Das schwedische Kunstlied - von den Anfängen bis heute

  • Liebe Taminos,


    schon seit geraumer Zeit beschäftige ich mich, durch meine große Skandinavienaffinität, nicht nur mit den Orchesterwerken, sondern auch mit den Liedern der Nordländer. Mit den beiden großen Liederbüchern Fredmans epistlar mit 82 Liedern und Fredmans sånger mit 65 Liedern war Carl Michael Bellmann (1740-1795), der allerdings noch keinen nationalen Stil fand und sich musikalisch an der mitteleuropäischen Klangsprache orientierte, quasi der Erfinder des Kunstliedes in Schweden. Seine Lieder gehören heute zum Volksgut des Mittsommerlandes. Mit dem Einzug der romantischen Strömung in Schweden, wurde auch der Liedgesang immer populärer. August Söderman (1832-1876) war einer der ersten von den Komponisten, die den Versuch unternahmen ein nationale Tonsprache zu finden, was ihm auch teilweise gelang. Sein Einfluss auf die nachfolgenden Generationen ist nicht zu unterschätzen. Mit Wilhelm Stenhammar, Wilhelm Peterson-Berger und Emil Sjögren erreichte der romantische schwedische Liedgesang mit Vertonungen naturlyrischer Gedichte seinen Höhepunkt. Auch Hugo Alfvén, Ture Rangström, Gösta Nystroem, Gunnar de Frumerie, ebenso Allan Pettersson führten die Tradition mit ihren, dem romantischen Zeitgeist verpflichteten Werken, weiter, fanden aber expressivere Klänge.


    In diesem Thread sollen im Laufe der Zeit die wichtigsten schwedischen Liederzyklen abgearbeitet werden, ich dachte da vor allem an Nystroems Sånger vid havet (Lieder am Meer), Allan Petterssons Barfota sånger (Barfusslieder), Peterson-Bergers Gullebarns vaggsånger (Gullebarns Schlaflieder) aber auch an Einzellieder der oben genannten Komponisten. Über Beiträge von anderen Taminos wäre ich sehr glücklich - mal sehen was kommt!


    Herzliche Grüße
    Christian

  • Liebe Taminos,


    beginnen möchte ich an dieser Stelle mit meinem "Schlüsselwerk", welches mich für den Komponisten Nystroem und den Liedgesang allgemein begeistern konnte, vorstellen. Es handelt sich um einen Liederzyklus mit dem Titel Sånger vid Havet (=Lieder am Meer) aus dem Jahr 1942. Nystroem, der sein ganzes Leben lang vom Meer angezogen wurde, und in diesem eine große Inspirationsquelle fand, vertonte in diesem Zyklus fünf atmosphärische Gedichte ehemals bekannter schwedischer Dichter.


    Draußen in den Schären
    (Ebba Lindqvist)


    Ein Tag soll kommen,
    an dem der Wind still steht,
    an dem das Zittergras singt
    und die Sonne eingeschlafen ist.


    Dann werden wir dich rausfahren,
    zu den äußersten Inseln,
    lichtumflutet, sphärenleuchtend, haltend
    an der Brandung Schaum.


    Ein Tag soll kommen,

    an dem der Wind still steht,
    an dem das Zittergras singt
    und die Sonne eingeschlafen ist.


    Der Zyklus beginnt mit dem Lied Ute i skären (Draußen in den Schären), nach dem oben gezeigten Gedicht von Ebba Lindqvist, welches wie fast alle Lieder rezitativisch von der Sängerin vorgetragen wird. Geradezu perfekt fängt Nystroem die stille, sphärische Atmosphäre des Gedichts ein. Sehr langsam, still, mit viel Tiefe und schimmernden Arpeggien vertont er die erste Strophe, verdeutlicht er die windstille Nacht. In der zweiten Strophe ändert sich der Charakter, man fährt hinaus auf das Meer und auch die Musik kommt mehr in Bewegung. Lichtumflutend, harmonisch grell und lauter, wird es bis an der Brandung Schaum, den Nystroem mit einem harfenimitierenden Lauf und anschließenden Tremoli in den höchsten Lagen verdeutlicht. Entsprechen dem Gedicht wird der A-Teil nun wiederholt und klingt fast unhörbar aus.


    Nocturne

    (Edith Södergran)


    Silberschimmende Mondesnacht,

    blaue Wellen des Nacht,
    schimmernde Wogen ohne Zahl,
    auf einander folgen.


    Schatten fallen über den Weg,
    die Büsche des Strandes weinen sachte,
    schwarze Giganten
    des Strandes Silber hüten.


    Tiefe Stille in des Sommers Mitte,
    schlafe und träume -
    Der Mond scheint übers Meer,
    weiß und zärtlich.


    Mein persönliches Lieblingsstück des Zyklus ist die Nocturne, in welcher Nystroem die schimmende Mondesnacht durch grelle Akkorde (grell durch Dissonanz) in der Oberstimme darstellen lässt, die von einer ständigen Wellenbegleitung in d-Moll und a- Moll begleitet wird. Beim Einsatz des Wortes "weinen" werden die Akkorde immer dichter, härter, und werden nun von tragisch wirkenden, absteigenden Linien unterstützt. Doch dann die Stille - einen großen Dur-Septakkord lässt Nystroem noch spielen, bevor die Sängerin nach Belieben die Stille der Sommernacht schildert. Auch hier wird der A-Teil (1. Strophe) nun mit anderem Text wiederholt. Ein langes Nachspiel zeigt nur noch den glänzenden Schimmer des Mondes im Meer. Der Beobachter ist eingeschlafen...


    Lied des Meeres

    (Hjalmar Gullberg)


    Mit dem Lied des Meeres bin ich vertraut.
    Die Berge und Wälder sollen andere preisen.
    Vom Abend bis zur Morgendämmerung, im Schlaf und im Wachen
    mit des Strandes Wellen mein stets Herz schlägt.


    Freunden und Frau entsage ich.
    Doch das Lied des Meeres heilt meinen Schmerz.
    Und die Schiffe erreichen den Hafen und Schiffe zerschellen.
    Die Weise der Düne flüstert meinen Namen.


    Vom Anfang der Nacht höre ich seine Stimme,
    die das Wasser teilt und Licht erzeugt.

    Was kann mich schrecken? Hier bin ich Zuhause,

    in den Armen des Vaters im Rauschen des Meeres.


    Das einfachste Lied im Zyklus ist das Lied des Meeres, welches Nystroem in einer einfachen ABAB(C)-Form gestaltet hat und diesmal in der Singstimme kaum rezitativisch gehalten ist. Ein recht aufbrausendes Motiv, wieder wellenartig gestaltet (die Melodie bewegt sich in Sekunden auf und ab) leitet den A-Teil ein. Die Stimme singt eine recht eingängige Melodie, die im Klavier, fast volksliedhaft – natürlich wieder mit reibenden Akkorden – begleitet wird. Mit den Worten „Freunden und Frau entsage ich. Doch das Lied des Meeres heilt meinen Schmerz“, ändert sich der Charakter, der nun durch abfallendes, doch traurig wirkendes Motiv dargestellt ist. Dies wiederholt sich, bis die Stimme, das Meer als ihr Zuhause hinausrufend, wieder von wallenden Wogen aus dem Klavier begleitet wird.


    Ich habe ein Zuhause am Meer
    (Ragnar Jändel)


    Ich habe ein Zuhause am Meer.
    Einsam liegt es am Ufer, fern von Nachbarn
    wie ein Vogelnest zwischen den Bergen.


    Hier ist mein Zuhause, hier weil ich und arbeite.
    Hier vergesse ich mich und bin glücklich.
    Jeden Herbst bereite ich der Blumen Betten neu
    und treffe jeden Frühling auf der neuen Freunde Augen.


    Doch manchmal ist alles wie ein kindlicher Traum,
    und ich höre eine Stimme, stark und rufend:
    Wo bist du? Wo versteckst du dich?
    Niemals bist du hier Zuhause. Niemals ist dies deins.


    Ich habe ein Zuhause am Meer.
    Einsam liegt es am Ufer, fern von Nachbarn
    wie ein Vogelnest zwischen den Bergen.


    Das vierte Lied Jag har et hem vid havet ist der dramatische Höhepunkt des Zyklus. Das Klavier zeichnet von Beginn an eine ständige kleine Wellenbewegung in Vierteln an, die von der rechten Hand bald mit einem anderen Wellenmotiv überspielt wird und die stätigen Wogen am Haus nahe des Meeres verdeutlicht. Darüber berichtet die Stimme von ihrem Zuhause dort, von dem Meer, welches Leben und Tod zugleich ist. Die kleine Traumsequenz ist komplett rezitativisch gehalten und erhält durch ihre grell, dissonanten Orgelpunkte einen stark dramatischen Charakter, der seinen Höhepunkt in dem Ausruf der fremdem Stimme -
    Niemals bist du hier Zuhause. Niemals ist dies deins. - erreicht. Ein großes, von Leidenschaft geprägtes Zwischenspiel leitet aus der bösartigen Traumwelt, die das Meer als unbändiges Wesen charakterisiert, zurück an das Haus am Meer.


    Mond, ich warte
    (Hjalmar Gullberg)


    Die Sonne ist bewölkt und werde doch geblendet
    Eine Sorge liegt auf meinen Augenliedern.
    In anderer Augen wage ich nicht zu blicken.
    Man will vielleicht, doch Hilfe kann mir keiner bieten.


    Meinen einzigen Trost erhalte ich am Meer.
    Ich beeile mich, wenn die Dunkelheit hineinbricht.
    Mond, ich warte, Freund in allen Nöten.
    Mit ihm kann man über den Tod reden.


    Ein wahres Abschiedslied ist Jag vänter månen. Mit großen Dur-Septakkorden und einer sehr lyrischen Melodieführung schafft Nystroem von Beginn an eine sehr versöhnliche Stimmung. Hier ist gut zu beobachten wie Nystroem auf jede Zeile des Gedichts eingeht - gleich nachdem Eine Sorge liegt auf meinen Augenliedern gesungen wurde, läßt er als kleinen Nachklang das dazu erklungene Motiv im Klavier durch Erhöhung einzelner Töne verzerrt, erneut erklingen, und verleiht so dem ganzen einen schmerzlichen Charakter. Der nun folgende Teil entwickelt sich zu einem Trostgesang. Die Oberstimme im Klavier enthält eine herrliche Melodie, die mit der Gesangstimme zum Wort "Meer" hinspielt und einen lyrischen Höhepunkt bildet, der im diesem Zyklus seinesgleichen sucht. Doch die Dunkelheit bricht hinein (absteigendes, verzögerndes Klaviermotiv). Sehr sphärisch, versöhnlich mit dem Mond, Symbol des Lebens und des Todes, endet das Stück erlösend in einem fast reinen Dur-Akkord.



    Die Aufnahme mit Nina Stemme kenne ich leider noch nicht - die rechte, die auch weitere Lieder Nystroems in mustergültiger Aufführung enthält, kann ich vorbehaltslos empfehlen! Zum reinhören ist hier eine Orchesterversion unter Svetlanov:


    Herzliche Grüße
    Christian