Hättest du die Nerven? Bewerbung um Orchesterstelle

  • Gestern war im Radio ein sechsstündiger Beitrag über Orchester und Orchestermusiker zu hören. "Fortissimo - Das Orchester im Gegenwind". Unter anderem wurde ein Vorspielen für eine neu zu besetzende Stelle des Stimmführers der Bratschen im Basler Sinfonie Orchester dokumentiert. Zitat von der Homepage SRF2 "Spiessrutenlaufen im Bewerbungskrimi: Bestens ausgebildete Musiker kämpfen für eine Orchesterstelle. Warum wollen sie das? Die Musikhochschulen der ganzen Welt spucken jährlich tausende von begabten Musikerinnen und Musikern aus. Mit einer vorzüglichen Ausbildung im Gepäck suchen sie eine Stelle im Orchester. Warum tun sie sich das Martyrium der Probespiele an?"

    Nach einer ersten Runde, in der kein passender Musiker gefunden wurde, gab es eine zweite Runde. 120 Bewerbungen, ein Drittel wurde eingeladen, 22 sind erschienen. Anreise auf eigene Kosten aus Übersee. Nur den Finalisten werden die Spesen erstattet. Am Schluss blieben zwei Bewerber übrig, die dann die Mitteilung erhielten, dass man keinen berücksichtigen werde und die Stelle vakant bleibe.


    Musiker ist ein verdammt harter Beruf. Ich hätte die Nerven nicht, das durchzustehen. Eine Musikerin, die von ihren Erfahrungen der Probespiele berichtete, musste 75 Mal sich präsentieren, ehe sie die Stelle als Orchestermusikerin erhielt. Es ist ihr Traumberuf, weshalb sie alles daransetzte, ihr Ziel zu erreichen. Dass sie ein mentales Training benötigte, erstaunt mich nicht.


    Hättest du die Nerven, diesen Stress durchzustehen?
    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Lieber moderato,



    dies ist eine sehr interessante Fragestellung. Ich weiß nicht, ob ich die Nerven hätte und es schaffen würde; zumindest würde ich es jedoch versuchen, wie hoch die Frustrationstoleranz jedoch gewesen wäre, und wieviele Anläufe ich genommen hätte, weiß ich nicht. Interessant erscheint mir jedoch der Widerspruch, dass man auf der einen Seite sensibel und empfindsam sein soll, auf der anderen Seite jedoch ein dickes Fell und Nerven aus Draht haben musst.
    Selbst wenn man es dann in die ersehnte Position geschafft hat - der Druck geht immer weiter, man muss permanent Höchstleistung bringen und den Erwartungen gerecht werden, sonst drängen andere Bewerber auch wieder nach.
    Von daher ist es auch nicht weiter erstaunlich, wenn man sich mit manchen Leuten unterhält, die an der Musikschule unterrichten -wie mein Geigenlehrer oder meine Klavierlehrerin-, die bestens ausgebildete Konzertpianisten bzw. Sologeiger sind, und die nicht (mehr) als Solist bzw. Orchestermitglied tätig sind, sondern dann mit Amateuren wie mir den ganzen Tag zubringen müssen, und die jedoch froh sind, dass sie die Stelle an der Musikschule haben; gerade was die Arbeitszeiten und Vereinbarkeit mit Familie angeht, sind diese Jobs der Orchestertätigkeit durchaus vorzuziehen, zumal ja auch sehr viele Orchester von Streichungen und Zusammenlegungen bedroht sind.


    Von daher ziehe auch ich den Hut vor jedem, der sich auf diese Prüfung und diesen Stress einlässt.

  • Es besteht ein Überangebot und, wie ich neulich gelesen habe, sind mehrere dutzend Orchester in Deutschland in den letzten 25 Jahren aufgelöst worden. Da die Musikhochschulen viele Ausländer ausbilden, die dann auch größtenteils wieder ins Ausland zurückgehen, muss man bei den Absolventenzahlen vorsichtig sein. Aber natürlich führt ein extremes Überangebot zu aufwendigen Bewerbungsverfahren. Wenn dann am Ende KEINER von 120 genommen wird, fragt man sich aber auch, was am Verfahren falsch gelaufen ist...
    (Ähnliche Zahlen gibt es in D zB auch bei Professuren: 100-200 Bewerber, 6-8 werden (nach mehreren internen Auswahlrunden der Kommission) eingeladen und am Ende sagt der Wunschkandidat ab, weil er was besseres gefunden hat, oder ein Uni-Gremium o.ä. hat Einwände gegen die "Liste" (mit den 3 Wunschkandidaten) oder die Stelle wird wegen Einsparungen doch gestrichen usw.)

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ganz ähnlich sieht es auch bei Sängerinnen und Sängern aus. In Deutschlands Mussikhochschulen und Konservatorien werden ca. 300 - 350 Absoventen mit bestandenem Abschluss jählich entlassen. Demgegenüber steht ein Bedarf der Musiktheater von 160 Stellenbesetzungen einschließlich Chor pro Jahr. Man schätzt, dass es in der BRD ca. 8.000 arbeitslose Sänger gibt. Für die Stelle einer lyrischen Sopranistin sollen sich über 300 Bewerberinnen gemeldet haben. Häüfig ist die Bezeichnung freischaffend bei Sängern eine elegantere Umschreibung des Begriffes arbeitslos. Auch der immer mehr ausufernde Wettbewerbstourismus ist of der verzweifelte Versuch, auf sich aufmerksam zu machen und vielleicht ein Preisgeld zu ergattern. Dazu kommen noch massenhaft Ausländer, die meist fertig ausgebildet ins gelobte Sängerparadies Deutschland drängen. Dabei ist das Gesangssstudium besonders lang und kostenintensiv. Deshalb wird der Traumberuf Opernsänger häufig zum Trauma!


    Hezrlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Mir scheint dieser Bewerbungsmarathon - gelinde gesagt - etwas übertrieben. War da nicht auch ein wenig Medienrummel im Spiel? Und Show? Basel sucht den Superstar an der Bratsche (BSSB). ;) Ist das auch bei anderen Orchestern so?


    Operus hat die Situation von Sängern und Musikern sehr gut beschrieben. Ich kenne auch welche, die es sehr schwer haben nach ihrer Ausbildung. Eigentlich müssten sie aber auch wissen, was auf sie zu kommt. Das kann man ihnen nicht abnehmen. Es gehört heute - in Zeiten der Globalisierung - am Ende mehr Mut als Begabung dazu, sich für eine musikalische Ausbildung zu entscheiden. Daran wird sich auch nichts ändern. Im Gegenteil. Ich sehe auf die Kunst und auf die Kultur sehr schwere Zeiten und damit heftige Verteilungskämpfe zukommen, die die großen Institute mit der stärksten Lobby gewinnen werden. Neulich sagte ein Ausbilder an einer Pianistenschule in China, wo die Talente getrimmt, aber auch verheizt werden: "Wenn wir wollten, wir könnten zehntausend Lang Lang's nach Europa schicken." Dieser Gedanke hat mich schockiert.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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  • Das ist alles ziemlich richtig, was hier geschrieben steht. Ich war lange Jahre in einem kleineren Orchester u.a. auch für Probespiele verantwortlich. Die Zahl der Bewerbungen ist sehr unterschiedlich, je nach Instrument. Eigentlich sind Bratschen noch gut dran, denn in dieser Position gab es bei uns die wenigsten Bewerbungen, also relativ gute Aussichten. Es sind ja mehrere Hürden zu überspringen. Die wichtigste ist die Einladungshürde. Es entscheidet im allgemeinen die Instrumentengruppe über Ja oder Nein. Da sollte man schon auf einige gute Erfahrungen in vernünftigen Orchestern verweisen können, dazu ist auch nicht unwichtig, wo und vor allem bei wem man studiert hat. Die Orchesterfahrungen bekommt man als Praktikant(in) oder als Aushilfe. Am schwierigsten ist die Situation wohl bei den Flöten, da gibt es vor allem bei den Damen sehr sehr viele, die das als ihr Wunschinstrument wählten. Wenn man es dann geschafft hat, eingeladen zu werden, sollte man natürlich auch kommen. Manch einen erwischt das Lampenfieber noch am frühen Morgen des Vorspieltages, der dann plötzlich erkrankungsbedingt abgesagt wird. Ist man denn da, meldet man sich an und zieht eine Nummer für die Reihenfolge des Vorspiels. Besser ist immer ziemlich am Anfang dran zu kommen, um sich nicht von den anderen nervös machen zu lassen. In der ersten Runde (hinter dem Vorhang) hat man das Pflichtkonzert zu spielen, besser gesagt den 1. Satz daraus mit Klavierbegleitung, die das Orchester stellt. Bei uns wurde immer nach 5 Vorspielen abgestimmt, weiter oder nach Hause. Daumen hoch oder runter, da war manchmal das Vorspiel sehr schnell beendet und man konnte sich wieder auf die oft recht lange Heimreise begeben. Die 2. Runde ist das Solokonzert nach Wahl. Da gibt es bei den Orchestermitgliedern schon mal Vorlieben und Abneigungen. Dann wieder gleichermassen Abstimmung und so lichtet sich wieder der Kreis. Ab der 3. Runde spielte man mit offenem Visier und das Orchester bekam die Namenslisten der eingeladenen Vorspieler/innen mit Kurzbiographie. Nun kamen ausgewählte schwierige Orchesterstellen. So ging das dann Runde für Runde weiter, bis endlich jemand auserwählt wurde. Oder auch nicht. Unter 4 bis 5 Stunden ging so etwas selten. Auch schon länger.
    Was für eine Freude bei dem- oder derjenigen, die es geschafft hat! Und Frust bei den Verlierern. Ja Nerven sollte man haben. Und bei einem Ausscheiden nachfragen , woran es gelegen hat. Es ist ja nur eine kurze Zeitdauer, die für eine Orchesterbewerbung infrage kommt. In der Regel wurden über 35jährige nicht eingeladen. Wer es bis dahin nicht geschafft hat, dem bleibt nur die Musikschule zum Unterichten und vielleicht mal die eine oder andere Mugge. Das ist bei der großen Zahl von Absolventen die Jahr für Jahr die Musikhochschulen verlassen, schon wie ein Lottogewinn, eine Stelle zu bekommen. Und wenn man sie hat, muss man bei den Einstiegsgehältern in kleineren bis mittleren Orchestern schon ziemlicher Idealist sein und zusehen, sich irgendwie noch ein Zubrot zu erwirtschaften.
    :hello:

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP