Manche Dirigenten wechseln die Orchester wie die Hemden - oder umgekehrt.

  • Ich weiß nicht, wie das allgemein gesehen wird, aber ich finde es betrüblich, daß manche Dirigenten alle paar Jahre die Orchester wechseln - und somit oft auch die Plattenlabel.
    In der "guten alten Zeit" war ein Dirigent nicht nur an ein Plattenlabel vertraglich gebunden, sondern auch oft lebenslang an ein Orchester. So waren die Berliner Philharmoniker und Karajan fast 40 Jahre lang quasi eine Marke, wobei die "Wiener" als "zweitorchester fungierten". Ähnlicg war es lange Zeit im Fall von Karl Böhm, der ebenfalls ca 90% seiner Stereo-Aufnahmen mit den Wienern und Berlinern machte. Mrawinski war mehr oder weniger lebenslänglich mit den Leningrader zu einer Marke verschmolzen, 50 Jahre lang leitete er das Orchester. Es hat sich herausgestellt, daß diese "Marken" oft prägend für die gesamte Geschichte eines Dirigenten, aber auch seines Orchesters waren. Starb ein Dirigent - oder verließ er das Orchester, so fiel der eine oder andere Teil, gelegentlich auch beide der Bedeutungslosikgkeit anheim. Soll heissen, daß ich beispielsweise bei vielen einst geschätzen Orchestern gar nicht mehr weiß, wer gegenwärtig eigentlich ihr Chefdirigent ist - und bis ich mich entschliessen konnte mich näher mit dieser Frage zu befassen, hat der das betreffende Orchester bereits wieder verlassen. Wir sehen das recht gut am Beispiel der Münchner Philharmoniker, die ich mit den Namen Kempe und vor allem Celibidache verbinde. Die Ära Levine ist eher unbedeutend gewesen, jene mit Thielemann und Maazel waren zu kurz.
    So verliert ein Orchester an Profil, und viele Dirigenten auch. Wozu die andauernden Wechsel gut sein sollen erschliesst sich mir nicht. Ich halte sie für schädlich, weil der CD-Käufer nicht weiss was ihn erwartet. Karajan - ich benutze ihn gern als Beispiel - da wusste man, was man zu erwarten hatte - nicht nur vom Dirigat - auch der Orchesterklang war durch sein "Stammlabel" DGG geprägt. Oder nehmen wir Norrington. Es war sicher schwer die "London Classical Players" bekannt zu machen - Kaum war das eingermaßen geglückt verlässt Norrington das Orchester in Richtung Stuttgart. Er beginnt von vorne, trifft eine Enscheidung zwischen zwei Orchestern, entscheidet sich für das unbekanntere - und macht es bekannter, undem er den Stuttgart-Sound kreiert. Auf dem Höhepunkt des Erfolgs verlässt er auch dieses und geht in die Schweiz um das Zürcher Kammerorchester zu leiten...etc etc....Ein Umbesetzungs-Karussel, welches einen jeglichen Überblicks beraubt....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    das ist wie mit den heutigen Ehen. "Bis dass der Tod Euch scheidet" ist äußerst selten geworden. Das hängt sicher mit dem Werteverfall in unserer konsum- und profitorientierten Gesellschaft zusammen. Eine denkbar traurige Entwicklung.

    Freundliche Grüße Siegfried

  • "Lebensabschnittspartner" sagt man heute. Zwei junge hübsche Leute bleiben solange beieinander, bis einer den andern als "nicht mehr attraktiv genug" empfindet. Man trennt sich im beiderseitigen oder einseitigem Einverständnis - und jeder gibt sich der Illusion hin, er selbst wäre noch attraktiv genug unm einen 20 Jahre jüngeren und schöneren Partner zu finden. Ein jähes Aufwachen aus diesem Traum ist vorprogrammiert.
    Nach dieser - etwas bissigen - Vorrede komme ich wieder auf das eigentliche Thema: Der Synergie-Effekt beim Zusammenspiel zwischen Orchester und Dirigenten - so Chemie und ein paar andere Parameter stimmen.
    Trennt sich ein erfolgreiches Orchester von seinem Chefdirigenten - oder umgekehrt, dann ist das meist mit einem Verlust an Bedeutung für beide Teile verbunden. Mir fallen hier spontan zwei Namen ein, weitere werde vermutlich folgen. Der erste wäre Roger Norrington, der mit seinen "Londoner Classical Players" 20 Jahre ein Begriff war. Als er das von ihm 1978 gegründete Orchester um 1997 verliess, löste es sich auf. Heute gibt es nicht mal einen deutschen Wikipedia-Beitrag zu diesem Thema. Die Hintergründe der Auflösung sind mir nicht bekannt. Daraufhin über nahm er gleich 2 Orchester:
    1) Die Camerata Academica Salzburg, einst unter Bernhard Paumgartner eine Legende, danach folgte immerhin eine noch heute erhältliche Aufnahme aller Mozart Klavierkonzerte unter Geza Anda und eine "silberne" Ära (1978-1997) unter Sandor Vegh, die aber durch den Tod des Dirigenten ein jähes Ende fand. In einem Klassikmagazin der Vergangenheit fand ich einmal ein Interview mit Norrington, wo er erklärte, die Camerate, die jetzt plötzlich ohne "Vater" dastand habe ihn eingeladen das Orchester zu übernahmen. Die Leute taten ihm leid - und so übernahm er halbherzig dessen Leitung - gleichzeitig aber auch das RSO Stuttgart, das ihn mehr interessierte. Aus meiner Sicht ist aus der Zusammenarbeit keine wirklich bedeutende Aufnahme hervorgegangen. Irgendwann wurde dann die Zusammenarbeit beendet - und Norrington erhielt den Tietel eine "Ehrendirigenten". Das Orchester selbst ist - meiner persönlichen Meinung nach - gegenüber früher - eher nicht besonders bekannt - euphemistisch ausgedrückt. Weiss jemand im Forum - OHNE ZU GOOGLEN !! wer der derzeitige Chefdirigent ist ? ....... na eben.
    2) Das RSO Stuttgart. Ich konnte damals die Entscheidung, sich für dieses und nicht das andere Orchester zu engagieren nicht ganz nachvollziehen - aber vermutlich erwartete Norrington - offensichtlich zu recht - er könne ein Rundfunkorchester eher nach seinem Willen formen, als einen traditionsbewussten österreichischen Klangkörper. Die Rechnung ist ja offenbar aufgegangen, wurde doch durch Sir Roger der Stuttgart-Sound kreiert.....
    Abermals hat er "sein" Orchester verlassen. Nun leitet er das Zürcher Kammerorchester, das ja einige interessante Aufnahmen mit Howard Griffith gemacht hat. Ob das Gespann ZKO plus Norrington je wieder ein "Begriff" in der Klassikwelt wird? Ich habe da meine Zweifel.....
    Und eine Blitzfrage nach dem Namen des derzeitigen Dirigenten des RSO Stuttgart - ohne googeln - würde vermutlich auch negativ ausgehen.....


    Der andere Dirigent ist Bernard de Billy. ER war es, der das eher als gutes, aber unauffällige RSO Wien aufwertete. Nun ist mir nicht mal bekannt, welche Position er heute bekleidet und wo er dirigiert, bzw ob er überhaupt Tonaufnahmen macht.


    Ein weiterer ist Matthis Bamert. Mit seinen Einspielungen der London Mozart Players hat er Schallplattengeschichte geschrieben. Tempi passati......


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Es bedürfte einer sehr eingehenden Prüfung, um nachzuweisen, dass die Dirigenten in ihrer Gesamtheit heutzutage häufiger die Orchester wechseln als früher. Ich müsste diverse Orchester durchgehen, aber relativ kurze Amtszeiten gab es nach meiner Erinnerung schon früher.


    Man müsste zudem zunächst einmal definieren, was denn kurz und was lang ist. Eine Amtszeit über zehn Jahren empfinde ich jedenfalls als ziemlich lange, und da gibt es auch heute etliche Fälle.


    Aus dem Stegreif denke ich hier an Sir Mark Elder, seit 2000 Chefdirigent des legendären Hallé Orchestra, der vor einem guten Jahr "bis mindestens 2020" verlängert hat, oder Franz Welser-Möst, Chefdirigent des Cleveland Orchestra seit 2002, der bis mindestens 2022 amtieren soll. Ein weiterer Fall wäre Jonathan Nott, der seit 2000 den Bamberger Symphonikern vorsteht und dieses Amt 2016, nach sechzehn Jahren, abgeben will. Und natürlich auch Sir Simon Rattle, der 2018 nach ebenfalls sechzehn Amtsjahren in Berlin abtreten wird.


    Gott sei Dank gibt es diese Label-Bindung heutzutage nicht mehr. Das behinderte doch auch schon in der Vergangenheit die künstlerische Kreativität. Zahllose Werke, interpretiert von großen Dirigenten, liegen aus reiner Label-Willkür heute bestenfalls als Rundfunk-Mitschnitte vor, wenn überhaupt.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Zitat

    Gott sei Dank gibt es diese Label-Bindung heutzutage nicht mehr. Das behinderte doch auch schon in der Vergangenheit die künstlerische Kreativität.


    Dieser Meinung bin ich überhaupt nicht. Denn ich verbinde mit einem Label ein bestimmtes Programm, eine bestimmte Künstlercrew und - besonders wichtig - einen bestimmten Tontechnikerstab. So war Christopher Parker als Beispiel der Startoningenier der EMI. Und ich wusste wie welches Orchester klang. Denn wenn wir über Orchesterklang auf CD sprechen, dann ist hier natürlich auch der Geschmack des Tontechnikers und der Klang des Equipmens mit einbezogen. Plötzlich klingt ein Orchester völlig anders, wenn es auf einem anderen Label erscheint. Es ist nicht mehr zu erkennen.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Im Folgenden habe ich mal versucht, acht bedeutende Orchester von Weltrang im Laufe der letzten 100 Jahre nach den Amtszeiten der Chefdirigenten zu gliedern


    Berliner Philharmoniker:
    27 - 25 - 7 - 35 - 13 - 13 => durchschnittlich 20 Jahre


    Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam:
    50 - 14 - 2 - 27 - 16 - 11 => durchschnittlich 20 Jahre


    London Symphony Orchestra:
    2 - 3 - 1 - 3 - 3 - 4 - 3 - 11 - 9 - 7 - 12 - 8 => durchschnittlich 5 ½ Jahre


    New York Philharmonic:
    12 - 8 - 8 - 5 - 4 - 2 - 1 - 9 - 11 - 1 - 6 - 13 - 11 - 7 - 6 => durchschnittlich 7 Jahre


    Chicago Symphony Orchstra:
    37 - 4 - 1 - 3 - 10 - 5 - 1 - 22 - 15 - 5 => durchschnittlich 10 Jahre


    Boston Symphony Orchestra:
    6 - 1 - 5 - 25 - 13 - 7 - 3 - 29 - 7 - 1 => durchschnittlich 10 Jahre


    Philadelphia Orchestra:
    26 - 44 - 12 - 10 - 5 - 4 - 3 => durchschnittlich 15 Jahre


    Cleveland Orchestra:
    15 - 10 - 3 - 24 - 2 - 10 - 18 - 13 => durchschnittlich 12 Jahre


    Auch wenn dies nur stichprobenartig erfolgte (man müsste wohl mindestens doppelt, gar dreimal so viele Orchester berücksichtigen), zeigt sich, dass es bereits früher sehr kurze Amtszeiten gab. Besonders auffällig ist das beim London SO, wo Sir Colin Davis mit zwölf Jahren bis heute am längsten amtierte (und das auch erst vor wenigen Jahren). Auch in New York gab es während des letzten Jahrhunderts nie extrem lange Amtszeiten. In Berlin sind Abbados und Rattles Amtszeiten im Vergleich zwar kürzer als jene Furtwänglers und Karajans, aber für sich genommen auch nicht unbedingt kurz. Extreme Ausreißer wie Mengelberg (50 Jahre), Ormandy (44 Jahre) und Stock (37 Jahre) waren auch damals Raritäten. Man könnte vielleicht sagen, dass Amtszeiten zwischen zehn und 20 Jahren früher eher die Regel waren als heute. In London amtierten die letzten Chefdirigenten allerdings sogar länger als durchschnittlich. Wenn z. B. Welser-Möst die 20 Jahre wirklich durchhält, ist er nach Szell der am längsten amtierende Chefdirigent in Cleveland.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Sergiu Celibidache (1945—1952). Wobei ich zugebe, dass der hier streitbar wäre.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Das denk ich wohl auch, denn Karajan war ja der Nachfolger Furtwänglers und "Celi" war nur eine interimsmäßige Vertretung für den noch nicht entnazifizierten Furtwängler. Insofern erweckt die 7 da tatsächlich einen falschen Eindruck, denn Abbado war der erste, der freiwillig ging, und das nach der bis dato kürzesten regulären(!) Amtszeit.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"