Legenden auf dem Prüfstand: Schumanns 4. Symphonie unter Furtwängler (1953)


  • Die an einem einzigen Tag (14. Mai 1953) in der Berliner Jesus-Christus-Kirche entstandene Einspielung der Deutschen Grammophon-Gesellschaft, die Furtwängler gewissermaßen live unter Studio-Bedingungen dirigierte, gilt als einer der ganz großen Klassiker in der Diskographie von Schumanns wohl meist eingespielter Symphonie. Mit seinen Berliner Philharmonikern legte Wilhelm Furtwängler hier eine Referenzaufnahme vor, die vielen als Sternstunde der Schallplattengeschichte gilt. Doch machen ihr heute, über 60 Jahre später, nicht doch andere Aufnahmen diesen Rang streitig?


    Spielzeiten:


    I. 11:52
    II. 5:21
    III. 5:56
    IV. 7:50

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Diese Aufnahme ist schon allein wegen des pausenlosen Übergangs vom dritten zum vierten Satz unerreicht. Niemand hat das so hingekommen wie Furtwängler. Vor ihm niemand und nach ihm nicht. Selbst Karajan, der sich in einem Interview darüber bewundernd geäußert hat, räumte ein, das nie so gekonnt zu haben. Man kann es ja selbst nachhören. Für Karajan will ein solches künstlerisches Lob, das mehr ein Eingeständnis ist, wirklich etwas heißen. Ich kann mir Liebe zur Musik überhaupt nicht vorstellen ohne diese Sinfonie unter Furtwängler. Das hat jetzt nichts zu tun mit Mono, Stereo, HIP und was weiß ich noch. Daran können sich nach meiner festen Überzeugung die Geister und Geschmäcker gar nicht scheiden. Das ist Genialität, die unabhängig von solchen Dingen besteht.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Niemand hat das so hingekommen wie Furtwängler. Vor ihm niemand und nach ihm nicht.

    Wer weiß schon, wie vor Furtwängler etwa Robert Schumann himself (bei der Uraufführung der Endfassung am 15. Mai 1854 oder bei deren Voraufführung am 30. Dezember 1852) das hinbekommen hat? ;)

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ich finde, dass die Introduktion des ersten Satzes unter Furtwängler völlig unerreicht ist. Ich habe mir jüngst die Kartajan-Aufnahme zugelegt und bemerkt, wie völlig unterschiedlich die beiden Einspielungen unter Karajan mit den Wienern und den Berlinern sind, die mir eine zu große Härte aufweisen (die Berliner). Außerdem finde ich das Violinsolo (Schwalbé) der Berlin zu kühl und emotionslos.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Nachdem ich mir gestern die Aufnahme noch einmal angehört habe und gleich danach den einzigen Live-Mitschnitt Furtwänglers von dem Werk vom 26. August 1953 aus Luzern (zu finden bei YouTube), einige Anmerkungen von mir:


    Wenn man nur die offizielle Studioaufnahme kennt, ist man an und für sich bereits gut bedient. Indes springt bei mir der Funke live doch nochmal mehr herüber. Furtwängler war ganz einfach ein Live-Dirigent, keine neue Erkenntnis. Die etwas neutrale Tontechnik der DG-Aufnahme glättet in meinen Augen auch die Interpretation ab. In Luzern wirkt das alles direkter, unmittelbarer. Die Blechbläser und die Pauken sind in Luzern deutlicher hervorgehoben, wie man es von diesem Dirigenten eigentlich kennt und schätzt. Entweder hat die Studioatmosphäre den Dirigenten vergleichsweise doch behindert oder aber die Tontechniker waren zu übereifrig.


    Weitere Aufnahmen, die sich m. E. mit der legendären von Furtwängler messen können, sind folgende:


    - NWDR-Sinfonieorchester/Busch (1951 live)
    - Wiener Philharmoniker/Knappertsbusch (1962 live)
    - Philadelphia Orchestra/Klemperer (1962 live)
    - Münchner Philharmoniker/Celibidache (1986 live)


    Müsste ich mich für eine entscheiden, dann nähme ich den Kna, aber ich betone nochmal, dass alle aufgelisteten für meine Begriffe referenzträchtig sind.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Hallo Josef,


    ich hatte gestern versucht mir die entsprechende Furtwängler-Aufnahme 1953 auf YT anzuhören (wo sie auch in 4 YT-Dateien vorhanden ist). Jedoch hatte ich (wie hier und da schonmal) keinen Zugriff. Offenbar will man verhindern, dass in Germany der Zugang möglich ist, damit man die CD kauft. Kann ich ja vertehen (auch bei dem CD-Preis), denn nicht nur ich wäre in diesem Falle (wo Klangtechnisch sowie nicht viel bei rum kommt) ja mit der Datei zufrieden gewesen :untertauch: .
    Ich habe dann mal in die von Dir heute genannte Luzern-Aufnahme reingehört, die ohne weiteres lief. Abgesehen von der absolut schlimmen Klangtechnik, merkte man schon, dass da eine :angel: unfassbar wahnsinnige Interpretation stattgefunden hat. Aber der wirkliche Hörspass hört dann mit dem gebotenen historischen Gequäke doch irgendwo auf, das Ganze durchzuhören.
    Auch mal in Klemperer reingehört - auch das war klangtechnisch ein ziemlich trockenes abgehacktes Gewusel.



    Reingold und Dr.Pingel hoben in ihren Beiträgen auf die Karajan-Aufnahmen (DG) ab.
    Eine Aufnahme die ich hoch schätze, die mein Erstzugang auf LP und auch heutzutage auf CD von mir immer wieder gerne zum Hören ausgewählt wird. Das die Berliner Aufnahme eine grössere Härte aufweist habe ich so noch nicht betrachtet, kommt mir warscheinlich ohnehin entgegen, da mir schon wegen der Prägung diese Berliner Aufnahme besser gefällt. Und das Schwalbe (Solovioline) zu kühl wirkt, würde ich nun wirklich nicht sagen.


    Ein offenbares Eingeständnis von Karajan (es so wie Furtwängler zu schätzen) sollte ja dazu führen, es in den zahlreichen Aufführungen und Aufnahmen seit Furtwängler genau so zu machen.
    Ich habe mir gestern mal die Probenarbeiten Karajan´s mit den Wiener Sinfonikern angegesehen und war erneut platt mit welcher Kenntnis und akribischen Genauigkeit selbst scheinbar Unwichtiges genaustens von den Musikern nach Karajan´s Wünschen umgesetzt werden muss. Um zu erahnen was ich meine, schaut mal in die YT-Datei mit diesen Probenarbeiten hinein:
    Auch das Ergebnis (die Sinfonie Nr.4 als Ganzes) mit den Wiener Sinfonikern ist dann äusserst packend anzuhören.


    watch?v=ZqEyqAcoJRQ

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Doch machen ihr heute, über 60 Jahre später, nicht doch andere Aufnahmen diesen Rang streitig?


    Eigendlich schade, dass sich so wenige für dieses interessante Thema Schumann 4 interessieren.


    Josefs Beitrag hat bei mir in den letzten Tagen einen Schub ausgelöst, die Vierte in den unterschiedlichsten Aufnahmen zu hören. :angel: Das Werk an sich (ohne Vergleichshören) ist ja schon der Hörspass pur !
    Darunter neben der dramatischen Karajan-Aufnahme (DG), auch die TOP-Alternativen mit Levine (DG), Solti (Decca), Bernstein (SONY und DG), natürlich Szell (SONY).


    An emotionaler Grösse steht auch diese Bernstein-Aufnahme mit den Wiener PH (DG) an vorderster Front, um Josefs Zitat zu rechtfertigen.
    :angel: Als Video mit zusätzlichem optischen Reiz kommt noch mal ein Bonus der Begeisterung dazu, der über das CD-Hören hinaus geht. ;) Und das dann in astreiner Aufnahmetechnik ... auf CD oder DVD ein "Must Have"


    Hier auf YouTube kann man bewundern, wie fastzinierend auch Bernstein der Übergang 3.-4.Satz gelingt; und nicht nur das - die ganze Sinfonie Nr.4:
    watch?v=aXkZwsqP-4A

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Eigendlich schade, dass sich so wenige für dieses interessante Thema Schumann 4 interessieren.

    Na, also 211 Zugriffe in 5 Tagen finde ich jetzt nicht ein so geringes Echo. Der Volkmannthread hat 296 in einem ganzen Jahr. Aber ein Problem, was mir zunehmend Schwierigkeiten bereitet: wenn man hier mehrere threads gleichzeitig aktiv verfolgt, hat man nach kurzer Zeit eine "Hörliste" angehäuft, deren Abarbeitung zwei Wochen dauert. Inzwischen sind aber dutzende neuer threads eröffnet bzw alte mit interessanten neuen Beobachtungen aktualisiert, so dass man dann vier Wochen bräuchte, um wieder mitreden zu können. Ich kenne natürlich sowohl die 4. mit Furtwängler als auch die mit Bernstein (NYPO und Wien), aber habe sie vor Jahren das letzte Mal gehört. Und da ich keine Hörprotokolle führe, mag ich dann nichts sagen, bevor ich sie nicht neu gehört habe.

  • Hier auf YouTube kann man bewundern, wie fastzinierend auch Bernstein der Übergang 3.-4.Satz gelingt; und nicht nur das - die ganze Sinfonie Nr.4:


    Sehr wohl. Das macht er wirklich hinreißend. Bei Furtwängler ist dieser Übergang aber fast schon dämonisch. Ich bin froh, dass Du mich wieder auf Bernsteins Schumann bringst, lieber teleton. Selbst habe ich ihn "nur" mit der Ersten erlebt. Es spielten auch die Wiener Philharmoniker. Das war eines meiner gewaltigsten Erlebnisse. Mehr geht nicht. Hier war es der hinreißenden Beginn, der einen von den Stühlen riss. Ich glaube, Bernsteins Stärke bei Schumann liegt darin, dass er diesen gewaltigen Schwung in dieser Musik entfesselt. Er ist nach meinem Empfinden nicht so grüblerisch und nicht so depressiv.


    Und ist es denn so schlimm, dass sich nur wenige für Schumanns 4. Sinfonie interessieren? Mich stimmt das ehr froh, denn ich kann mit Masse nicht gut umgehen. Ich meide sie, wo ich nur kann.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent