7 und den Liedern op.6 deutlich ausgeprägte stilistische Zusammenhänge aufzeigen lassen.
In vielfältiger Weise hat sich Schönberg über den originären Sprachbezug seiner Musik geäußert. So etwa in dem Aufsatz „Das Verhältnis zum Text“, den er 1912 in Kandinskys „Der Blaue Reiter“ (S.27-33) publizierte. Höchst aufschlussreich ist diesbezüglich auch sein zur gleichen Zeit geäußertes briefliches Bekenntnis Richard Dehmel gegenüber:
„Denn Ihre Gedichte haben auf meine musikalische Entwicklung entscheidenden Einfluß ausgeübt. Durch sie war ich zum ersten Mal genötigt, einen neuen Ton in der Lyrik zu suchen. Das heißt, ich fand ihn ungesucht, indem ich musikalisch widerspiegelte, was Ihre Verse in mir aufwühlten.“
In diesem letzten Satz ist Schönbergs liedkompositorisches Konzept, das das Verhältnis von lyrischem Text und Musik anbelangt, auf den Punkt gebracht. Es ist freilich ein Konzept, das er erst auf dem Höhepunkt seiner Liedkomposition voll umsetzte. In deren Anfängen orientierte er sich zunächst stark an Johannes Brahms, bevor er auf die „neudeutsche Linie“ umschwenkte und sich Richard Wagner zum Vorbild nahm. Liedkomposition verstand er in eben diesen Anfängen noch primär als Umsetzung des lyrischen Textes in Musik, im Sinne einer unmittelbar dessen Struktur folgenden Interpretation seiner Aussage und Metaphorik. Seinem im Grunde expressionstischen Grundhabitus als Komponist konnte dies freilich nicht genügen. Und so bildete sich langsam aber höchst konsequent jene liedkompositorische Grundhaltung heraus, die in jenem Brief an Dehmel zum Ausdruck kommt und daraus hinausläuft, den lyrischen Text als Initialzündung und strukturierenden Faktor für eine sich eigenständig entfaltende Musik zu verstehen.
In Schönbergs eigenen Worten, die im Anschluss an das als „Erlebnis“ bezeichnete Beschäftigung mit Schuberts Liedkomposition niederschrieb, liest sich das so:
„Noch entscheidender als dieses Erlebnis war mir die Tatsache, daß ich viele meiner Lieder, berauscht nur von dem Anfangsklang der ersten Textworte, ohne mich auch nur im geringsten um den weiteren Verlauf der poetischen Vorgänge zu kümmern, ja ohne diese im Taumel des Komponierens auch nur im geringsten zu erfassen, zu Ende geschrieben und erst nach Tagen darauf kam, nachzusehen, was denn eigentlich der poetische Inhalt meines Liedes sei. Wobei sich dann zu meinem größten Erstaunen herausstellte, daß ich niemals dem Dichter voller gerecht geworden bin, als wenn ich, geführt von der ersten unmittelbaren Berührung mit dem Anfangsklang, alles erriet, was diesem Anfangsklang eben offenbar mit Notwendigkeit folgen mußte. Mir war daraus klar, daß es sich mit dem Kunstwerk so verhalte, wie mit jedem vollkommenen Organismus. Es ist so homogen in seiner Zusammensatzung, daß es in jeder Kleinigkeit sein wahrstes, innerstes Wesen enthüllt. Wenn man einen Vers von einem Gedicht, einen Takt von einem Tonstück hört, ist man imstande, das Ganze zu erfassen.“
Das ist zwar eine doch wohl ein wenig überspitzte Sicht auf das „Verhältnis (der Musik) zum Text“, und überdies eine, die gleichsam aus der Retrospektive erfolgte, denn 1912 hatte Schönberg die Liedkomposition im wesentlichen hinter sich gelassen, aber sie bringt gerade in dieser Zuspitzung das liedkompositorische Konzept, wie es sich aus den Anfängen seines Liedschaffens allmählich entwickelte und in den Opera 14 (zwei Lieder), 15 („Das Buch der hängenden Gärten“) und dem „Nachzügler“ 48 (drei Lieder) seine volle Ausbildung erreichte. Liedkomposition versteht sich dabei nicht, wie dies bei Hugo Wolf der Fall ist, als Auslotung der semantischen Tiefendimension des lyrischen Textes mit musikalischen Mitteln, sondern als Fortschreibung des aus der Begegnung mit dem lyrischen Text hervorgehenden „Anfangsklangs“, der, weil er gleichsam den Kern der lyrischen Aussage erfasst hat, sich autonom, das heißt den eigenen musikalischen Gesetzen folgend, entwickeln und entfalten kann und gleichwohl immer die Nähe zur dichterischen Aussage wahrt.
Das heißt aber nun nicht, dass in diese Lied-Musik kein subjektiver, emotional konditionierter Ausdruckswille einginge. In einem Brief an Leo Feld (14.1.1915) bekennt Schönberg, dass es oft vorkomme, dass er einen „Inhalt musikalisch spüre“ und dann „nach einer Dichtung“ suche, „die es zulässt, ihn auszudrücken; und wenn ich die nicht finde, dann muß ich selbst armselige Worte aneinanderreihen, die mir Platz für meine Musik lassen“. Der Schönberg- Biograph (und Alban Berg-Schüler) Willi Reich trifft das Wesen der Liedkomposition Schönbergs wohl recht genau, wenn er darauf hinweist, dass dieser Lyrik als ein Mittel des musikalisch „unmittelbaren Ausdrucks“ verstand, und dass das Lied, das daraus hergeht, als gleichsam materialisierter Niederschlag eines seelischen „Notschreis“ aufzunehmen ist. Der Musikologe Paul Bekker sprach 1922 im Hinblick auf Schönbergs Liedschaffen als von „Bekenntnismusik intimster Art“.
Dem von der Tradition der Liedkomposition, wie sie etwa Johannes Brahms vertrat, her kommenden Hören mag das verwunderlich erscheinen, wirken doch die Lieder, die man zu Recht als typische Schönberg-Werke versteht, die aus dem „Buch der hängenden Gärten“ also, in gar keiner Weise geprägt von herkömmlich-klanglicher Emotionalität, sondern begegnen einem eher im Gewand einer ganz eigenen klanglichen Kühle. Hierbei ist aber der der spezifische musikästhetische Ansatz zu bedenken, von dem Schönberg ausging. Er ist ein wesenhaft expressionistischer, der ihn eigentlich ganz konsequent dazu führen musste, die Liedsprache des von ihm so sehr geschätzten Johannes Brahms zu transzendieren, - hin zu einer, die die tonale Führung der melodischen Linie verlässt und in die „Emanzipation der Dissonanz“ mündet.
Darauf wird später noch näher einzugehen sein, wobei im Hintergrund immer zu beachten sein wird, dass Schönbergs Lied-Ästhetik in einer für ihn ganz typischen Weise geprägt ist von dem Neben- und Ineinander von klanglich-musikalischer Expressivität und hochgradig artifizieller Anlage der Komposition.