Don Giovanni – eine Komödie mit bösem Ausgang

  • Don Giovanni – Eine Komödie mit bösem Ausgang (?)
    Heute wurde in einem anderen Thread eine IMO doch recht am Original orientierte Inszenierung beanstandet, weil das Titelbild irgendwie an SM erinnere.
    Bein hineunesehen/hören in den zur Verfügung stehenden Sample-Clip fand ich, dass dieser Don Giovanni eigentlich rollendeckender war, als so manches was ich bisher gesehen hatte.
    Eigentlich hatte ich vorgehabt einen langen mit Weisheiten gespickten Einführungsbeitrag zu verfassen, aber ich ändere meine Strategie und überlasse das meiste den Forianern. Wie sollte ein idealer Don Giovanni agieren. Ist er in der Tat (nach heutigen Masstäben) ein „Bösewicht“ oder „Wüstling“ ? Wohl kaum. Auch wenn es immer wieder geschrieben wird, er war ja auch kein Mörder, denn er tötete den Komtur bei einem Duell, zu dem er von diesem genötigt wurde. Über Moral und Unmoral des Stoffes wurde schon zu Lebzeitens von Daponte viel geschrieben, dieser aber hatte eigentlich nur ein Libretto von Giovanni Bertati (1735-1815) umgearbeitet und szenisch ergänzt, welches dieser für Giuseppe Gazzaniga (1743-1818) geschrieben hatte.
    Schon vorher gab es das inhaltlich ähnliche Sprechstück von Tirso di Molina(1578-1648) das aber wiederum auf einer Sage, bzw teilweise wahren Begebenheit der Vergangenheit beruhte.
    Der Stoff faszinierte Dichter und Musiker des 19. Jahrhunderts gleichermaßen, Gluck, Boccherini, Moliere, und Zahlreiche andere. Im Libretto steht als Zeit- und Ortsangabe: Madrid, im 17. Jahrhundert.


    Es gab schon einmal einen recht ausführlichen Thread zu diesem Thema, em ich den spöttischen Titelanhang „Sieg der Moral“ angehängt habe, aber er wurde seit 2008 nicht mehr fortgeführt. Da die Forenbesetzung inzwischen eine fast völlig andere ist und zudem ein Gutteil des Threads sich mit Tonträgerveröffentlichungen befasst hat, halte ich es für sinnvoller diesen Thread – er ist inzwischen 117 Beiträge lang – nicht fotzusetzen, sondern diesen hier zu beginnen, der das Thema „Don Giovanni“ und wie die Figur heute gesehen wird, bzw gesehen werden kann beinhaltet.
    Hier der alte Thread – er kann –so Bedarf besteht, dazu verwendet werden, neue Tonaufnahmen gegen die alten zu vergleichen.


    Sieg der Moral - - -Wolfgang Amadeus Mozart: Don Giovanni


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Betrachtet man den Don-Giovanni-Stoff aus historischer Persepektive, so muß man zugeben, daß man mit den gebräuchlichen normativen Begriffen des 19. und 20. Jahrhunderts dieser Figur kaum gerecht werden kann.
    Don Giovanni ist angelegt als Typ des Grandseigneurs der hochbarocken Epoche, also im Rahmen eines spätfeudalen politischen Systems, das dem Grundherren, sofern er dem Hochadel angehörte, ungeheure Privilegien auf seinen Latifundien einräumte, einschließlich der Hohen Gerichtsbarkeit, die aber in der Regel durch einen königlichen Gerichtsrat -stellvertretend und gegen Honorar- vollzogen wurde.
    Die Fallhöhe des Stoffes beruht darauf, daß Mozart seine Oper zu einer Zeit schrieb, als diese Zeit -zwar nicht de Jure, aber de Facto- bereits vorüber war, eine "moralische Entrüstung" vor allem dadurch verursacht werden konnte, daß durch die immer größere politische Bedeutung des sich immer mehr emanzipierenden Bürgertums dessen Moralnormen, die ihr Entstehen ja sicher z.T. antifeudalen Reflexen verdankten, die Gesellschaft in immer größerem Maße prägten bis zu dem Punkt, wo die Herrscher -ab dem Beginn des 19.Jahrhunderts, aber z.T. auch schon eine Generation früher- einen betont "bürgerlichen" Lebensstil pflegten.
    Die Zeit des Spätfeudalismus galt dann als völlig sittenlos, wobei z.B. anlässlich der französischen Revolution absurde Schauergeschichten verbreitet wurden, die aber teilweise heute noch geglaubt werden, z.B. das angebliche "jus primae noctis", das nachweislich nie existiert hat u.ä. .
    Sieht man bei Mozarts Opernstoff einmal von der historischen Grundierung ab, so begegnet uns in Don Giovanni ein Mensch mit einer schweren Persönlichkeitsstörung, der durch seine krankhafte Bindungsunfähigkeit zur Selbstzerstörung gelangt und bereits vor dem Erscheinen des Komturs und seiner "Höllenfahrt" bereits ein seelisch totes Wrack ist.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Sieht man bei Mozarts Opernstoff einmal von der historischen Grundierung ab, so begegnet uns in Don Giovanni ein Mensch mit einer schweren Persönlichkeitsstörung, der durch seine krankhafte Bindungsunfähigkeit zur Selbstzerstörung gelangt und bereits vor dem Erscheinen des Komturs und seiner "Höllenfahrt" bereits ein seelisch totes Wrack ist.


    Vielleicht könnten wir uns dabei auch den drei Damen der Oper zuwenden, denen der Typ mit dieser Persönlichkeitsstörung gar so nicht unangenehm ist.
    Das heißt, solange nicht eine Andere von ihm beglückt wird.

  • Vielleicht könnten wir uns dabei auch den drei Damen der Oper zuwenden, denen der Typ mit dieser Persönlichkeitsstörung gar so nicht unangenehm ist.


    Genau. Ohne die Damen kein Don Giovanni. Sie erst machen ihn in dieser Oper möglich. Er ist ihre Projektionsfläche, scheint ihr tristes Leben sehr bereichert zu haben. Sie emanzipieren sich aber auch durch ihn und zahlen dafür einen hohen Preis. Das wird in der gesamten Handlung deutlich - und spricht nicht gegen sondern für die Frauen. Interessant der Epilog. Anna vertröstet die Memme Ottavio um ein Jahr, aus dem gewiss noch viele Jahre werden. Es gibt für beide keine Perspektive. Anna hat es durch Don Giovanni erfahren. Ottavio, auch musikalisch sehr zart angelegt, wird ihr das nie bieten können. So lange sie lebt, wird sie daran denken, was sie durch Don Giovanni erfahren hat. Der Tod des Vaters wird dabei keine so große Rolle spielen. Denn ihre Trauer finde ich in der Oper ziemlich oberflächlich und aufgesetzt dargestellt. In ihr tobt ein Vulkan, musikalisch genial gemacht. Sie ist für mich die eigentliche tragische Gestalt. Das ist ihr Dilemma. Elvira geht gleich ins Kloster, so zermürbt und verbraucht ist sie. Die besten Lehren zieht das Volk in Gestalt von Zerlina, zuvor gar nicht zögerlich, und Masetto, was ich immer ganz wunderbar finde. Sie sind praktisch und ziehen sich deshalb aus der Affäre ohne große Schäden und Malaisen zurück. Andererseits wird deutlich, dass das Don-Giovanni-Prinzip auf Dauer nicht lebensfähig ist. Mehr als zweitausend Frauen gingen durch Leporellos Buch. Es dürften noch viele mehr gewesen sein. Auf die Zahlen kommt es ja gar nicht an. Sie sind ein Symbol. Am Tag seines Endes - die Oper spielt ja quasi an einem einzigen Tag - gelingt Don Giovanni nichts mehr. Er stürzt ab. Seine Sprüche - siehe Champagnerarie - sind wie Asche geworden, total plakativ. Ich glaube, er ekelt sich auch vor sich selbst. Er kann und will nicht mehr. Daran scheint er mir mit Lust zugrunde zu gehen.


    Für mich ist DON GIOVANNI neben COSI FAN TUTTE eine der faszinierendsten und unergründlichsten Opern. Man kommt nie ganz dahinter.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Andererseits wird deutlich, dass das Don-Giovanni-Prinzip auf Dauer nicht lebensfähig ist.

    Was es allerdings nicht davon abhält, sich ständig wiederholen zu lassen.


    Deine Analyse, lieber Rheingold, finde ich treffend. Im Verhältnis Don Ottavio - Donna Anna ist der Don der schwächere Partner und das wird nicht funktionieren.
    Ich habe den Verdacht, dass seine Braut wie im Film Atemlos gerne mit Richard Gere nach Mexico geflohen wäre und das nicht nur, weil sie schon die dortige Landessprache beherrscht.


    Den Ausdruck Memme für Do Ottavio finde ich etwas zu hart. Für mich ist er eher der pflichtbewusste Mann im grauen Flanell.

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  • Die innere Einheit der drei Da-Ponte-Opern mag auch etwas zum Thema beitragen.


    Wenn man die von Joachim Schneider klug umrissene Situation auf den Figaro zurückprojiziert, so erscheint einem der Conte Almaviva als ein kleinlich-provinzieller Giovanni-Abklatsch, ein Möchtegern-Roué, der nicht einmal die Kammerzofe seiner Frau erobern kann und am Ende kläglich und spießig die Gattin um Verzeihung zu bitten hat - "Contessa, perdono ..."


    Die erotische Liebe als nicht eingrenzbare dämonische Macht klingt geichwohl an - in Cherubinos ironischen Jugendnöten und zumal im "Crudel! Perchè finora"-Duett, wo Susanne doppeldeutig aus der Rolle fällt (auch aus der Rolle der überlegenen Schauspielerin vermeintlich echter oder falscher Gefühle).


    Daß die Verliebtheit der einzige Prüfstein für die echte Liebe ist, entbindet die Liebenden vom Gebot der Treue - da ist Mozart, und wo, wenn nicht in der Così fan tutte, ein psychologisch wahrhaftiger Charakterzeichner ohne irgendwelche moralischen Intentionen.


    So erscheint denn etwa die treu liebende Contessa Rosina nicht als Ideal, sondern nur als ins menschliche zurückübersetzte Spielart, "La Constante" (wie ja die monströse Vorgängerin in der "Entführung aus dem Serail" noch hieß), als "L´Abbandonnée". Fiordiligi entlarvt das Rollenhafte "weiblicher" Treue, so wie die Herren sehr elvirenhaft am Wankelmut der Damen zu leiden haben.


    Die überhöhten Damencharaktere im Giovanni lassen sich als zeitliche Typologie zerlegen: Zerlina, "La Naive" als neugierige Unschuld, Elvira, die Verlassene und Gedemütigte, und dazwischen Anna, die Unerreichbare und damit die psychologisch interessanteste Figur. Wenn man in Rechnung stellt, daß alle drei Figuren zugleich nur menschlich-allzu-männliche Projektionen darstellen - und zwar im Sinne des Schlußtableaus von Fellinins Casanova-Film, den Tanz mit der Automate - so vernimmt man ein Echo etwa des Crudel! Perchè finora-Duetts im Duettino La ci darem la mano, dieses "Vorrei è non vorrei", dieses Hin- und Hergerissensein, das immer zweier Akteure bedarf, non so più, cosa faccio.


    Man könnte, um Giovanni moralisch dingfest zu machen, darauf verweisen, daß Mozart und Da Ponte im Verlauf der Ballszene etwas wie eine Vergewaltigung andeuten, ein Débauchement hinter eilig verschlossenen Tapetentüren, gefolgt von einer furienhaften Phalanx erboster Weiblichkeit, wie sie in der Operngeschichte einzig dasteht. Aber das ist natürlich zu einfach - Elvira, wie wir wissen, hat ein warnend wachsames Auge auf die törichte Zerlina; und vergessen wir nicht, daß Anna, per Vatermord symbolisch defloriert, mit ihrer heroisch rächenden Jungfräulichkeit den Rest der Oper quasi in der Luft hängt. Je übersteigerter ihr verletzter Mädchenstolz, desto dringlicher die Frage nach den eigentlichen Motiven dieser Amazone.


    Am besten stellt man den Giovanni gegen den Fidelio. Dort wird substanziiert und nach allen Regeln gefeiert, was bei Mozart als ein grausiger Dressurakt an der menschlichen Natur vorgeführt wird. Der erotisch getriebene Giovanni fährt als Revoluzzer in die Hölle - was könnte da kläglicher sein als Florestans "Wahrheit wagt ich kühn zu sagen ..." Denn die Wahrheit Giovannis ist am Ende tragischer und tiefer; und seine ungebändigte Freiheit führt nicht ins himmlische Reich.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Man kann auch m.E. sehen, daß Don Giovanni bei seinen "verabscheuenswürdigen" Taten und seinem "verfehlten" Leben dennoch eine Grandezza aufweist, die historischen Libertins in der Regel abgeht und daher diese Bühnenfigur trotz aller Künstlichkeit (im positiven Sinne!) als Projektionsfigur männlicher wie weiblicher -in der Regel uneingestandener- Bedürfnisse und Phantasien eine eigene Würde besitzt, ebenso wie die Damen, worauf oben bereits zutreffend hingewiesen wurde.
    Die echten Wüstlinge, z. B. Casanova (wenn man ihn denn als solchen überhaupt bezeichnen will) oder der Graf de Sade lebten scheinbar nach ihren eigenen Gesetzen, waren aber -ganz im Gegensatz zu Don Giovanni- dennoch im Korsett der Konventionen ihrer Zeit verhaftet und daher glitt ihre Libertinage in Gemeinheit ab.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Am besten stellt man den Giovanni gegen den Fidelio. Dort wird substanziiert und nach allen Regeln gefeiert, was bei Mozart als ein grausiger Dressurakt an der menschlichen Natur vorgeführt wird. Der erotisch getriebene Giovanni fährt als Revoluzzer in die Hölle - was könnte da kläglicher sein als Florestans "Wahrheit wagt ich kühn zu sagen ..." Denn die Wahrheit Giovannis ist am Ende tragischer und tiefer; und seine ungebändigte Freiheit führt nicht ins himmlische Reich.


    Die Indignation Beethovens über den Don Giovanni ist bekannt und von Manchem in seiner Naivität als störend empfunden.
    Von mir auch. Gleichwohl gehört der eindimensionale, ungekünstelte Fidelio zu meinen Lieblingsopern, obwohl dort die Naivität auf die Spitze getrieben wird.
    Etwas eigenartig, wenn es doch gerade der Don Giovanni ist, den ich neben dem Tristan und dem Boris mit auf die berühmte einsame Insel nehmen würde.
    Vielleicht muss ich die Koexistenz meiner Bewunderung zweier so gegensätzlicher Werke, der menschlichen Inkonsequenz zuschreiben.


    Doch wie auch immer, ich möchte mit farinelli sagen: die Wahrheit Giovannis ist tragischer und tiefer.

  • Als - manche mögen es nicht vermuten - doch einigermaßen verderbter Mensch - sehe ich die Figur des Don Giovanni doch ein wenig anders. Was man ihm in der Tat scheinbar vorwerfen kann ist der "Mord" am Komtur. Soweit ich es sehen kann, war es kein Mord, sondern ein Duell mit tödlichem Ausgang, die Beilegung einer Ehrensache unter Standespersonen, die diesen vorbehalten war. Dazu kommt noch, daß der Komtur es war, der dieses Duell verlangt. Offenbar natürlich, weil er Don Giovanni töten wollte. Dabei hat er Pech gehabt, Don Giovanni war schneller und geschickter.


    Bleibt der Rest. Ein junger - vermutlich hübscher - Adeliger, der seinen Spaß haben wollte, und dem die Objekte seiner Begierde sich nicht verweigerten, sondern letztlich selber Spaß an der Sache hatten. Dafür kommt man doch (HOFFENTLICH !!!) nicht in die Hölle......!!!!


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Als - manche mögen es nicht vermuten - doch einigermaßen verderbter Mensch


    Deine Beiträge, lieber Alfred, sind immer lesenswert und von beachtlichem Niveau, doch solltest Du dies nicht zum Vorwand nehmen,
    die Intelligenz Deiner Taminos so grob zu unterschätzen.


    Im Übrigen, war die Degenspitze des Herrn Giovanni vergiftet.

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  • Ein junger - vermutlich hübscher - Adeliger, der seinen Spaß haben wollte, und dem die Objekte seiner Begierde sich nicht verweigerten, sondern letztlich selber Spaß an der Sache hatten. Dafür kommt man doch (HOFFENTLICH !!!) nicht in die Hölle......!!!!


    Nö, kommt man nicht. ;) Es sei denn, die Sehnsucht nach diesem vermutlich hübschen Adligen, der nun zu Tode kam, ist so groß, dass sie zur Hölle wird. Anna wird Don Giovanni nie vergessen können. Armen Ottavio. Sie wir immer neue Ausreden finden, um sich ja nicht an diese Memme binden zu müssen, weil sie ES einmal erlebt hat.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Don Giovanni kommt als "Entehrer" vieler Frauen (Sex jenseits der Ehe) und vor allem als Mörder von Donna Annas Vater natürlich in die Hölle - für alle, die kirchlichen Moralvorstellungen anhängen und zudem auch noch an die Hölle glauben.


    Im Übrigen sehe ich eine Zukunft für Donna Anna und Don Ottavio keineswegs als ausgeschlossen. Anna ist durch die nächtliche Begegnung mit Giovanni, durch seine Dreistigkeit im Leugnen, vor allem aber durch den Schmerz über den Tod ihres Vaters in einem Gefühlchaos, kann also nicht sofort zur Tagesordnung übergehen.
    Werden denn Agathe und Max nach dem Probejahr nach "Rheingolds" Meinung auch sicher kein Paar?


    Ob Anna "ES" wirklich mit Don Giovanni erlebt hat, sei mal dahingestellt, aber selbst wenn sie ES erlebt hat, wird sie ES wieder wollen, auch mit einem anderen Mann...


    Wie viele Ehen und Kinder, die daraus hervorgehen, gäbe es heute tatsächlich, wenn die Frau, nachdem sie ihre "große Liebe" nicht bekommen hat, dem Unerreichbaren "treu" geblieben wäre?


    Ich glaube viel eher, dass für Anna nach einiger Zeit (wenigstens dem Trauerjahr, und es war damals nunmal absolut unüblich und anrüchig, kurz nach einem Todesfall in der Familie eine Hochzeit zu feiern) das gelten wird, was für Offenbachs Gräfin Gerolstein gilt: "Wenn man nicht kriegt, was man liebt, liebt man halt, was man kriegt." 8-)


    Mozarts Frauengestalten (siehe auch Fiordiligi, Dorabella und Despina in der folgenden da-Ponte-Oper) sind viel zu sehr aus Fleisch und Blut, um ihnen nicht alles zuzutrauen... ;)

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Zu diesem Thema gibt es ein sehr amüsantes Buch von Herbert Rosendorfer "Don Ottavio erinnert sich, Unterhaltungen über die richtige Musik" (Bärenreiter, ISBN 3-7618-0952-2), deren erste Geschichte einen inneren Monolog Don Ottavios beschreibt, kurz vor seinem Tod.
    Für Wagner-Freunde enthält dieses Buch übrigens auch die zivilrechtliche Version von Piddes Elaborat ("der Ring des Nibelungen im Lichte des deutschen Strafrechts"): "wem gehört das Rheingold". Rosendorfer war ja zu Lebzeiten Richter.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Stimmenliebhaber hat es schon geschrieben: Selbstverständlich kann Don Giovanni auf nichts anderes als die Hölle hoffen - man hört ja auch den gesamten Abend nichts Geist-reiches von ihm. ;-) Das scheint mir auch deswegen wichtig, weil ansonsten der Schrecken des Endes seinen Sinn verlöre. Denn das abschließende Ensemble verdeckt ja kaum, dass Don Giovannis Höllenfahrt davor die Grenzen der Oper sprengt.
    Insofern kommt es gerade darauf an: Das Erschrecken ist umso größer, je eher man sich vorher mit Don Giovanni offen oder heimlich identifiziert hat.
    Zu Mozarts Opern hat übrigens vor schon 25 Jahren Ivan Nagel sein geniales Buch über "Autonomie und Gnade" geschrieben - sehr lesenswert!

  • Das Erschrecken ist umso größer, je eher man sich vorher mit Don Giovanni offen oder heimlich identifiziert hat.

    Ja, man sollte nicht glauben, wieviel Verworfenheit sich doch hinter manch schöner Maske versteckt. Als ich Furtwänglers Don Giovanni zum ersten Mal in meiner Heimatstadt im Kino sah, war es in Begleitung eines Schulfreundes und dessen Mutter, einer überaus eleganten Schönheit, die die Vierzig noch nicht erreicht hatte.
    Wie groß war nach der Vorstellung mein Entsetzen, als sie, auf Cesare Siepi anspielend, die schockierende Bemerkung machte: "Von dem würde ich mich auch verführen lassen".
    Ein Erschrecken konnte ich auf ihrem Gesicht jedoch nicht entdecken.

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  • Don Giovanni kommt, m.E., aus nur einem einzigen Grund in die Hölle: Er ist nicht bereit, sein Sünden zu bereuen. Dazu gehört zweifellos ein ausschweifender Lebenswandel, auch wenn die Oper davon nur die Registerarie in Händen hält. Der Duelltod des Komturs ist vergleichweise unproblematisch (auch wenn Donna Anna das anders sieht); eher schon trägt die Einladung an den steinernen Gast zur Hybris des Protagonisten bei.


    Man sollte sich hüten, eine Figurenperspektive (Donna Anna) mit der Haltung des Librettisten oder gar der moralischen Wahrheit zu verwechseln. Dann wäre der Giovanni bloß eine Tendenzoper.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Man sollte sich hüten, eine Figurenperspektive (Donna Anna) mit der Haltung des Librettisten oder gar der moralischen Wahrheit zu verwechseln. Dann wäre der Giovanni bloß eine Tendenzoper.

    Eben! Man sollte ihn wie vorgeschlagen als dramma gioccoso verstehen, wobei das Buffo-Element das vorherrschende ist.
    Eine Moritat der höheren Schule.

  • ich glaube, daß die Aussage von "Don Giovanni" - so es denn je eine gegeben hat - heute nicht mehr gültig ist. Denn, das was Don Giovanni - wir klammern das vom Komtur provozierte Duell aus, welches ja an sich kein Mord war, sondern der erwartbare letale Ausgang einer gesellschaftlichen Verbindlichkeit unter Standespersonen - hat im Prinzip so gelebt, wie die Mehrheit der heutigen Menschheit generell lebt - oder sehe ich Gespenster ? Und ich glaube (fast) niemanden stört oder erschreckt das wirklich. Oder habe ich den Beginn einer neuen Prüderiewelle verpasst ?


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • ich glaube, daß die Aussage von "Don Giovanni" - so es denn je eine gegeben hat - heute nicht mehr gültig ist. Denn, das was Don Giovanni - wir klammern das vom Komtur provozierte Duell aus, welches ja an sich kein Mord war, sondern der erwartbare letale Ausgang einer gesellschaftlichen Verbindlichkeit unter Standespersonen - hat im Prinzip so gelebt, wie die Mehrheit der heutigen Menschheit generell lebt - oder sehe ich Gespenster ? Und ich glaube (fast) niemanden stört oder erschreckt das wirklich. Oder habe ich den Beginn einer neuen Prüderiewelle verpasst ?


    mfg aus Wien
    Alfred

    Lieber Alfred,


    pardon, aber ich finde, deine Analyse greift entschieden zu kurz, es geht nämlich nicht um sexuelles Ausleben versus Prüderie, die Maßlosigkeit der sexuellen Gier Don Giovannis steht doch nur stellvertretend für etwas anderes, nämlich das bewusste und provokante Brechen aller geltenden gesellschaftlichen Normen. Er will sich keinerlei Moralvorstellungen unterordnen und hat Spaß daran, diese immer wieder zu brechen. Für die Gesellschaft in toto ist dieses Verhalten ein Affront. Insofern ist diese (höhere) Botschaft sehr wohl noch aktuell und gültig, auch wenn sich die Moralvorstellungen geändert, die Normen verschoben haben. Es geht darum, inwieweit ein Individuum seine persönliche Freiheit in einer Gesellschaft ausleben kann und welche Grenzen (nämlich zum Beispiel die Freiheit des anderen) es dafür gibt.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • ich glaube, daß die Aussage von "Don Giovanni" - so es denn je eine gegeben hat - heute nicht mehr gültig ist.

    Das sehe ich genaus so und ich finde keine Veranlassung, Mozart zu unterstellen, er wäre mit seinem Don Giovanni gegen die Unmoral in der Welt zu Felde gezogen.
    Ein dramma giocoso hat bekanntlich nicht die Aufgabe, die Menschheit wach zu rütteln und wenn wir die Gestaltung der Rollenfiguren näher betrachten, wird es offenkundig,
    auf welcher Seite Mozarts Sympathien liegen, oder besser, in welche Richtung er sie leitet. Hier punktet der virile Don Giovanni gegenüber dem blassen Don Ottavio beträchtlich.
    Man kann schließlich auch nicht den impliziten, feinen Spott übersehen, der sich in der Rollengestaltung der drei Damen versteckt.
    In diesem Licht erscheint Don Giovanni eher als der Verführte als ein Verführer.


    Nein, Mozart hatte andere Moralvorstellungen als Beethoven und den Don Giovanni für mehr als eine gelungene Moritat zu nehmen, heißt wirklich, wie von Alfred angedeutet, Gespenster zu sehen.
    Ungeachtet der von Alfred verpassten neuen Prüderiewelle - die existiert tragischerweise wirklich - denke ich nicht, dass der Don Giovanni heutzutage den gewöhnlichen Opernbesucher stört oder gar erschreckt und ich zweifle daran, dass er es je getan hat.

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  • denke ich nicht, dass der Don Giovanni heutzutage den gewöhnlichen Opernbesucher stört oder gar erschreckt und ich zweifle daran, dass er es je getan hat.

    Natürlich hat er das! So wie die Leute vor 100 und noch vor 80 Jahren fassungslos und verstört über das abgeschlagene Haupt des Jochanaan (in "Salome") auf der Opernbühne waren, waren sie es vor 200 und noch vor 150 Jahren über das Erscheinen des Komturs und das Sich-Öffnen der Hölle. Ist ja auch gradios komponiert! Der doppelt verminderte Septimakkord am Beginn der Szene muss unglaublich verstörend für die Hörer gewesen sein, das hatte so noch niemand gehört - und wurde harmonisch auf Jahrzehnte nicht "überboten", dazu die Chromatik - das kann noch immer stark beeindrucken und spricht deutlichst gegen diese m.E. wirklich alberne Theorie, dass das eh alles nur pillepalle sei!


    "Le Nozze di Figaro" ist von da Pontes Seite auch als "dramma giocoso" bezeichnet worden (von Mozart noch als Opera buffa) - ist dieser Stoff auf der Opernbühne auch gerade angesichts der literarischen Vorlage auch belanglos? Tut mir Leid, dass ich solche Ansichten nicht ernst nehmen kann, denn dann wäre ohnehin alles belanglos...

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Tut mir Leid, dass ich solche Ansichten nicht ernst nehmen kann, denn dann wäre ohnehin alles belanglos...


    Freilich ist es nicht jedem gegeben, die Argumente seines Meinungsgegners ernst zu nehmen,
    vor allem nicht, wenn sie so albern und haarsträubend sind, wie die meinen.
    Nun ist aber Tamino ein Forum, wo auch der Dümmste die Freiheit genießt, seinen Quark an den Mann oder die Frau zu bringen,
    ohne dass ihm daraus psychischer oder physischer Schaden entstehen sollte.
    Im Zeichen dieser Narrenfreiheit plappere ich hier mal munter drauf los verkünde Folgendes:


    a) in meinem Bekanntenkreis habe ich noch niemals eine Moraldebatte über den Don Giovanni erlebt
    und von Schreck habe ich gleich gar nichts bemerkt.


    b) was belanglos ist, darf jeder für sich selber entscheiden.
    Bei mir jedenfalls fallen Opern wie Dialogues des Carmélites, Lulu oder Wozzeck stärker ins Gewicht als die Zauberflöte, Don Giovanni oder der Freischütz.
    Wohlgemerkt, das bezieht sich ausschließlich auf die Handlung und keinesfalls auf die Noten.


    c) angesichts der Vorlage ist der Figaro zwar nicht belanglos, er treibt aber die revolutionäre Tendenz auch nicht allzu weit,
    sonst wäre der Graf am Ende nicht so glimpflich davon gekommen.


    d) Man muss nicht an Hexen glauben, um den Freischütz zu lieben und dass Mozart ein Sujet zum Vorwand nimmt, unter Verwendung schockierender Neuerungen
    seine schöpferische Genialität zu demonstrieren, ist kein Beweis dafür, dass er mit seiner Oper zum Moralisten mutiert sei.
    Auch ein atheistischer Maler kann eine Kreuzigungsgruppe sehr ergreifend darstellen.


    e) schließlich: was ist ein dramma giocoso, wenn nicht eine traurige Mär mit Augenzwinkern erzählt?

  • als die Zauberflöte, Don Giovanni oder der Freischütz.

    drei sehr existenzialistische Stoffe!


    angesichts der Vorlage ist der Figaro zwar nicht belanglos, er treibt aber die revolutionäre Tendenz auch nicht allzu weit,
    sonst wäre der Graf am Ende nicht so glimpflich davon gekommen.

    In der Oper wird gezeigt, dass der Dienerstand, insbesondere Susanna, dem Grafen geistig überlegen und immer ein Schritt voraus ist - das war damals geradezu ungeheuerlich, eine Brüskierung des Adels, der in den Logen saß!


    seine schöpferische Genialität zu demonstrieren, ist kein Beweis dafür, dass er mit seiner Oper zum Moralisten mutiert sei.

    Ich habe ja auch nie behauptet, dass Mozart zum Moralisten mutiert sei, sondern, dass die "Unmoral" in dem Stück nur eine Stellvertreterfunktion für eine viel wichtigere Frage hat.


    was ist ein dramma giocoso, wenn nicht eine traurige Mär mit Augenzwinkern erzählt?

    Da ist etwas dran, aber das Augenzwinkern nimmt nichts von der Relevanz des Stoffes, sondern verstärkt diese noch eher, als dass es sie mindert!

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • aber das Augenzwinkern nimmt nichts von der Relevanz des Stoffes, sondern verstärkt diese noch eher, als dass es sie mindert!

    Das denke ich auch. Mozarts Widerstand gegen die Einschränkung der persönlichen Freiheit, die er ja selbst in Salzburg sehr schmerzlich erfahren hat, ist im Figaro kaum zu überhören.
    Im Don Giovanni ist die Lage komplizierter. Einerseits verkörpert der Held den Sieg über moralische Konventionen, andererseits gehört er dem Adel an und nimmt sich Rechte,
    die er selbst dem gemeinen Volk nicht zugestehen würde. Das macht die Sache etwas zwiespältig, doch soll ja Mozart nicht gerade ein Freund der ungebildeten Masse gewesen sein. Der einfältige Masetto kommt in der Oper ja auch nicht besser weg, als der schlitzohrige Leporello.


    Doch wie gesagt, die Relevanz zu existenziellen Fragen ist in beiden Opern offenkundig, dass der Don Giovanni allerdings einen modernen Menschen zum Grübeln über den eigenen Lebenswandel bringen könnte, kann ich einfach nicht glauben.

  • dass der Don Giovanni allerdings einen modernen Menschen zum Grübeln über den eigenen Lebenswandel bringen könnte, kann ich einfach nicht glauben.

    Das habe ich auch nicht behauptet, er sollte aber im Idealfall den modernen Menschen zum Grübeln über die Diskrepanz zwischen dem totalen, also völlig maßlosen Ausleben des eigenen Anspruchs auf persönliches Glück und dem Interesse der Allgemeinheit ("Allgemeinwohl") bringen können. Inwieweit schließt man Kompromisse, inwieweit bleibt man kompromisslos, bei allen sich daraus ergebenen Konsequenzen? Eine sehr spannende Frage, wie ich finde!

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

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  • er sollte aber im Idealfall den modernen Menschen zum Grübeln über die Diskrepanz zwischen dem totalen, also völlig maßlosen Ausleben des eigenen Anspruchs auf persönliches Glück und dem Interesse der Allgemeinheit ("Allgemeinwohl") bringen können.

    Ein frommer Wunsch, der Effekt wird sich jedoch in Grenzen halten.


    Wie ersichtlich, interessiert dieses Thema nicht einmal 1 Prozent der Taminos.
    Bei einem geschätzten Interessekoeffizienten von 0,1 für externe Opernfreunde und der überaus optimistischen Annahme,
    dass es so viel wie 1 Promille deutsche Opernkenner gibt, kämen wir auf stolze 80,925 Interessenten in den deutschen Landen.
    Es könnten auch 81 werden.
    Nicht sehr ermunternd, oder?