Nicolaus Bruhns – der junge „Romantiker“ des norddeutschen Barocks

  • Zitat

    Ich war erstaunt, dass ich im Forum noch keinen Thread für den den Bariton Peter Edelmann fand


    ...schrieb Operus heute. Ich war noch wesentlich mehr erstaunt, dass ich auch nach instensivem Suchen noch keinen Thread für einen der bedeutenden deutschen Komponisten fand.




    Gleich Schubert starb Bruhns im Alter von 31 Jahren, jedoch annähernd genau 100 Jahre vor dessen Geburt und am entgegengesetzten Ende Deutschlands. Das bestenfalls mittelgrosse, hansisch geprägte Husum in Nordfriesland scheint Bruhns ausreichend künstlerische Möglichkeiten geboten zu haben, um als zufriedener Musiker zu gelten, der offenbar „pflegeleichter“ als Bach war – eher erstaunlich ob seines immensen Talents. Im Zuge der Bach-Rezeption des 19. Jahrhunderts wurde auch Bruhns „wiederentdeckt“ , da er im Nekrolog ausdrücklich als ein Vorbild für Bachs Orgelkompositionen genannt wird. Bruhns Orgelwerke können zwar problemlos in den stilistischen Kontext des späten 17. Jahrhunderts eingeordnet werden, gleichwohl ist nicht verwunderlich, dass diese phantasievoll-spontanen Werke dem späteren 19. Jahrhundert als genialische Werke eines jung verstorbenen Heroen erscheinen mussten.


    Nur vier erhaltene Präludien sind es, die Bruhns den Ruf als fähigsten Komponisten des norddeutschen Orgelbarocks – nächst Buxtehude – eintrugen. Dieser basiert weniger auf Bruhnsens satztechnischen Künsten, obgleich der Komponist souverän mit doppeltem Kontrapunkt oder mehrfachen Kontrasubjekten in den Fugen zu hantieren verstand. Stärker sind die Werke durch eine improvisatorisch geprägte Affektvielfalt geprägt, mit manch rhetorischen und theatralischen Gesten versehen. Nirgendwo in der Orgelmusik dürfte sich der „Stylus phantastius“ prägnanter manifestieren als hier.


    Angesichts der problematischen Quellenlage wurden Bruhns auch weitere Werke, insbesondere auch aus dem Bachwerkverzeichnis, zugeschrieben. Das prominenteste Beispiel ist BWV 565. Das einstige Tamino-Mitglied BigBerlinBear etwa plädierte mit durchaus validen Argumenten für diese Neuzuschreibung. Auch wenn manche Aspekte für Bruhns und gegen Bach zu sprechen scheinen, entspricht diese Toccata & Fuge doch nicht recht dem bei Bruhns üblichen fünfteiligen Werkaufbau. Immerhin ist es eine reizvolle und nicht völlig abwägige Vorstellung, das berühmteste Orgelwerk der Geschichte wäre von einem in der breiten Öffentlichkeit wenig bekannten „jugendlichen Genie“ verfasst.
    [Ganz jenseits des Umstands, dass mindestens Bruhns grosses e-Moll Präludium das überzegendere Musikstück darstellt...]


    Jedenfalls zeigte Bruhns bereits als Jugendlicher Talent. Er stammte aus einer Musikerfamilie, der Vater mag bei Franz Tunder studiert haben, dessen älterer Bruder leitete die Hamburger Dommusik, der jüngere war Geiger in Lübeck. Zu Letzterem wurde Nicolaus geschickt, um sich im Violinspiel ausbilden zu lassen – mit vorzüglichem Erfolg. Bei seiner Ankunft in Lübeck konnte er bereits so gut mit der Orgel umgehen, dass er offensichtlich rasch zu einem Lieblingsschüler Buxtehudes wurde. So entwickelte er sich auf beiden Instrumenten zu einem Virtuosen – bei Mattheson findet sich eine Andeutung, Bruhns habe sich beim Geigespielen mittels Orgelpedal auch gleich die eigene Continuobegleitung geliefert.


    Für seine Fähigkeiten an der Geige spricht die technisch anspruchsvolle polyphone Sonatina, welche die Kantate „Mein Herz ist bereit“ eröffnet. Es handelt sich um eine von mehreren Solokantaten, die Bruhns für seinen Kollegen, den Husumer Kantor Georg Ferber - einen fähigen Bassisten – verfasst zu haben scheint. Diese Werke sind zwar formal gesehen durchkomponiert, tragen aber auchZüge einer „Nummernrevue“. Wesentlich zentrifugaler konzipiert scheint die grossangelegte Kantate „Die Zeit meines Abschieds“ . Hinzu kommen Choralkonzert, Ensemblekonzerte und insbesondere drei „Madrigalkantaten“ die bereits an Werke der Bachzeit erinnern. Auch wenn derartige Vokalwerke im späten 17. Jahrhundert oft affektgeladen daherkommen, ist der besondere expressive Gehalt der Bruhnsschen Beiträge bemerkenswert (Kollegen wie Geist oder Lübeck erscheinen dagegen eher blass). Auch darin mag man eine entfernte Parallele zu Schubert erkennen.

  • Grosses Präludium e-moll



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    Johann Jakob Froberger war es wohl in erster Linie, der den ursprünglich italienischen "Stylus phantasticus" nach
    Deutschland vermittelte. Als kaiserlicher Hofkomponist dürfte er sich der Aufmerksamkeit der Kollegen gewiss
    gewesen sein, und trotz der durch den Dreissigjährigen Krieg entstandenen Diskrepanzen akzeptierten wohl selbst die protestantischen
    Landstriche die Kaiserresidenz Wien weitgehend als eine Art deutscher Hauptstadt.


    Die Adaption des "verweltlichten" italienischen Stils beförderte auch die teilweise Profanisierung des
    prototypischen Kircheninstruments. Orgelkonzerte wurden in den teilweise immer noch wohlhabenden Hansestädten
    zu einer beliebten Unterhaltungsform der Bürgerschaft. Stellwagen, Hus, Schnitger und dessen ehemalige
    Gesellen lieferten die dazu passenden Instrumente. Der Organist lief dem Kantor den Rang ab und musste seine
    Fertigkeiten sowohl in virtuoser Improvisation wie in der Anwendung strenger Formen unter Beweis stellen.
    Dies galt auch für Nicolaus Bruhns in der bestenfalls mittelgrossen Nordseestadt Husum.


    Vor allem Buxtehude prägte die Ausformung der fünfteiligen Toccaten(oder Präludien-)form, durch welche
    der norddeutsche Orgelbarock als finaler Entwicklungsschritt des "Stylus phantasticus" gilt - der
    sich nie "fantastischer" manifestierte als in Bruhns Präludium e-moll. Auf den ersten Eindruck wirkt
    das Stück aufgrund der beständigen Affektwechsel und Wendungen noch kleinteiliger. Gerade die
    Momente des Originellen oder improvisiert Wirkenden bilden aber eine Konstante.


    Nach einer älteren These verdanken wir einem lerneifrigen Fünfzehnjährigen die Überlieferung des Werks.
    Der Junge hiess Johann Bernhard Bach und kam sozusagen als Lehrling in das Haus seines
    schon damals recht namhaften Onkels in Weimar. In der später sogenannten Möllerschen
    Handschrift sammelte er nicht zuletzt Kompositionen norddeutscher Orgelkomponisten: Böhm,
    Buxtehude, Heidorn, Reincken. Als Bonus fügte Onkel Sebastian eigenhändig ein
    g-moll-Präludium hinzu. Tatsächlich aber dürfte die Handschrift wohl eher zwischen
    etwa 1703 und 1707 entstanden sein, unter massgeblicher Beteiligung von
    Johann Christoph Bach (und dessen Lehrlingen...), älterem Bruder und erstem Lehrer von J.S.B. Etliche
    Werke norddeutschen Ursprungs dürfte Sebastian Bach direkt aus Lüneburg und Lübeck
    mitgebracht haben.



    /9sPJ4WvJo_o



    "Die Suche nach e-moll" könnte die Überschrift der fünftaktigen Intonatio lauten (Durch
    den vituos-improvisatorischen Anschein wird die harmonische Ausgeklügeltheit der Passage
    im wahrsten Sinne überspielt) Der tonale Spielraum wird in chromatischer Form vorgestellt -
    der überwiegende Teil der Anfangsnoten gehört zur chromatischen e-Leiter. Drängend halten die
    abwechselnden Sextakkorde nach dem Grundton Ausschau, der schliesslich mit dem Orgelpunkt gefunden wird.
    Über diesem folgen Passaggi im 18/16-Takt (bis Takt 11). Markanteste Stelle der zweiten Hälfte der Einleitungsabschnitts
    ist jener vierfache Vorhalt, der die harmonischen Grenzen der bis dato vorliegenden Orgelliteratur gesprengt
    haben dürfte.


    Eine vierstimmige Permutationsfuge mit doppeltem Kontrasubjekt plus freiem Kontrapunkt folgt ab Takt 21.
    In ihrer Regelhaftigkeit stellt sie einen betonten Komplementär zu den freien Abschnitten dar, die wild zu wuchern scheinen.
    Ein nur dreitaktiges Zwischenspiel (47-49) trennt die beiden Durchführungen.
    Eigentlich geprägt wird diese Fuge durch den betonten Kontrast des getragenen Themas in Ricercarform (das aus
    den chromatischen Tönen des Eröffnungstaktes abgeleitet ist) und
    des leichten, canzonenartigen ersten - und dominierenden - Kontrasubjekts. In einer immer mehr verunklarenden
    harmonischen Mutation klingt das Thema aus.


    Nach der angestrengten Fugenarbeit bricht das Zwischenspiel (T. 81-131) in die Freiheit aus, noch
    von Unruhe erfüllt ob der unerwarteten neuen Möglichkeiten. Dies erfolgt sogleich durch eine auftaktige , metrisch gestaute
    Quarte, aus der Akkorde hervortreten. Der improvisatorisch erscheinenden Passage wird schliesslich durch die markanten
    Quintsextakkorde und die zeitweilige Wendung nach D-Dur eine Gestalt verliehen, die durch das nach G-Dur führende
    Siciliano gleichzeitig verfestigt und verändert wird. Das von G-Dur zur Grundtonart zurückführende virtuose
    Arpeggio mag zunächst wie eine gewaltsamer Einbruch erscheinen, rekurriert aber mittels Akkorden und Metrik auf die
    ersten Passagen des Zwischenabschnitts. Ab Takt 112 erhält der Abschnitt eine festliche Gestalt im 3/2-Takt, die Zugleich an
    die Werkeröffnung anknüpft. Chromatische, synkopierte Akkorde bauen eine Spannung auf, welche durch die an das
    Mittelarpeggio erinnernde Kadenz zum Teil wieder aufgelöst wird. Durch solche Klammern wirkt dieser zentrale
    Abschnitt nicht völlig heterogen, obgleich auf kleinstem Raum geradezu "genreverändernde" Satzartwechsel vorzufinden sind.


    Mag die erste Fuge beinahe mechanisch wirken, grenzt die zweite (T 132-154) ans groteske - im wertneutralen Sinne. Fugen in
    Gigueform finden sich in der norddeutschen Orgelliterautur jener Zeit häufiger, doch nie in derart synkopierter,
    verwirrender Rhythmik. Unter den drei Durchführungen geschieht nur eine vollständig. Das zweite Zwischenspiel scheint auf eine
    Engführung hinauszulaufen, spielt dann aber auf quasi-konzertante Weise lieber doch mit dem punktierten Kopfmotiv
    (des Fugenthemas), dem in der finalen Durchführung sogar die Rolle des entscheidenden Kontrapunkts zufällt. So ist dieser gesamte Abschnitt
    sowohl Fuge als auch Fantasie und gleichzeitig eine Gigue mit folklorehaft-irregulärer Rhythmik. Passend der eigenwillige
    Echo-Pause-Schluss.


    Die Finaltoccata im 24/16-Takt ist ein Resümee. Von den Septakkorden des Beginns bis zum punktierten Achtelmotiv aus dem
    Thema der zweiten Fuge begleiten viele Anklänge an Vorangegangenes den Hörer bis zu den prunkenden Schlusstakten.



    /7-0p0dEfW_o

  • 1. Video, Schonat-Orgel -- FugaI 1:10 -- Zwischenspiel 3:42 -- FugaII 6:42 -- Finaltoccata 7:45
    2. Video, Müller-Orgel -- FugaI 1:15 -- Zwischenspiel 3:50 -- FugaII 6:25 -- Finaltoccata 7:52
    3. Video, Papenius-Orgel -- FugaI 1:47 -- Zwischenspiel 3:53 -- FugaII 6:40 -- Finaltoccata 8:02



  • Ob nun Gomberts Thread oder der 350 Geburtstag von Nikolaus Bruhns Anlass war werden wir wohl nie 100prozentig erfahren, aber auf alle Fälle gab es 2015 gleich DREI Neuerscheinungen seiner Orgelwerke. Wie gewohnt hat cpo hier die Nase vorn - ihre Einspielung stammt schon aus dem Jahre 2003. Da Brohns gesamtes Orgelwerk insgesamt eine Spieldauer von nur ca 36 Minuten aufweist haben die Tonträgerkonzerne die CD großzügigerweise mit Kompositionen anderer Komponisten ergänzt ("aufgefüllt" wäre vermutlich zu despektierlich formuliert ?)
    Wer die Wahl hat hat die Qual, wobei ja 2 der verfügbaren Aufnahmen im Budget-Bereich angesiedelt sind.....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • In dieser für wenig Geld erhältlichen Box findet sich auf der dritten CD -Kantaten vor Bach- auch eine von Nikolaus Bruhns:




    Ich liege und schlafe
    Für vierstimmigen Chor (Sopran, Alt, Tenor, Bass), vier Einzelstimmen, Streicher und BC


    Zumindest diese CD ist auch einzeln erschienen:

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

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