Da es mir inzwischen gelungen ist, eine der drei CDs mit den Streichquartetten von Vissarion Shebalin zu beschaffen, möchte ich hier einen neuen Thread zu diesem Komponisten starten. Eine Biographie zu verfassen ist - wie ich gerade feststellen durfte - gar nicht nötig, denn Ex-Tamino Holger Sambale hat das schon in idealer Manier getan. Ich erlaube mir, seinen Beitrag hierher zu holen. Schade übrigens, dass er nicht mehr hier schreibt, wir haben ziemlich viel gemeinsame Interessen.
Alles anzeigenAn erster Stelle aber ein paar Informationen zum Lebensweg Schebalins.
Wissarion Jakowlewitsch Schebalin
Omsk, 11. Juni 1902 - Moskau, 28. Mai 1963
Schebalin wurde im sibirischen Omsk geboren; sein Vater war Lehrer an einer landwirtschaftlichen Schule, seine Mutter gab an einer Pfarrschule Unterricht. Schebalin wuchs in einem durchaus musischen Umfeld auf; er interessierte sich für Poesie und kam mit Musik (insbesondere Kammermusik) in Berührung. Nach Beendigung seiner Schullaufbahn begann er ein Studium an der Landwirtschaftlichen Akademie in Omsk, das er allerdings bald in Zusammenhang mit einer schweren Erkrankung abbrach. Stattdessen fand er kurzzeitig eine Stelle als Bilbiothekar der Staatlichen Oper Sibiriens an. In diesen Jahren, verhältnismäßig spät also, schrieb er seine ersten Kompositionen und besuchte ab 1921 das Musikkolleg von Omsk. Sein dortiger Lehrer machte ihn unter anderem mit neuester sowjetischer Musik bekannt, und insbesondere die Werke Nikolai Mjaskowski hinterließen bei Schebalin einen tiefen Eindruck.
Im Herbst 1922 begegnete Schebalin Mjaskowski zum ersten Mal. Bei dieser Gelegenheit stellte er ihm einige seiner Kompositionen vor, die Mjaskowskis Anerkennung fanden. Ab 1923 studierte Schebalin am Moskauer Konservatorium bei Mjaskowski, dessen Unterricht ihn nach eigener Aussagen nicht nur in musikalischer Hinsicht stark prägte. 1928 erhielt er sein Diplom mit höchsten Auszeichnungen; sein Prüfungswerk war seine Erste Sinfonie, die bereits 1926 mit großem Erfolg uraufgeführt worden war. Anschließend promovierte Schebalin und nahm selbst eine Lehrtätigkeit am Moskauer Konservatorium auf.
Aus dieser Zeit stammen viele wichtige Bekanntschaften in Schebalins Leben: sein Lehrer Mjaskowski wurde mit der Zeit zu einem Freund, der ihn in seinen Bekanntenkreis einführte. Weiterhin machte er mit dem jungen Schostakowitsch Bekanntschaft, mit dem er sein Leben lang befreundet blieb. Die beiden Komponisten unterhielten einen regen Briefwechsel, der nur zum Teil überliefert ist: Schostakowitsch pflegte seine Korrespendenz stets zu vernichten; nur Schebalins letzter Brief ist erhalten. Schostakowitschs Briefe an Schebalin hat jener dagegen sorgfältig aufbewahrt. Krzysztof Meyer überliefert, dass Schostakowitsch in seinem Arbeitszimmer die Bilder dreier Komponisten hängen hatte, nämlich Mahler, Mussorgski und Schebalin. Auch den Musikwissenschaftler Iwan Sollertinski lernte Schebalin in dieser Zeit kennen. In den 1930ern begann er außerdem, verstärkt Bühnen- und Filmmusik zu komponieren, insbesondere arbeitete er intensiv mit Wsewolod Meyerhold zusammen, der ihn sehr schätzte. Schebalin war zeitweilig Mitglied der Assoziation zeitgenössischer Musik, später des sowjetischen Komponistenverbandes.
In den 1930er Jahren wurde Schebalin Professor für Komposition am Moskauer Konservatorium, und seit 1942 war er Direktor des Konservatoriums. Seine Arbeit (nicht zuletzt in den schwierigen Kriegsjahren, in denen sich Schebalin nach Kräften um eine Aufrechterhaltung des Lehrbetriebs kümmerte) wird allgemein hoch geschätzt ("goldene Zeit des Moskauer Konservatoriums"). Überhaupt hat Schebalin eine bedeutende Rolle in der sowjetischen Musikhistorie gespielt, und das vor allem als Lehrer. Er unterrichtete unter anderem Edisson Denissow, Sofia Gubaidulina, Sergei Slonimski, Roman Ledenjow, Nikolai Karetnikow, Karen Chatschaturjan, Arno Babadschanjan, Tichon Chrennikow und nicht zuletzt den oben erwähnten Boris Tschaikowski. Es ist sogar so, dass seine kompositorischen Leistungen ein wenig in den Schatten seiner Tätigkeit als Pädagoge gerückt sind.
Im Jahre 1948 wurde Schebalin jedoch (im Rahmen der "Formalismus-Kampagne") öffentlich kritisiert und seiner Ämter enthoben. Über Schebalins Reaktionen habe ich unterschiedlich Angaben gelesen; das Spektrum reicht hier von leichtem Wiederspruch (was ja angesichts der Situation fast schon kühn zu nennen ist; gemäß Per Skans) bis hin zu Opportunismus und Denunziationen (Marina Lobanowa). Jedenfalls fand Schebalin am Institut für Militärmusik zeitweilige Möglichkeit, weiterhin Unterricht zu geben. An 1951 nahm er wieder seine Professur am Moskauer Konservatorium wahr. Im Jahre 1953 erlitt Schebalin einen Schlaganfall, infolgedessen er rechtsseitig gelähmt war und offenbar auch zumindest Sprachstörungen aufwies (nach Michail Segelman konnte er sogar überhaupt nicht mehr sprechen). Jedoch brachte er es sich bei, mit der linken Hand zu schreiben und war so nicht nur fähig, weiterhin zu komponieren (und zwar mit bewunderswerter Produktivität), sondern sogar schriftlich junge Komponisten zu unterrichten. Offensichtlich folgte im Jahre 1959 ein weiterer Schlaganfall, aber auch dieser brachte seine Kreativität nicht zum Erlahmen. Jedoch führte seine Krankheit dazu, dass er im Mai 1963 erst knapp 61-jährig starb.
Schebalins Musiksprache ist als Ganzes betrachtet eigentlich recht homogen. Ich erkenne keine substantiellen Unterschiede zwischen Früh- und Spätwerk, lediglich vielleicht eine etwas ruhigere, abgeklärte Ausdrucksweise in den Kompositionen aus seinen letzten Jahren. Ansonsten muss man Schebalin als recht konservativen, in der russischen Musiktradition fest verwurzelten Komponisten ansehen. Nicht umsonst hat Schebalin sich auch mit der Vervollständigung unvollendet hinterlassener Kompositionen etwa von Glinka und Mussorgski beschäftigt. Russische Folklore - zum Teil explizit zitiert, zum Teil in der melodischen Gestaltung eingeschmolzen - ist in seinem Schaffen immer wieder zu finden, sein Fünftes Streichquartett, das sogenannte "Slawische" aus dem Jahre 1942, für das Schebalin den Stalinpreis erhielt, baut zum Beispiel auf russischer, slowakischer, ukrainischer, polnischer und serbischer Folklore auf. Auch in der Sinfonietta, einem fröhlichen, vitalen Werk, finden sich russische Volksthemen unmittelbar wieder.
Wenn man ein großes Vorbild für Schebalin benennen sollte, müsste eindeutig der Name Mjaskowski fallen. Oft genug erinnert die Melodik, Harmonik und Rhythmik (man denke an Mjaskowskis oftmals charakteristisch sykopierte, sprunghaft gespannte Rhythmik) ganz klar an die Musik seines Lehrers, ohne freilich eine Stilkopie darzustellen. Schebalins Musik ist (neben einer etwas avancierteren Harmonik, allerdings auch wiederum nicht in allen Werken) vielleicht eine Spur extroviertierter als die seines Lehrers, wohl auch etwas farbiger (zum Beispiel hinsichtlich der Orchestration, die bei Mjaskowski ja insgesamt eher klassisch ist). Aber der grundsätzlich akademische Musikzugang, die Betonung des Handwerklichen und ein eher sachlicher Tonfall ist beiden Komponisten gemein. Zum Beispiel legte Schebalin großen Wert auf polyphone Gestaltung seiner Kompositionen.
Weitere, unterschiedlich stark ausgeprägte Einflüsse (dies differiert zum Teil auch von Werk zu Werk) sind der Neoklassizismus (die beiden Concertini op.14, oder neobarocke Einflüsse im Violinkonzert op.21) oder die Musik des Impressionismus - Schebalin bewunderte besonders in den 1920er Jahren die französische Musik, und etwa in den leicht elegisch-nebligen Anfangstakten der Zweiten Sinfonie meine ich eine impressionistische Farbgebung deutlich zu erkennen. Interessanterweise spielt die Musik seines Freundes Schostakowitschs im Schaffen Schebalins keine nennenswerte Rolle. Die bohrenden Rhythmen und den Sarkasmus Schostakowitschs finde ich in keinem der mir bekannten Werke Schebalins wieder, ein wenig eventuell in der Dritten Sinfonie, die aber auch stark auf Prokofjew verweist, übrigens zusammen mit dem Violinkonzert eines der modernsten Werke Schebalins. Im Violinkonzert finden sich (vor allem im ersten Satz) passagenweise sogar vorsichtige zwölftönige Elemente, wie Segelman bemerkt - allerdings ohne die Tonalität zu verlassen. In den wenig später entstandenen Streichquartetten ist davon aber wieder nichts mehr zu hören.
Schebalin hat auch propagandistische Werke komponiert, zu nennen wäre vor allem seine monumentale "Lenin"-Sinfonie nach Majakowski op.16 für Sprecher, Soli, Chor und Orchester. Ich habe dieses Werk erst kürzlich kennengelernt, den Impetus des ersten Satzes (rein orchestral) finde ich prachtvoll. Weiterhin ist seine Vierte Sinfonie, Mitte der 1930er Jahre entstanden, den "Helden von Perekop" gewidmet - Perekop ist eine Stadt auf der Krim, bei der die Rote Armee einen wichtigen Sieg im russischen Bürgerkrieg erringen konnte. In dieser Sinfonie zitiert Schebalin revolutionäre Lieder, unter anderem höre ich den Arbeitertrauermarsch "Unsterbliche Opfer" heraus. Allerdings ist eine große Anzahl von Schebalins Kompositionen nicht sujetgebunden.
Sein Oeuvre umfasst fünf nummerierte Sinfonien, deren 1925 komponierte Erste Mjaskowski, die 1962 entstandene Fünfte dessen Andenken gewidmet ist. Daneben gibt es vier Orchestersuiten, eine Sinfonietta, die erwähnte Lenin-Sinfonie, Ouvertüren, ein Violinkonzert, Concertini für Violine sowie Horn, Kantaten ("Moskau", 1946), Lieder und Chöre, zwei Opern ("Die Sonne über der Steppe" und "Der Wiederspenstigen Zähmung") sowie ein umfangreiches kammermusikalisches Oeuvre, in dessen Zentrum neun Streichquartette stehen, die sein gesamtes Schaffen umspannen (das erste von 1923, das letzte aus dem Todesjahr 1963), weiterhin Sonaten für diverse Instrumente, ein Streichtrio, ein Klaviertrio und so fort. Wenig davon ist auf CD erhältlich, Kurzstückmeister hat die CD mit dem Fünften und Neunten Quartett bereits genannt, außerdem hat Marie-Luise Neunecker das Hornconcertino eingespielt. Früher hatte Olympia alle Sinfonien und Streichquartette im Sortiment, die Quartette in sehr schönen neuen Aufnahmen mit dem damals noch blutjungen Krasni-Quartett (Studenten des Petersburger Konservatoriums der Jahrgänge 1977 bis 1980). Leider alles vergriffen, ich habe die entsprechenden CDs aber alle in meiner Sammlung.
Hinweisen möchte hier zum Schluss noch besonders auf mein persönliches Lieblingswerk, die Sinfonie Nr.5 C-Dur op.56, komponiert 1962. Wie bereits erwähnt ist dieses Stück dem Andenken Mjaskowskis gewidmet. Die Sinfonie steht in der Tradition russischer epischer Sinfonik, traditionell viersätzig und rund 30 Minuten lang. Die mir vorliegende Aufnahme stammt aus dem Jahre 1963, ein Live-Mitschnitt mit einem blendend aufgelegten Jewgeni Swetlanow am Pult. Die Sinfonie selbst ist in einem heiter-melancholischen Tonfall komponiert, strahl Gelassenheit und Souveränität ebenso wie höchst elegische, subtile Momente aus. Das chromatische Soloklarinettenthema vom Beginn ist recht charakteristisch und wird kurz vor Ende des vierten Satzes apotheotisch wiederholt, während das Ende des ersten Satzes bereits dasjenige des Schlusssatzes antizipiert. Zwischen den Ecksätzen steht eine Art "Nachtstück", an Mjaskowski gemahnend und unendlich traurig, sowie ein lebendiges, tänzerisches Scherzo. Das Finale lebt zunächst von einer ruhigen Heiterkeit, kecke, fröhliche Gesten scheinen auf. Im Verlauf mischen sich aber immer stärker melancholische (Moll-) Elemente in die Musik, und nach der erwähnten Wiederholung des Hauptthemas des ersten Satzes kommt es zu einer zauberhaften Coda voller Reminiszenzen, eine wundervolle Abend- (und Abschieds-) Stimmung, die zwischen C-Dur und c-moll pendelt und schließlich in friedlicher Stille entschwindet. Schon allein wegen dieser Mischung aus Bitterkeit und herbstlicher Schönheit eine meiner absoluten Lieblingssinfonien.
Viele Grüße
Holger
Ja, eine CD aus der erwähnten schon Seit langem vergriffenen GA des Krasni Quartetts nenne ich jetzt mein, die 3. Folge mit den Quartetten 6-8. Die 1. Folge habe ich gerade in USA bestellt, bei einem Einkaufspreis von € 0,49 sind die hohen Portokosten tragbar.
Die Quartette 6 und 7 bestätigen vieles, was Holger schreibt. Es sind klassisch viersätzige Werke, von 20-25 min Länge. SQ 6 entstand im Kriegsjahr 1943, SQ 7 im Katastrophenjahr 1948, aber der Gestus beider Werke ist eher optimistisch und fröhlich. Von der Verzweiflung eines Schostakowitsch ist hier nichts zu spüren. Nun könnte man diese Werke als irrelevant zur Seite legen, wenn sie denn nicht so wunderbare Musik enthielten. Auf die würde ich Zukunft ungern verzichten und ich könnte mir vorstellen, dass - richtig vermarktet - mit diesen Werken auch Geld verdient werden könnte. Die Aufnahmen klingen hervorragend und das Spiel des jungen Krasni Quartetts aus St. Petersburg ist bezwingend, wo sind diese Musiker abgeblieben? Also eine dicke Empfehlung, falls auch diese CDs mal über den Weg laufen, das ist russische Kammermusik vom Feinsten.
TAMRUSINFO