Künstlerische Freiheit? - ein trügerischer Schutzschild

  • Man wird mir vorwerfen, daß es einen derartigen Thread bereits gibt, nämlich diesen:
    Regietheater und künstlerische Freiheit
    -aber das stimmt nicht. Richtig ist, daß er den Anlass zu diesem Thread gab, der hier soeben gestartet wird.
    Der neue Thread war notwendig, da der hier zitierte bereits 223 Beiträge aufweist und aus diesem Grunde kaum zu überschauen ist. Und ausserdem ist er aufs Regietheater fixiert - was dieser hier nicht sein sollte - er ist allgemein angedacht - obwohl ich mir keine Illusionen mache wohin er vermutlich abdriften wird.
    Künstlerische Freiheit - also auch in der bildenden Kunst - der Literatur - und der Musik im allgemeinen - hat es sie je wirklich gegeben? - ich behaupte nein. Das werde ich im Laufe dieses Threads zu erläutern versuchen. Interessant ist, daß der oben angeführte Thread recht viele Beiträge ergattern konnte - aber von Mitliesern mit ca 4500 Seitenaufrufen zwar wahrgenommen aber nicht so gut frequentiert wurde , wie dies bei den gewählten Reizthemen sonst der Fall ist.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Künstlerische Freiheit - also auch in der bildenden Kunst - der Literatur - und der Musik im allgemeinen - hat es sie je wirklich gegeben? - ich behaupte nein.


    Lieber Alfred, wie verstehst Du dieses entscheidende "je"? Welche zeitlich-historische Einordnung legst Du zugrunde? Oder ist es mehr Deine gefühlter Eindruck ganz allgemein? Über Aufklärung wäre ich sehr dankbar.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Lieber Alfred,


    zwar erwähnst du im Zusammenhang mit künstlerischer Freiheit wieder einmal das sogenannte "Regietheater", aber das hat für mich mit der Frage überhaupt nichts zu tun, da ich das gar nicht als "Kunst" anzuerkennen vermag. Künstlerische Freiheit kann sich in meinen Augen nur auf den beziehen, der eigenständige Werke schafft, nicht aber für den, der die Werke anderer missbraucht und das dann als "Kunst" bezeichnet haben möchte. Daher hat für mich das sogenannte "Regietheater" in diesem Thema nichts zu suchen.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Lieber Gerhard,


    du schreibst einmal mehr:


    aber das [Regietheater] hat für mich mit der Frage überhaupt nichts zu tun, da ich das garnicht als "Kunst" anzuerkennen vermag. Künstlerische Freiheit kann sich in meinen Augen nur auf den beziehen, der eigenständige Werke schafft,


    ohne nun in einen Streit zur Definition des Begriffes Kunst einsteigen zu wollen, sind demgemäß auch Schauspieler/innen, der Sänger/innen oder Dirigenten/innen keine Künstler in Deinem Sinne, denn auch sie schaffen bei ihrer Darbietung meistens nichts eigenes bzw. eigenständiges im originären Sinne. Ein Botha singt die Noten, die Wagner vorgegeben hat, genauso wie ein Bieto das von Wagner vorgegebene Libretto umsetzt. - Käme nun der Einwand, dass der Vergleich hinkt, weil Bieto sich ja gerade nicht an die Vorgaben Wagners hielte, wird es noch ein wenig schwieriger, denn dann würde Bieto im Vergleich zu Botha ja tatsächlich etwas eigenständiges schaffen und wäre somit mehr Künstler, als Bieto ...


    Ich will Dich oder andere mit dieser Feststellung keinesfalls verärgern, allerdings handelt es sich hier doch wohl um ein Problem, welches man m.E. nicht einfach als Sophismus von der Hand weisen kann.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Was ist denn mit "künstlerischer Freiheit" gemeint? Es gibt doch mindestens drei unterschiedliche Verwendungsweisen


    1) Freiheit der Kunst (wie im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 5), also Freiheit von Zensur u.a. Zwängen (das heißt juristisch nicht, dass Kunst automatisch alles darf, aber dass ihre Freiheit ein sehr hohes Gut ist und abgewogen werden muss gegen zB Persönlichkeitsrechte die vor Beleidigung schützen usw.)


    2) Künstlerische Freiheit bei der Gestaltung historischer Sujets. Z.B. entspricht die Handlung in Schillers und Verdis Don Carlos nicht genau den historischen Vorkommnissen, aber in solchen Abweichungen besteht eben die Freiheit. Analog gilt das auch für die Landsknechte statt Legionären auf der Kreuzigung und für alle möglichen Abweichungen, sei es auch in der Grammatik oder Logik; ein Gedicht ist keine Abhandlung und "darf" mehr.


    3) Freiheit eines Interpreten. Ohne die könnte man das Forum wohl zusperren; denn diesbezügliche Unterschiede zwischen zB Michelangeli, Gulda, Brendel, Schnabel.... bei einer Beethovensonate machen ja einen wesentlichen Teil der Postings aus.


    Dass es 2 und 3 gibt und gegeben hat, halte ich für offensichtlich. 1 ist, obwohl Grundrecht, freilich eine relativ späte und vielleicht in Einzelfällen umstritten. Aber, wie gesagt, obliegt die Entscheidung in einem fundamentalen Konflikt (wie bei einer bösartigen Karikatur u.ä.) dann den entsprechenden Gerichten.
    Gerade die Musik hatte allerdings, das normalerweise offensichtliche Inhalte fehlen (politisch Lied = garstig Lied bezieht sich kaum auf die Musik), selbst in wesentlich repressiveren Zeiten eher selten offene Konflikte mit mangelnder Anerkennung dieses Grundrechts. Was Beethoven oder Schubert im restaurativen Wien störte, war wohl kaum ein direktes Eingreifen in ihre musikalische Tätigkeit (hat es meines Wissens auch nicht gegeben), sondern eher die allgemeine Metternich-Stasi-Atmosphäre.

    Struck by the sounds before the sun,
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  • Lieber Michael,


    das sehe ich anders. Die Kunst des Sängers liegt in der Beherrschung seiner Stimme, die Kunst des Interpreten in der seines Instruments. Beide bleiben innerhalb der Vorgaben des Schöpfers. Sie verändern und entstellen das Werk nicht. Die Kunst des Regisseurs liegt darin, das Werk im Rahmen der Vorgaben des Schöpfers umzusetzen. Das sogenannte Regietheater aber beherrscht gerade das nicht, sondern verändert willkürlich einen Teil des Originalwerks. Zu der vom Regisseur erfundenen Handlung bedient er sich aber der beiden anderen wichtigen Teile eines fremden Werks, nämlich des Textes - auch wenn dieser überhaupt nicht zur Handlung passt - und der Musik. Er plagiiert damit, indem er zwei Drittel eines fremden Werkes missbraucht um seine auf Event fixe Idee an den Mann zu bringen und es auf "Action" zu trimmen.
    Mir geht es nicht darum, das das Werk so wiedergegeben werden soll, wie es im Jahrhundert seiner Entstehung wiedergegeben wurde. Ich habe nichts gegen Anwendung moderner Bühnentechniken und plädiere auch nicht für überladene Bühnenbilder. Für mich soll aber die Zeit und der Ort, in der das Werk spielt, erkennbar bleiben und nicht noch allerhand alberne Faxen drumherum erfunden werden (z.B. schon "Action" während der Ouvertüre oder allerhand zusätzliche Figuren, dazu oft unsinnige Verrenkungen)
    Ich habe gerade am letzten Wochenende mit vielen Teilnehmern - Künstlern und einfachen Musikliebhabern - über dieses Thema gesprochen. Wir waren uns alle einig, dass das Gehabe sich modisch wähnender Regisseure auf "Events" hin zielt, mit denen sie das moderne Publikum anzulocken glauben und damit die Oper immer mehr ins Triviale entwerten. Und so etwas soll ich gar noch "Kunst" nennen?? Nie und nimmer!
    Ein bekannter Sänger, der lange in Bayreuth gesungen hat, heute dort jährlich Ehrengast ist und mit dem ich beim Künstlertreffen ein längeres Gespräch hatte, sagte mir,dass er sich diesen Mist heute nicht mehr ansehe. Spätestens nach dem ersten Akt verlasse er den Zuschauerraum und setze sich in die Kneipe, um davon abzuschalten.
    Deswegen gehört das sogenannte Regietheater für mich nicht in ein Thema, in dem von Freiheit der "Kunst" die Rede ist.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Zitat

    ohne nun in einen Streit zur Definition des Begriffes Kunst einsteigen zu wollen, sind demgemäß auch Schauspieler/innen, der Sänger/innen oder Dirigenten/innen keine Künstler in Deinem Sinne, denn auch sie schaffen bei ihrer Darbietung meistens nichts eigenes bzw. eigenständiges im originären Sinne. Ein Botha singt die Noten, die Wagner vorgegeben hat,

    Geanu so hat man in vergangegnen Jahrhunderten Sänger gesehen - wobei man - und das galt natürlich auch für Violinvirtuosen und Pianisten - man die "Virtuosität" gerühmt hat - und nicht die "Erfindergabe" - Virtuosität war gleichzusetzen mit "handwerklicher Geschicklichkeit" - und nicht mit "Kunst" - Das haben spätere Generationen auch richtig erkannt und als falsche Konsequenz den "Virtuosen" abgewertet. Ich ziehe jedenfalls einen exzellenten Handwerker einem Möchtegern-Künstler vor. Das zählt auch für die Malerei, wo ich einen gut kopierten Rembrandt lieber im Zimmer hängen hätte als einen originalen Chagall - abgesehen vom Wert als Spekulationsobjekt...



    Zitat

    genauso wie ein Bieto das von Wagner vorgegebene Libretto umsetzt. - Käme nun der Einwand, dass der Vergleich hinkt, weil Bieto sich ja gerade nicht an die Vorgaben Wagners hielte, wird es noch ein wenig schwieriger, denn dann würde Bieto im Vergleich zu Botha ja tatsächlich etwas eigenständiges schaffen und wäre somit mehr Künstler, als Bieto ...

    Das ist eben auch ein Sophismus. Denn nur das wenigste, das heute "eigenständig geschaffen" wird, kann heute als "Kunstwerk" bezeichnet werden - vieles davon ist nur ein geschmackloses Machwerk - das bezieht sich wieder auf ALLE Bereiche des Schaffens......


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Künstlerische Freiheiten wurden von vielen Komponisten in ihr Werk hineinkomponiert. Da steht dann "ad libitum". Die anderen Teile waren nicht ad libitum. Beispiele:


    1. "Immortal Bach" für Chor zu 4 Stimmen von Knut Nystedt. In der 1. Strophe wird der Choral "Komm, süßer Tod" in der Originalfassung gesungen. In der Wiederholung schreibt Nystedt vor, dass jede Zeile einzeln von jedem einzelnen Sänger im Tempo so gestaltet wird, wie es diesem passt. Am Schluss jeder Zeile trifft man sich auf Zeichen des Dirigenten. Also künstlerische Freiheit im Rahmen des vom Dirigenten vorgegebenen Zeitmaßes. Künstlerische Freiheit: darf der Dirigent den Choral gegen einen anderen auswechseln? Nein.


    2. "Epitaph for Moonlight" von Murray Schafer, für Chor und klingende Nichtinstrumente. Hier gibt der Komponist den zeitlichen Ablauf und einige Klangelemente vor, die Musiker haben dabei alle Freiheit, wie sie das ausführen. Künstlerische Freiheit: darf der Dirigent auf Vorschlag von Dr. Pingel das Stück für 15 Hunde und drei Vuvuzelas spielen? Nur, wenn er es als eigenes Stück ausgibt.


    3. Schlussterzett "Rosenkavalier": die Damen verschwinden und drei als Türken kostümierte Bässe exekutieren (wie wahr!) das Stück.


    4. "Die Winterreise": über der Partitur steht: in künstlerischer Freiheit sind in jedem Lied 15 Triller und 22 Seufzer einzufügen. Steht da aber nicht.


    5. Händel - Opern und Oratorien: da war es üblich, den Sängern zu erlauben, Verzierungen anzubringen, also erlaubt. Aber der Rahmen war eng.


    6. Wagner Rheingold, Regieanweisung erster Akt. Wagner stellt zur Wahl: In der Tiefe des Rheines/ An einer Tankstelle an der Route 66. Wagner Thannhäuser: Über dem 1. Akt: Venusberg/ Biogasanlage.


    Nu komms du (Kuddl Schnööof alias Jochen Steffen)

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Eine Kadenz ist wohl im Instrumentalkonzert das bekannteste Beispiel für künstlerische Freiheit. Hier hat man die Wahl zwischen der Kadenz des Komponisten, anderer Kadenzen andere Komponisten oder Solisten oder einer eigenen. Die Wahl hat man aber nur hier.


    Den Begriff "Kadenz" im Instrumentalkonzert hätte ich gerne mal erklärt, die Sachen bei Wikipedia verstehe ich nicht so ganz. Meine "Heimaterklärung" für Kadenz im Solokonzert ist nicht gerade schmeichelhaft und mit Sicherheit falsch. Kadenz kommt sicher von cadere - fallen. Aber was fällt da? Bei mir, der ich Instrumentalkonzerte hinnehme, nicht liebe oder regelrecht verabscheue, fällt da eindeutig die Spannung, weil hier die reine Show der leeren Virtuosität abgezogen wird. So ist es kein Wunder, dass es bei meinem Lieblingskonzert, dem Violinkonzert "Seelenwanderung" von Janacek, gar keine Kadenz gibt.


    Bitte mich nicht belehren in folgender Hinsicht: ich weiß, das der Janacek ein rekonstruiertes Konzert ist. Auch weiß ich, dass es ohne Virtuosität keine anständige Musik gibt, daher auch die Betonung auf leer. Welche Komponisten sich hier besonders hervortun, lasse ich jetzt mal dahingestellt sein, aber es gibt jede Menge davon, die daher auch mir mit Inbrunst ungehört bleiben müssen bzw. von euch gehört werden.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Geanu so hat man in vergangegnen Jahrhunderten Sänger gesehen - wobei man - und das galt natürlich auch für Violinvirtuosen und Pianisten - man die "Virtuosität" gerühmt hat - und nicht die "Erfindergabe" - Virtuosität war gleichzusetzen mit "handwerklicher Geschicklichkeit" - und nicht mit "Kunst" -


    Das kann man so einfach nicht sagen. Bis zu Mozarts Zeiten (und teilweise bis Schumanns) gehörte zur "handwerklichen Geschicklichkeit" auch kreative Improvisation. Wenn man einen Musiker im 18. Jhd. einen "guten Adagio-Spieler" nannte, meinte man, dass er in der Lage war, die langsamen Sätze geschmackvoll und originell auszuzieren. Dass ein Komponist wagt, einem Sänger oder Spieler exakt vorzuschreiben, was er zu tun und zu lassen hat, war damals selten und neuartig. Bach hat in seinen Werken Auszierungen so ausführlich hingeschrieben, weil sie oft für unerfahrene Sängerknaben komponiert waren bzw. (die Klavier- und Orgelwerke) auch didaktischen Charakter hatten. Händel geriet mit einem Sänger in Streit, da dieser sich zuerst weigerte, eine sehr schlichte Arie zu singen ("Verdi prati" aus Alcina).
    Dass ein Musiker "Diener" des Komponisten sein sollte, ist eine "Errungenschaft des 19. Jhds. Vorher haben die Diven und Virtuosen den Komponisten was gehustet...

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  • Das kann man so einfach nicht sagen. Bis zu Mozarts Zeiten (und teilweise bis Schumanns) gehörte zur "handwerklichen Geschicklichkeit" auch kreative Improvisation. Wenn man einen Musiker im 18. Jhd. einen "guten Adagio-Spieler" nannte, meinte man, dass er in der Lage war, die langsamen Sätze geschmackvoll und originell auszuzieren. Dass ein Komponist wagt, einem Sänger oder Spieler exakt vorzuschreiben, was er zu tun und zu lassen hat, war damals selten und neuartig. Bach hat in seinen Werken Auszierungen so ausführlich hingeschrieben, weil sie oft für unerfahrene Sängerknaben komponiert waren bzw. (die Klavier- und Orgelwerke) auch didaktischen Charakter hatten. Händel geriet mit einem Sänger in Streit, da dieser sich zuerst weigerte, eine sehr schlichte Arie zu singen ("Verdi prati" aus Alcina).
    Dass ein Musiker "Diener" des Komponisten sein sollte, ist eine "Errungenschaft des 19. Jhds. Vorher haben die Diven und Virtuosen den Komponisten was gehustet...


    Und umgekehrt: Haben sich Bach oder Händel nicht selbst als Handwerker betrachtet? Sogar Hindemith hat anscheinend so etwas geäußert und den Komponisten und Musiker mehr als Handwerker denn als Künstler gesehen, wenn man dem entsprechendem Wikipedia-Artikel glauben darf. Und der Wikipedia-Artikel zum Stichwort »Künstler« legt dar, dass die Abgrenzung zwischen Handwerk und Kunsthandwerk fließend ist. Hier wird übrigens der Begriff »eigenschöpferisch« bei Musikern, Dirigenten, Schauspielern und Regisseuren auch auf reproduzierende Tätigkeiten als künstlerisch ausgedehnt.
    Man muss dem natürlich nicht folgen. Es ist ja kein Verbrechen, die eigenen Geschmacksvorlieben – zumindest für sich selbst – als allein gültig zu setzen. Nur wird es dann irgendwann schwierig, sich mit Anderen, die andere Vorstellungen haben, überhaupt sinnvoll zu unterhalten. Deswegen kommt man ja auch beim Thema Regietheater immer wieder an einen Punkt, wo es sinnlos wird, weiter zu diskutieren.

  • J.S.Bach gibt dem Interpreten die Möglichkeit, den Mittensatz seines 3. Brandenburgischen Konzertes gänzlich frei zu gestalten.
    Erstaunlich ist, dass es kaum Interpreten gibt, die das können bzw. die das machen.
    Meistens beschränkt sich der 2. Satz auf die wenigen vom Komponisten vorgegebenen Anfangsnoten oder es wird eine andere Komposition Bachs eingeschoben.
    Bach überläßt häufig in seinen 6 Brandenburgische Konzerte -meistens in den Kopfsätzen- die Tempowahl den Interpreten. Und wenn keine Tempobezeichnungen vorgegeben sind, kann es entweder zerdehnt oder rasend schnell klingen, sofern nicht ein Mittelmaß genommen wird.

    mfG
    Michael

  • Für mich soll aber die Zeit und der Ort, in der das Werk spielt, erkennbar bleiben

    Das ist ja nicht immer so einfach. Eine Angabe wie Kleists »Im Zelt des Fürsten« lässt sich auf der Bühne vermutlich noch relativ einfach umsetzen, zwar nicht realitätsgetreu (wie sollten sich ein paar Hundert Zuschauer vor dem Zelteingang drängen, um zu sehen, was darin vor sich geht?), aber doch mehr oder weniger »erkennbar«. Trotzdem wird man zugeben müssen, dass es im Einzelfall auch von der Phantasie des einzelnen Zuschauers abhängen wird, ob er Zeit und Ort erkennt oder nicht. Wie weit darf der Regisseur da abstrahieren oder auf welches Phantasie-»Nie=Wo« (Arno Schmidt) muss er heruntergehen? Und wenn man Wikipedia folgen möchte, so ist eine Regieanweisung ja sowieso nur »ein Teil eines Dramentexts, der Empfehlungen [also eben nicht verbindliche Vorschriften] für die szenische Umsetzung gibt« (http://de.wikipedia.org/wiki/Regieanweisung). Nun muss man das nicht so sehen, aber es ist doch immerhin zur Kenntnis zu nehmen, dass man es so sehen kann, ohne damit zwangsläufig falsch zu liegen.


    Ein weiterer Gedanke: Ich habe neulich – zum ersten Mal in meinem Leben – den Faust gelesen und bei verschiedenen Szenen konnte ich mir nicht vorstellen, wie sich das denn überhaupt auf einer Bühne darstellen lassen soll. Darf der Regisseur solche »unspielbaren« Szenen dann auslassen oder muss er sich trotzdem etwas einfallen lassen? Und wenn er muss, darf er dann nicht vielleicht auch Szenen, die für sich genommen zwar »realistisch« oder »erkennbar« darzustellen wären, verfremden, damit sie zu den »unspielbaren« passen und damit die Einheit gewahrt wird?

    Der Regisseur wird und muss wohl immer wieder auch selbst schöpferischer Künstler sein und den Text »interpretieren«. Ich würde es nicht wagen ihm vorzuschreiben, wie er Oberflächenhandlung und mehr oder weniger verborgenen oder »eigentlichen« Sinn zu behandeln oder zu gewichten hat, wie viel oder wenig von dem, was der Autor an Ort und Zeit vorgegeben hat, erkennbar bleiben muss. Ich kann allenfalls für mich im Einzelfall sagen, dass ich persönlich etwas nicht nachvollziehbar fand oder dass mir etwas gefallen oder missfallen hat. Aber ich kann nicht sagen, der Regisseur darf das oder jenes nicht.

  • Ich ziehe jedenfalls einen exzellenten Handwerker einem Möchtegern-Künstler vor. Das zählt auch für die Malerei, wo ich einen gut kopierten Rembrandt lieber im Zimmer hängen hätte als einen originalen Chagall

    Unterstellst Du damit Malern wie Chagall, dass sie handwerklich weniger gekonnt hätten als Rembrandt? Das fände ich eine gewagte Aussage. Ich gehe eher davon aus, dass sie ihr Handwerk sehr wohl beherrscht haben, auch wenn sie mit ihrem Handwerkszeug so umgegangen sind, dass Dir das Ergebnis nicht mehr gefällt. Die Bezeichnung »Möchtegern-Künstler« wäre dann nur eine ungerechtfertigte Herabwürdigung und Beleidigung.


    Das hier habe ich neulich gelesen, es scheint mir zu passen: »Selbstverständlich hatte Mozart ein besonderes Talent, aber ausgerechnet er (und andere exzeptionelle Komponisten) bekam die strengste Ausbildung, die sich vorstellen läßt. Auch an Pablo Picasso kann hier gedacht werden, der wie Mozart deshalb keine Kindheit hatte oder haben durfte.« (http://www.nmz.de/artikel/gefu…r-ist-komponieren-lernbar)

  • Ja klar, Musik war "Handwerk" (es wurde ja noch zur Zeit Bachs in Deutschland auch in ähnlicher Weise gelehrt und gelernt). Aber dieses Handwerk umfasste eben weit mehr als nur das "Nachschöpfen", zumal fast alle professionellen Musiker sowohl Komponisten als auch Interpreten gewesen sind.
    Und solche "Kunsthandwerker" waren ähnlich wie die großen bildenden Künstler schon in der Renaissance keineswegs frei von Star-Allüren. Wie ja auch heute rein nachschaffende Künstler sich als Diven gebärden.


    Zumindest im Ansatz findet sich dieses Überlappen auch noch bis ins 20. Jhd., zB Busoni, für den es anscheinend ein "Dienst" an Bachs Musik war, diese für seine Aufführungen zu bearbeiten. Oder Rachmaninoff, der bei Schumanns Carnaval (o.ä.) einzelne Stücke weggelassen.


    Ich habe bei dem Thread mal wieder den Verdacht, dass Freiheit nur so lange geschätzt wird, so lange keiner etwas mit seiner Freiheit anstellt, was mir nicht passt.

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  • Ich habe bei dem Thread mal wieder den Verdacht, dass Freiheit nur so lange geschätzt wird, so lange keiner etwas mit seiner Freiheit anstellt, was mir nicht passt.


    Freiheit war wohl schon immer im Wesentlichen die Freiheit des Genausodenkenden.

  • Ich habe bei dem Thread mal wieder den Verdacht, dass Freiheit nur so lange geschätzt wird, so lange keiner etwas mit seiner Freiheit anstellt, was mir nicht passt.


    Da ist was dran. Nur soll man dann seine Abneigung entsprechend formulieren, indem man nicht allgemeine Verdikte ausspricht, sondern sagt, dass ich bestimmte Dinge aus bestimmten Gründen nicht auf der Bühne sehen will.


    Beispiele: ich kann Johan Botha als Parsifal nicht akzeptieren. Ich kann fette nackte Frauen und Männer auf der Bühne nicht akzeptieren. Für mich verbindet sich der Tannhäuser nicht mit einer Biogasanlage. So etwas zu sagen, habe ich ein absolutes Recht, ohne dass man mich als fortschrittsfeindlich brandmarken kann.


    Das könnte dazu führen, dass vielleicht neben das RT auch wieder konventionellere Inszenierungen gestellt würden. Das ist z.B. eine Minimalforderung, die ich erst mal durchaus akzeptieren würde.

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  • Eine Kadenz ist wohl im Instrumentalkonzert das bekannteste Beispiel für künstlerische Freiheit. Hier hat man die Wahl zwischen der Kadenz des Komponisten, anderer Kadenzen andere Komponisten oder Solisten oder einer eigenen. Die Wahl hat man aber nur hier.

    Zumindest in barocken, teils auch noch bei Mozart muss der Interpret nicht nur in Kadenz durchaus mitgestalten. Es sind nicht alle Verzierungen usw. notiert. (Es gibt bei Mozart wohl einige Fälle, meiner Erinnerung nach besonders KV 537, in denen der Klavierpart stellenweise nur "skizzenhaft" notiert ist.)
    Insofern ist ab ca. Beethoven die Kadenz freilich eine Art Anachronismus, eine Insel, auf der dem Interpreten besonders Freiheit eingeräumt wird.
    Andererseits ist bei Beethoven (und vielen folgenden Komponisten) die Freiheit schon wieder eingeschränkt, weil Beethoven im 5. Klavierkonzert explizit keine Kadenz mehr freistellt, sondern eine "Kadenz" fest einkomponiert. Und seine eigenen Kadenzen für die anderen Konzerte (beim VK für die Klavierfassung) sind durchweg eine Art "zweite Durchführung", also keineswegs "leere Virtuosität". So ähnlich ist das bei Brahms (außer im Violinkonzert, in dem traditionell die Kadenzen dem Solisten überlassen werden). Im Kopfsatz das 1. KK gibt es gar keine Kadenz, im Doppelkonzert und 2. KK kommt ein kadenzartiges Solo schon ganz zu Anfang des ersten Satzes usw.
    Ich bin auch nicht in allen Solokonzerten des 19. Jhds. bewandert, aber, außer vielleicht Chopin, fällt mir von dem berühmten Klavierkonzerten kaum eines ein, dass Kadenzen als isolierten Ort leerer Virtuosität enthielte. Sehr häufig wird das "Problem", ähnlich wie bei Brahms originell gelöst.
    (Und bei sowas wie Paganinis Violinkonzerten ist es auch egal...)
    Es gibt eine Tradition der Verachtung von Virtuosität, entweder puritanisch angehaucht, oder tümelnd, da Virtuosität als welscher Tand der teutschen Tiefe gegenüber gestellt wird. Aber natürlich haben auch Komponisten, bei denen man solche Verdammungen vorgeblich "leerer" Virtuosität finden mag, wie Schumann, selbst höchst virtuos komponiert. Und nach außen hin "unbrillant" wirkenden Komponisten wie Brahms schrieben einige der schwierigsten Stücke des Klavierrepertoires. Rosen schreibt irgendwo, dass kaum ein großer Komponist, instrumentale Virtuosität nicht (auch) um ihrer selbst willen geschätzt hätte. Mehr oder minder offensichtlich ist das bei denen, die selbst herausragende Virtuosen waren wie Vivaldi, Bach, Mozart, Beethoven, Weber, Liszt, Saint- Saens, Rachmaninoff, Prokofieff usw.



    Zitat

    Den Begriff "Kadenz" im Instrumentalkonzert hätte ich gerne mal erklärt, die Sachen bei Wikipedia verstehe ich nicht so ganz. Meine "Heimaterklärung" für Kadenz im Solokonzert ist nicht gerade schmeichelhaft und mit Sicherheit falsch. Kadenz kommt sicher von cadere - fallen. Aber was fällt da? Bei mir, der ich Instrumentalkonzerte hinnehme, nicht liebe oder regelrecht verabscheue, fällt da eindeutig die Spannung, weil hier die reine Show der leeren Virtuosität abgezogen wird.

    Das "Fallen" bezieht sich auf die harmonische Progression. Ursprünglich war die Kadenz wohl nur eine ausgezierte Version einer harmonischen Kadenz (T-S-D-T)

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  • Freiheit war wohl schon immer im Wesentlichen die Freiheit des Genausodenkenden.


    In der Tat. Und meistens auch des (ungefähr) Genausoaussehenden und Genausowohlhabenden.

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  • ich kann Johan Botha als Parsifal nicht akzeptieren. Ich kann fette nackte Frauen und Männer auf der Bühne nicht akzeptieren.

    Und wo soll das hinführen? Dann kann man auch Pavarotti als Rodolfo und Sutherland als Violetta nicht akzeptieren. :no:

  • Bevor ich einige weitere eigene Gedanken (in meinen nächsten Beiträgen) ins Spiel bringe möchte ich feststellen, daß der Thread sich einderseits doch vom eigentlichen Thema ein wenig entfernt hat - er gefällt mir aber sehr gut.


    Zitat

    Ich habe bei dem Thread mal wieder den Verdacht, dass Freiheit nur so lange geschätzt wird, so lange keiner etwas mit seiner Freiheit anstellt, was mir nicht passt.

    Dazu gibt es eine Definition: Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo sie die Freiheit eines anderen stört.



    Zitat

    Andererseits ist bei Beethoven (und vielen folgenden Komponisten) die Freiheit schon wieder eingeschränkt, weil Beethoven im 5. Klavierkonzert explizit keine Kadenz mehr freistellt, sondern eine "Kadenz" fest einkomponiert.

    Es wurden auch von Mozart bereits eigene Kadenzen für seine Konzerte komponiert - weil ihm bewusst war, daß die meisten Interpreten gar nicht imstande waren selbst welche zu improvieseren - und wenn, dann keine guten. Mozart war sehr unduldsam uns intolerant - und ich würde mir wünschen, daß er einen derjenigen , die seine Opern verhunzen (=verderben, verunstalten, karikieren) so traktieren könnte wie es sein Gusto wäre - könnter eine dieser heutigen Aufführungen sehen.



    Zitat

    Das könnte dazu führen, dass vielleicht neben das RT auch wieder konventionellere Inszenierungen gestellt würden. Das ist z.B. eine Minimalforderung, die ich erst mal durchaus akzeptieren würde.

    Vermutlich wäre das das Ende des RT - und wird deshalb freiwillig nie passieren.



    Zitat

    Unterstellst Du damit Malern wie Chagall, dass sie handwerklich weniger gekonnt hätten als Rembrandt? Das fände ich eine gewagte Aussage. Ich gehe eher davon aus, dass sie ihr Handwerk sehr wohl beherrscht haben, auch wenn sie mit ihrem Handwerkszeug so umgegangen sind, dass Dir das Ergebnis nicht mehr gefällt. Die Bezeichnung »Möchtegern-Künstler« wäre dann nur eine ungerechtfertigte Herabwürdigung und Beleidigung.

    Es ist eigenartig, daß man mit Leuten, die durchwegs hässliches produziert haben, immer so zimperlich umgeht.
    Ich finde es als absolut unwichtig, welche handwerklichen Fähigkeiten ein Maler (etc) hat oder hatte - wenn man das am Ergebnis nicht ablesen kann.


    Ich erinnere mich (als Gleichnis) als ich in meinem Berufsleben mit sogenannten "Reichen, Einflußreichen und Prominenten" zu tun hatte, die eine Vorzugsbehandlung einforderten - meist mit den Worten "Wissen sie überhaupt wer ICH bin?"
    Meine Antwort lautet in solchen Fällen in etwa: "Das ist im Rahmen unserer Geschäftsbeziehung völlig irrelevant, solange ICH daraus keinen Nutzen ziehen kann. SIE wollen nicht mehr bezahlen als der Durchschnittskunde - also werden Sie auch als solcher behandelt. Wenn ICH aus ihrem Reichtum einen Vorteil ziehen kann (höherer Preis, Zusatzzahlungen für Sonderleistungen) dann können sie auch auf ihre Privilegien (als Mehrzahler) hoffen - ansonsten nicht.


    Ob also jemand ein Bild in der Qualität eines Rembrandt etc schaffen KÖNNTE ist völlig belanglos - solange er es nicht tut.


    Aber auch ich habe mich noch nicht zum eigentlichen KERNTHEMA geäussert - werde es aber (hoffentlich) noch heute tun...


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Marc Chagall war einer der bedeutendsten Maler des 20. Jahrhunderts. Dass Dir seine Werke nicht gefallen, ist in Ordnung. Aber willst wirklich Deine persönliche Ansicht über das Urteil der Fachwelt stellen? Ich finde das ganz schön ... nun ja, mutig. Darüber hinaus fehlen mir die Worte.

  • Ich teile zwar Alfreds Ansicht über Chagall nicht, aber warum sollte er nicht sein Urteil über das der "Fachwelt" stellen? (Wer ist das überhaupt?) Schließlich stellen ja auch gewisse Regisseure ihr Urteil über das von Komponist und Librettist - weil die Ärmsten ja, wie neulich behauptet wurde, selbst noch nicht so recht wussten, welche "Subtexte" und tiefere Bedeutungsschichten ihre Werke hatten. Aber vermutlich sind Komponist und Librettist eben keine "Fachwelt".

    Gott achtet mich, wenn ich arbeite, aber er liebt mich, wenn ich singe (Tagore)

  • Schließlich stellen ja auch gewisse Regisseure ihr Urteil über das von Komponist und Librettist

    Tun sie das oder hinkt der Vergleich? Brendel hat das jedenfalls getan, als er von Schubert komponierte Wiederholungen nicht gespielt und geschrieben hat, dass die Stücke ohne Wiederholungen besser seien. Warum schreit da niemand »Skandal!«?

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  • Zitat von »dr.pingel« ich kann Johan Botha als Parsifal nicht akzeptieren. Ich kann fette nackte Frauen und Männer auf der Bühne nicht akzeptieren. Und wo soll das hinführen? Dann kann man auch Pavarotti als Rodolfo und Sutherland als Violetta nicht akzeptieren.

    Ja, genau, da soll das hinführen, dass ich sie nicht akzeptieren kann. Aber ich mache es nicht zum Gesetz der Meder und Perser; wenn ihr das sehen wollt, ist es gut, so wie es gut ist, wenn ich das nicht sehen will. Die ganze Debatte hatten wir schon. In meinem Satire-thread findet ihr eine Neudeutung der Bohème auf Sylt. Da wird das verhandelt.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Marc Chagall war einer der bedeutendsten Maler des 20. Jahrhunderts. Dass Dir seine Werke nicht gefallen, ist in Ordnung. Aber willst wirklich Deine persönliche Ansicht über das Urteil der Fachwelt stellen? Ich finde das ganz schön ... nun ja, mutig. Darüber hinaus fehlen mir die Worte.


    Ja, natürlich würde auch ich das wollen, denn für einen persönlich zählt doch der eigene Geschmack, da kann mir doch die Fachwelt den Buckel runterrutschen. Ich publiziere ja auch keine Aufsätze und Bücher.


    Beispiel: die Fachwelt hält Nr. 1 B-Dur (Tschai) und Rach 3 für große Kunstwerke, ich kriege davon Rücken- und andere Schmerzen. Bei Rach 3 wollte ich nach dem 2. Satz raus, aber listigerweise war das wohl attacca. Nur maße ich mir nicht an, jetzt so bedeutend wie die Fachwelt zu sein. Aber was heißt schon Fachwelt? Ist sie so bedeutend? Hat sie sich nicht oft geirrt? Ist sie nicht selbst hemmungslos zerstritten? Die Fachwelt ist ein weites Feld...



    Noch ein Beispiel, was mir gerade einfällt: die Fachwelt hält ein Wolkenbild (Foto) von Gerhard Richter für große Kunst, sodass es für 300.000 Euro verkauft wurde. Ich habe 50 schönere Wolkenbilder, bilde mir aber nicht ein, dass das Kunst ist.


    Im Grunde hält die Fachwelt sich selbst, also die Fachwelt, für eine Ausgeburt der Scharlatanerie. Und wir dürfen das auch.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Liebe Mme.Cortese,


    auch ich teile nicht die Ansicht Alfreds über Marc Chagall. Ich finde vieles in der modernen Kunst recht ansprechend und anderes, das mich selbst nicht so anspricht, verurteile ich deswegen nicht. Aber in meinem eigenen Urteil gebe ich nichts um die Fachwelt. Ich würde es aber verurteilen, wenn so ein moderner "Künstler" hinginge, der Mona Lisa einen Bart anmalen würde und behaupten würde, so müsse die Mona Lisa aussehen. Leonardo da Vinci habe es, als er sie malte, nur nicht richtig gewusst.
    Eben so wenig verurteile ich die moderne Oper, auch wenn mir vieles davon selbst nicht liegt. Was ich aber verurteile ist, wenn ein Regisseur, der sich zum "Künstler" verherrlicht sehen möchte (und manche verherrlichen ihn ja auch dazu), sich durch Berufung auf "künstlerische Freiheit" (die ja wohl nur dem eigentlichen Schöpfer zusteht) sich an einem fremden Werk vergreift, es durch Überschmieren zu entstellt und dann noch behauptet, es müsse so sein. Librettist und Komponist hätten das nur nicht richtig erkannt. Er in seiner göttlichen Weisheit wisse das besser.
    Weil eben der Regisseur nicht der Schöpfer ist, ist für mich jede Diskussion über dessen "künstlerische Freiheiten" völlig fehl am Platze. Die Grenzen der Freiheit sind durch das Libretto vorgegeben!


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Zitat

    Aber willst wirklich Deine persönliche Ansicht über das Urteil der Fachwelt stellen?


    JA
    "Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus."
    Der Kunstmarkt ist ebenso ein Netzwerk wie die RT Lobby (wobei Lobby ein vornehmes Ersatzwort für ein schärferes ist) - und man spielt sich gegenseitig die Bälle zu - und verdient dabei sehr gut.
    "Experten" aller Coleurs und Sparten betrachte ich mit äusserstem Misstrauen - und ich akzeptiere sie nicht - Speziell dann nicht, wenn es sich um künstlerische Fragen und Design handelt. Schon die Idee, daß man kein Urteil gegen über eine sich selbst stützende Welt der "Fachwelt" äussern sollte ohne belächelt oder nicht ernst genommen zu werden, zeigt wie weit wir schon gekommen sind. Hässlichkeit liegt nicht im Auge des Betrachters - sie ist unübersehbar.
    Aber weil auch hässliche "Kunstwerke" nicht als solche bezeichnet werden dürfen, schweigt die Mehrheit - weil sie an Kunst ohnedies kein Interesse hat - und man ihnen mit dem "Urteil der Fachwelt" droht - und damit sind wir wieder (beinahe) am Thema, nämlich der Unantastbarkeit der Freiheit der "Kunst" - über das werde ich noch viel zynisches schreiben.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ebenfalls Ja. Die Definition von Kunst ist ja: "Kunst ist das, was auf dem Kunstmarkt als Kunst verkauft wird". Das Problem heute scheint mir auch, dass es früher offensichtlich war, dass jemand, der nicht malen konnte, kein Maler war. Heute kann man auch Künstler sein, ohne ein Handwerk zu beherrschen. Das gilt übrigens nicht für Beuys, dessen Arbeiten ich nicht mag (ich muss lachen, wenn ich höre, dass die vollgestopften Räume in Schloss Moyland am Niederrhein, die man ohne Beipackzettel nicht versteht, 1,3 Mrd. Euro wert sein sollen), aber dessen Zeichnungen großartig und gekonnt sind.

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