Der reine Ton

  • Liebe Taminos
    mir ist in letzter Zeit öfters ein Phänomen begegnet, das ich hier gerne hier mal diskutieren würde.


    Ich höre ja viel Kammermusik und gehe auch recht häufig in entsprechende Konzerte. Da ich in einer wohlhabenden Großstadt wohne, kommen hier auch regelmäßig die besten Kammermusikformationen vorbei. An deren Spielweise habe ich mich also ziemlich gewöhnt, auch da ich entsprechend viele CDs von diesen Ensembles habe und höre.


    Wenn ich dann als Vergleich mal eine ältere Kammermusikaufnahme auflege, habe ich oft den Eindruck, dass die Musiker auf diesen alten Aufnahmen nicht ganz sauber zusammenspielen. Ich höre Intonationstrübungen oder bilde mir zumindest ein, sie zu hören. Und frage mich, ob das sein kann oder ob ich da andere Klangcharakteristika fälschlicherweise als unsaubere Töne mißinterpretiere.


    Denn ich kann weder Noten lesen, noch ein Instrument spielen, und beim Singen treffe ich den Ton üblicherweise nur approximativ.


    Zwei Aufnahmen, wo mir das gerade wieder begegnet ist, ist die Aufnahme von Schoecks Notturno mit dem Juilliard String Quartett und gestern, das 1. Klavierquartett von Brahms in der berühmten Einspielung von Rubinstein mit dem Guarneri Quartett. Kann das sein, dass diese weltberühmten Musiker nicht so tonrein spielten, wie das heute Standard ist, hat es da eine Weiterentwicklung auch der Spieltechnik gegeben oder unterliege ich irgendeiner akustischen Täuschung?

  • Es gibt unterschiedliche Stimmungssysteme, die historisch informierte Praxis hat einige historische Angelegenheiten, wie man die Töne zueinander "stimmt" in heutiger Zeit reaktiviert. Abgesehen davon gibt es nicht den einen "korrekten" Weg, einen Akkord auszustimmen, da man in der Regel nicht sklavisch eines der Systeme befolgt, sondern je nach satztechnischer und stilistischer Begebenheit die Akkorde noch weiter "säubert". Abgesehen davon wird aber auch viel "falsch" gespielt, zu allen Zeiten ...

  • Es hat sicher keine Weiterentwicklungen in der Spieltechnik in den letzten 50 Jahren gegeben. Es mag der technische Standard insgesamt etwas höher geworden sein. Ich höre solche Sachen normalerweise zu schlecht, aber es gibt bei Streichern keine absoluten Regeln für die Intonation. Wenn sie unter sich sind, könnten Streicher theoretisch "in reiner Stimmung" spielen, d.h. cis und des sind nicht der gleiche Ton (wie das auf dem Klavier der Fall ist). Spielen Streicher mit Klavier, müssten sie sich eigentlich nach dem Klavier (das gleichschwebend gestimmt ist) richten.


    Angeblich werden aber ganz unabhängig von dieser theoretischen Reinheit Töne absichtlich "geschärft", zB ein cis als "Leitton" in D-Dur etwas höher gespielt, weil das die Leittonwirkung verstärken würde. Theoretisch könnte ein Ensemble in jedem Akkord solche minimalen Schwankungen vornehmen, um bestimmte harmonische Kontraste oder "Richtungen" der harmonischen Entwicklung deutlicher zu machen; es würde aber ggü. denselben Akkorden auf dem Klavier anders und evtl. unsauber klingen. Ich weiß aber wiederum nicht, ob das Ohr, selbst sehr gut differenzierender Hörer, sich an solche Üblichkeiten (wie "zu hohe" Leittöne) nicht längst gewöhnt hat. Ich vermute mal, dass es ganz unabhängig von der möglichen Diskrepanz zwischen Wollen und Umsetzen (also unabsichtlichen Intonationsschwankungen) hier unterschiedliche Ansätze gibt. Minimale Unreinheiten (egal ob absichtlich oder nicht) hört man zB außerdem deutlicher, wenn kein/kaum vibrato eingesetzt wird.


    Das müsste aber jemand von den praktizierenden Streichern mal besser erklären, weil mein Wissen hier rein theoretisch ist. Ich selbst traue auch meinem Gehör so wenig, dass ich vermutlich nicht einmal sicher unterscheiden könnte, ob ein Ensemble von der Tongebung, dem Streicherklang sehr angenehm klingt (wie zB Q italiano oder Weller) oder ob das an der Präzision der Tonhöhe liegt.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Es gibt beide Richtungen: cis höher als des im Sinne von cis=Leitton, das hat man vor HIP so an den Konservatorien gelernt, oder cis tiefer als des im Sinne des reinen Dreiklangs a-cis-e, nachlesbar in Leopold Mozarts Violinschule. Und dann gibt's noch pythagoreische und mitteltönige Stimmungen. Die cis höher als des-Variante kann sich der pythagoreischen Stimmung annähern, die Mitteltönige ist ein Kompromiss, bei dem möglichst viele Dreiklänge rein sind, wobei cis=des. In der Praxis bestimmt aber "das Ohr", das im Idealfall alle diese Stimmungen kennt, aber eben je nach Stil und sonstigen Gegebenheiten weitere Anpassungen vornimmt.

  • Ich habe inzwischen ein bisschen recherchiert und diese interessanten Aussagen gefunden:


    Ich zitiere:
    "The quartet never lost its intensity and has continued to grow in musical depth, but as the edges became rougher and rougher, the intonation worse and worse, many of its most ardent admirers had preferred in recent years to remember it as it is on its classic older recordings.
    The intonation Saturday was not always perfect. But then Mann (1st Violin) reportedly was overheard backstage at a concert in New York a few weeks ago joking that he has never played in tune. And maybe he hasn't. He didn't have to. There were other, more important things. There still are."
    (WEEKEND REVIEWS -- Music, Juilliard Quartet Shows Founder's Vitality, January 27, 1997|MARK SWED | TIMES MUSIC CRITIC)


    "Many quartets strive to present a clean and cohesive tone, working to coordinate phrasing, bowing and intonation so as to create the sense of a single instrument with four registers. David Blum notes that the Guarneri explicitly followed a different path:


    They readily admit that other quartets look for and achieve a more consistent blend of timbre and unity of style. They enter into the music’s expressive stream and let it work upon them, even if, in so doing, an occasional rough edge appears. Their goal is always to communicate the music as a living experience."
    (wikipedia Artikel on Guarneri Quartet).

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  • Ich selbst traue auch meinem Gehör so wenig, dass ich vermutlich nicht einmal sicher unterscheiden könnte, ob ein Ensemble von der Tongebung, dem Streicherklang sehr angenehm klingt (wie zB Q italiano oder Weller) oder ob das an der Präzision der Tonhöhe liegt.


    Ja, da bin ich mir eben auch nicht sicher. Das meinte ich mit "akustischer Täuschung".

  • Hallo,


    einige kleine Bemerkungen zu den bisherigen Beiträgen.


    Es gibt ca. 10 namentlich bekannte Stimmungssysteme, in welchen das „pythagoreische Komma“, jeweils unterschiedlich auf die 12 Halbtonschritte einer Oktave, aufgeteilt wird.


    Die heute übliche Stimmung ist die „gleichschwebende Stimmung“, in welche das pythagoreische Komma gleichmäßig auf alle 12 Halbtonschritte verteilt wird, jeder Halbtonschritt also ein ganz kleinwenig ungenau gegenüber der „reine Stimmung“ ist; diese äußerst kleine Ungenauigkeit aber deswegen als vernachlässigbar hingenommen wird, weil mit dieser Stimmung auf allen Tasteninstrumenten alle Tonarten und -geschlechter hörrichtig gespielt werden können, im Unterschied zur „reinen Stimmung“, bei welcher immer nur eine Tonart -geschlecht hörrichtig gespielt werden kann. Das bedeutet auch, dass bei der „gleichschwebenden Stimmung“ die von früher gewohnte Tonartencharakteristik verloren geht – z. B. Es-Dur besonders feierlich, C-Dur besonders festlich usw.

    Der „Normalhörer“ wird den Kammerton „a“ ob 440 Hz oder 442 Hz nicht als unterschiedlich hören - im Unterschied zum Hörer mit absolutem Gehör; der Hörer mit geschultem Gehör wird etwas fehlgegriffene/-gesungene Töne = mit +/- minimalen Intervalldifferenzen hören.


    Wenn es also heißt, Streicher können in „reiner Stimmung“ spielen, so gilt das nur immer innerhalb einer Tonart/-geschlecht, d. h. wenn z. B. die Spieler eines Streichquartetts, das innerhalb des zu spielenden Werkes über mehrere Tonarten/-geschlechter geht, müssen diese Spieler, immer wenn sich Tonart oder -geschlecht ändert, ihre Intervalle minimal anpassen/verändern; dazu ist sehr viel spieltechnisches Können und noch mehr gegenseitige Gehördisziplin erforderlich.


    Als Chorsänger (auch als Nichtblattsänger) weiß ich (besonders beim A-cappella-Chorgesang), dass aufwärts gehende Intervalle i. d. R. etwas größer, abwärts gehende etwas kleiner zu nehmen sind. Bei Leittönen oder bei Veränderungen von Tonarten -geschlechter innerhalb kurzer Phrasen können Intervalle aufwärts oder abwärts in ihrer Größe minimal unterschiedlich zu singen sein, dies ist/kann auch Aufgabe des Chorleiters sein, den Chor entspr. zu führen.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber Zweiterbass, vielen Dank für Deine interessanten Ausführungen.


    Ich habe kürzlich einen Artikel gefunden, der das Problem anhand der Streichinstrumente historisch beleuchtet. Darin findet sich eine interessante Untersuchung eines russischen Akustikers, der die Aufnahmen dreier berühmter Geiger (Zimbalist, Oistrakh, Elman) detailliert analysiert und festgestellt hat, dass die Geiger die exakte Halbtonaufteilung nicht vornehmen, sondern jeweils eine "eigenes" Intonationssystem entwickelt haben. Er spricht von Halbtonzonen, innerhalb derer sich der Ton bewegen kann, um gewisse expressive Momente auszudrücken. Dieses funktioniert innerhalb des Vortrags des einzelnen Geigers hervorragend, man darf nur nicht die Töne zweier Vorträge "mischen". Das bedeutet letztendlich, dass alle ein klein wenig "unrein" spielen. Und vermutlich variiert dieser Grad an Unreinheit auch bei verschiedenen Ensembles, je nachdem auch, auf was primär Wert gelegt wird: Expressivität oder Tonschönheit z.B.


    Ich hatte kürzlich von einer CD des Brentano Quartetts mit Beethoven op 127 berichtet, wo ich den Eindruck hatte, noch nie einen so homogenen Streicherklang gehört zu haben, es klang wie ein perfekt gestimmtes 16-seitiges Instrument.