Hugo Wolf und Eichendorff

  • Im Anschluss an die bereits in entsprechenden Threads vorgestellten und besprochenen „Mörike-Lieder“ und die auf Gedichte Goethes soll hier auf den dritten Schwerpunkt in Hugo Wolfs Liedschaffen eingegangen werden. Der „Eichendorff-Band“, jene Lieder auf Gedichte Eichendorffs, die Wolf dann (mit finanzieller Untersützung durch Eckstein) über den Wiener Verlag C. Lacom im September 1889 publizierte, entstand während seiner liedkompositorisch so intensiven Auseinandersetzung mit der Lyrik Mörikes. Das ist ein Sachverhalt, der für die Wolf-Biographen Anlass zum Nachdenken über die Gründe bot. Denn es ist ja doch eine Eigenart Wolfs, sich in den fieberhaft-schöpferischen Phasen seines Liedschaffens ganz auf einen Lyriker zu konzentrieren und dabei nicht nach links und rechts zu blicken. Warum also dieser Griff nach den Gedichten Eichendorffs, - mitten im „Mörike-Fieber“?


    Eine durchaus plausible Erklärung hat Erik Werba in seinem Buch „Hugo Wolf und seine Lieder“ geliefert. Er meint:
    „Wolf hat sich durch Mörike ganz gefunden und scheint sich bei Eichendorff einigermaßen zu entspannen. (…) Der große Mörike-Band scheint uns ein Seelenbrevier, der kleine Eichendorff-Band ein Bilderbuch der Typen und Charaktere.
    Einmal abgesehen davon, dass ich letzteres so nicht gelten lassen würde, weil der „Eichendorff-Band“ doch ein wenig mehr als nur ein „Bilderbuch der Typen und Charaktere“ ist, könnte an dem Gedanken „Eichendorff als Entspannung“ doch etwas dran sein. Wolf hat selbst das kompositorische Sich-Einlassen auf Mörike als einen fieberhaften Rauschzustand empfunden. In einem Brief an Edmund Lang heißt es: „Einfälle, lieber Freund, sind schrecklich. Ich fühl´s. Meine Wangen glühen vor Aufregung wie geschmolzenes Eisen und dieser Zustand der Inspiration ist mir eine entzückende Marter, kein reines Glück.“

    Vielleicht brachte die Begegnung mit der – im Vergleich mit Mörike – stärkeren Formgebundenheit und Einfachheit der lyrischen Sprache Eichendorffs so etwas wie eine „Abkühlung“ seines innerlichen Glühens mit sich. Auffällig ist jedenfalls dass die Liedsprache seiner Eichendorff-Vertonungen weniger komplex ist als bei den Mörike-Liedern. Die bei letzteren voll und ganz ausgeprägte Eigenständigkeit und Gleichrangigkeit von Melodik und Klaviersatz ist bei den ersteren nicht in diesem Maß gegeben. Auch neigt Wolf bei Eichendorff dazu, die melodische Linie der Singstimme zu periodisieren. Alles dies spricht tatsächlich dafür, dass er an den Tagen der kompositorischen Beschäftigung mit der Lyrik Eichendorffs eine „andere Art von Liedmusik“ machen und sich darin von der gewaltigen Anspannung und Herausforderung, die Mörikes Lyrik für ihn mit sich brachte, zumindest phasenweise lösen wollte.


    Nicht nur Erik Werba, auch der Wolf-Biograph Frank Walker vertritt diese These der Genese der Eichendorff-Lieder aus einer „Phase der Entspannung“. Es gibt aber ein biographisches Faktum, das einen diesbezüglich stutzig werden lässt: Die meisten Lieder dieses „Eichendorff-Bandes“ sind – nicht anders als die auf die Gedichte Mörikes – einem eruptiven Schöpfungsprozess entsprungen. Von ruhig-entspanntem Komponieren kann eigentlich nicht die Rede sein. Das gilt allerdings nicht für alle, denn einige von ihnen liegen, was ihre Entstehungszeit betrifft, zeitlich zurück, andere sind sozusagen „unterwegs“ entstanden. Womit das „Opus“ in seiner konkreten Gestalt selbst angesprochen wäre.


    Der „Eichendorff-Band“ besteht aus zwanzig Liedern. Drei davon, nämlich „Die Zigeunerin“, „Waldmädchen“ und „Nachtzauber“, sind in der Zeit zwischen März und Mai 1887 entstanden. Der eigentliche „Schöpfungsakt“ dieses Bandes setzte jedoch Ende August 1888 ein. Wolf war damals nach Wien zurückgekehrt und bezog Quartier in Ecksteins Wohnung in der Siebenbrunnengasse. Dort entstand am 31.August das Lied „Verschwiegene Liebe“, über dessen Genese wir aus dem Bericht von Freunden gut unterrichtet sind. Wolf ging im Garten, die Verse laut lesend, auf und ab, - eine schöpferische Haltung, die ganz typisch für ihn ist. Wie in einer Art Anfall stürzte er dann auf einmal ins Haus und schrieb das Lied am Schreibtisch von Eckstein in einem Zug nieder.


    Die beiden chronologisch folgenden Lieder kamen auch sozusagen „unterwegs“ zustande. „Der Schreckenberger“ erblickte am 14.9.1888 auf einer Wanderung durch die Wildnis von Rettenbach (bei Ischl) das musikalische Licht der Welt, und zwei Tage später ereignete sich dieses bei dem Lied „Der Glücksritter“ in der Postkutsche auf dem Weg von Ischl nach Weissenbach. Und dann setzte ein größerer Schub ein. Nach der Ankunft von Wolf im Ferienhaus Ecksteins in Unterach entstanden innerhalb von neun Tagen zehn Eichendorff-Lieder, - in eben der gleichen gleichsam rauschhaften Weise, wie das auch bei den Mörike-Liedern der Fall war.


    Die kompositorische Auseinandersetzung mit der Lyrik Eichendorffs in den Jahren 1887/88 war nicht die erste Begegnung mit diesem Dichter. Eichendorff war für Hugo Wolf damals schon ein „alter Bekannter“. Er war nicht nur vertraut mit dieser Lyrik, er hatte sich in den Jahren 1880 bis 1883 sogar schon auf sechs Liedkompositionen auf Gedichte Eichendorffs eingelassen, die er allerdings dann nicht in seinen „Eichendorff-Band“ aufnahm. Bis auf ein Lied hätten sie das eigentlich alle verdient gehabt.


    Was die Auswahl der Gedichte anbelangt, so verfuhr Wolf hier ähnlich wie im Falle Goethes. So wie er dort – bis auf bestimmte Sonderfälle – die Konkurrenz mit Schubert mied, so hier die mit Schumann, dessen Eichendorff-Vertonungen ihm natürlich bekannt waren. Er wollte ganz bewusst einen anderen Schwerpunkt setzen, weil ihm sehr wohl bewusst war, dass der Eichendorff der „alten schönen Zeit“, der „Burgen und Wälder, der „Nacht“ und der „Marmorbilder“ von Robert Schumann in wahrlich unübertrefflicher Weise im Musik gesetzt worden war. Er wollte sich aus diesem Grund eher dem Eichendorff der „Taugenichtse“, Musikanten, Soldaten und wandernden Studenten widmen. In einem Brief an Humperdinck (vom 12. März 1891) erklärte er, er wolle „übereinstimmend mit der realistischen Kunstrichtung“ den genuin romantischen Eichendorff zurücktreten lassen zugunsten der „ziemlich unbekannten, der keck humoristischen, derb-sinnlichen Seite des Dichters.“


    Letzten Endes hat er aber, wenn auch der Schwerpunkt der Lieder tatsächlich dort liegt, doch fast den „ganzen Eichendorff“ in seine Kompositionen einbezogen, - wenn auch nur mit jeweils einem Lied auf ein repräsentatives Gedicht. Was er voll ausklammerte, das ist die religiöse Lyrik des Dichters. Aber mit Liedern wie „Nachtzauber“ und „Die Nacht“ hat er sich sehr wohl auf das Terrain Schumanns begeben und dem „romantischen Eichendorff“ auf herausragende und voll angemessene Weise liedkompositorische Reverenz erwiesen.

  • Die Lieder sollen in der Reihenfolge hier vorgestellt werden, wie Wolf sie in seinem „Eichendorff-Band“ angeordnet hat. Da diese Anordnung nicht durchgängig der Chronologie der Entstehung der Kompositionen entspricht, wird die Entstehungszeit jeweils angegeben, damit man einen Einblick in die Motive gewinnen kann, die möglicherweise hinter der Aufeinanderfolge der Lieder stehen, wie Wolf sie dem Druck zugrundelegte


    Die liedanalytische Betrachtung stützt sich – wie im Falle Mörikes und Goethes – auf die Aufnahme, die Dietrich Fischer-Dieskau zusammen mit Daniel Barenboim in der großen Hugo Wolf-Kassette bei DGG vorgelegt hat. Nur zwei Lieder finden sich darin nicht, weil es sich um „Frauenlieder“ handelt: „Die Zigeunerin“ und „Waldmädchen“. In diesen beiden Fällen zog ich eine Aufnahme mit Elisabeth Schwarzkopf und (bei „Waldmädchen“) Erna Berger (edition Raucheisen) heran.

  • Absolut dem Gegenstand angemessen, dass Helmut Hofmann die Eichendorff-Lieder in DER Reihenfolge besprechen will, wie Wolf sie zur Veröffentlichung angeordnet hat. Mein Einschub hier freut sich am sprechenden Zahlenwerk des Entstehungszeitraums.


    13 Lieder 26. Januar 1880 bis 24. Mai 1887


    13 Lieder 31. August bis 29. September 1888


    Drei entstehen 1880, die beiden ersten werden von Wolf in den Anhang seines offiziellen Bandes aufgenommen. Eines entsteht 1881, drei 1883. (Im April 1881 - der Hinweis darf nicht fehlen - komponiert Wolf "Sechs geistliche Gedichte" Eichendorffs für Chor!)


    Mit dem 14. Dezember 1886 treten wir in den "offiziellen" Eichendorff-Band ein: "Der Soldat I". Zwischen März und Mai 1887 folgen fünf Lieder. Drei davon wandern in den Hauptteil, eines ("Waldmädchen") in den Anhang, eines bleibt eigentümlicherweise außen vor: "Die Kleine".


    Die Periode 1888 findet sich in Helmut Hofmanns Überblick bestens dargestellt und bedarf keiner Ergänzung. Ich freue mich auf die Einzelwürdigungen.

  • Zit. : „Absolut dem Gegenstand angemessen, dass Helmut Hofmann die Eichendorff-Lieder in DER Reihenfolge besprechen will, wie Wolf sie zur Veröffentlichung angeordnet hat.“

    Gerade wollte ich die Besprechung des ersten Liedes hier einstellen, da lese ich diesen Satz und frage mich verdutzt: Wozu diese Feststellung?
    Dieser Vorgehensweise muss die Sinnhaftigkeit nicht eigens bescheinigt werden. Für jeden, der einen Thread mit diesem Thema und dieser Zielsetzung starten und durchführen will, ist sie aus sachlichen Gründen geradezu geboten.


    Der Hauptgrund ist, dass (worauf schon hingewiesen wurde) allen drei Lieder-Bänden Hugo Wolfs ein Konzept zugrundeliegt, was die Anordnung der Lieder anbelangt. Von daher ergibt sich dann jeweils ihr spezifischer Stellenwert, der bei einer Gesamtdarstellung des Werkes auch für die Interpretation des einzelnen Liedes von Bedeutung sein kann, weil der Kontext von Belang ist.


    Hugo Wolf hat übrigens nicht nur die Anordnung der Lieder für den Druck jeweils selbst vorgenommen und sorgfältig durchdacht, er hat auch dem Verleger jeweils ganz konkrete Wünsche für die äußere Gestaltung der Bände – vom Titelblatt bis zum Zeilenabstand der Noten und der Papierqualität - vorgelegt und sie hartnäckig eingefordert, was ihm eine Menge Ärger einbrachte.

  • Nachdem es ja ein dialogisches Forum ist, und ich einen sanften "Angriff" aus dem vorigen Beitrag herauslese, muss ich wohl doch kurz Stellung nehmen, obwohl ich die Sache keineswegs hochhängen will. - Mir sind im fünften und siebten Absatz des Initialbeitrags Nr. 1 ein paar sachliche Fehler aufgefallen. Weil ich sie aber für kleine Fehler halte, dachte ich "die korrigierst du sozusagen durch die Blume", indem ich die Vorgehensweise erstmal - ohne jegliche Ironie - befürworte und dann die Korrekturen durch eine Art "Ergänzenden Ansatz" einstelle. Leider scheint diese Methode in den berühmten falschen Hals geraten zu sein. Wie gesagt, alles nicht SO wichtig, aber mein Beitrag sollte NEBENBEI klären, dass a) 1880-83 sieben (nicht sechs) Lieder entstanden sind, b) Hugo Wolf zwei davon eben doch in seine Zwanziger-Auswahl aufnahm, c) die neuerliche Eichendorff-Beschäftigung schon im Dezember 1886 einsetzte (nicht erst März 1887), d) zwischen März und Mai vier Lieder der Zwanziger-Auswahl (nicht drei) entstanden sind. Marginalien..., aber wenn's halt korrekt sein soll, meinte ich...


    Das Wichtigste war doch mein Schlusssatz: Ich freue mich auf die Besprechung des ersten Lieds!

  • Zit: „Ich freue mich auf die Besprechung des ersten Lieds!"


    Die wird es von mir aus nicht geben!
    Eben, nach der Lektüre dieses zweiten Beitrags von Robert Klaunenfeld zu diesem Thread, ist mir schlagartig bewusst geworden, dass das Ganze zu einem Unterfangen werden wird, das für mich mit einem gewaltigen Stress und letztendlichem Scheitern verbunden ist.


    Ich werde ständig einen Experten im Nacken sitzen haben, der über herausragendes Fachwissen verfügt und schon in seinem ersten Beitrag hier seine zensorische Haltung und Funktion erkennen ließ:
    (Zit.) „Die Periode 1888 findet sich in Helmut Hofmanns Überblick bestens dargestellt und bedarf keiner Ergänzung.“

    Es wird mir unter den gegebenen Umständen künftig nicht mehr möglich sein, auf der Grundlage meiner laienhaften Kenntnisse unbefangen über das Kunstlied im Tamino-Forum schreiben zu können. Das mag, kann und darf ich mir nicht antun.


    Ergo:
    Ich bin definitiv draußen!

  • Wer auf den Wogen schliefe,
    Ein sanft gewiegtes Kind,
    Kennt nicht des Lebens Tiefe,
    Vor süßem Träumen blind.


    Doch wen die Stürme fassen
    Zu wildem Tanz und Fest,
    Wen hoch auf dunklen Straßen
    Die falsche Welt verläßt:


    Der lernt sich wacker rühren,
    Durch Nacht und Klippen hin
    Lernt der das Steuer führen
    Mit sichrem, ernstem Sinn.


    Der ist vom echten Kerne,
    Erprobt zu Lust und Pein,
    Der glaubt an Gott und Sterne,
    Der soll mein Schiffmann sein!


    Das Gedicht weist eine eigentümliche Binnenspannung zwischen Metrum und Sprachrhythmik auf. An sich liegt allen Versen ein dreihebiger Jambus zugrunde, wobei stumpfe und klingende Kadenz sich abwechseln. Die Sprachmelodie bringt jedoch in jeden ersten und dritten Vers der Strophen einen daktylischen Rhythmus, und auf diese Weise reflektiert das Gedicht in seiner formalen Gestalt das Ausgangsbild vom „sanft gewiegten Kind“. Bemerkenswert ist, dass Hugo Wolf in seiner Vertonung genau diese formale Eigenart des Gedichts aufgegriffen und musikalisch-strukturell umgesetzt hat.


    Der lyrischen Aussage liegt ein Wer-Der-Bezug zugrunde. Die erste und die dritte Strophe setzen ja genau mit diesen sprachlichen Partikeln ein. Zugrunde liegt das – für Eichendorff typische – Bild von der „falschen Welt“. Eine Haltung wie die des Kindes, das sich in passiver Weise von den Wogen dieser Welt wiegen lässt, ist dieser Welt unangemessen. Ihr liegt keine wirkliche Kenntnis ihres Wesens zugrunde.


    Die gewinnt nur der, der sich dem „wilden Tanz“ dieser Welt stellt und dabei prompt von ihr „verlassen“, das heißt auf sich selbst zurückgeworfen wird. Er muss das Steuer führen lernen, um den rechten Weg durch die „falsche Welt“ zu finden. Und sein Kompass dabei ist der Glaube „an Gott und die Sterne“.


    Das Gedicht artikuliert lyrisch die Grundhaltung des Spätromantikers Eichendorff, dem das genuin romantische Sich-verlieren-Wollen in die das Ich entgrenzende Welt des Traumes und des reinen Gefühls suspekt geworden ist.

  • Dieses Lied steht zwar am Anfang des Eichendorff-Bandes, es ist jedoch am 26. September 1888 entstanden und stellt – chronologisch betrachtet – das sechzehnte dar. Vermutlich steht diese Plazierung in einem Zusammenhang mit der Widmung des ganzen Bandes an den Freund Joseph Schalk. Das Lied steht in E-Dur, weist einen Viervierteltakt auf und ist mit der Anweisung „Mäßig“ versehen.


    Melodik und Klaviersatz der ersten Strophe sind ganz vom zentralen lyrischen Bild geprägt. Im Klaviersatz bewegen sich auf zwei Ebenen im Wechsel Achteltriolen hin und her und imaginieren klanglich ein sanftes Wiegen („sanft gewiegtes Kind“). Die melodische Linie der Singstimme ist durch Punktierung leicht rhythmisiert und reflektiert mit dem aus einem Sekundanstieg hervorgehenden lang gedehnten Terzfall aus dem Wort „schliefe“ in markanter Weise die lyrische Aussage der beiden ersten Verse. Auch die triolische Sekundfall-Bewegung bei dem Wort „gewiegtes“ empfindet man so.


    Bei den Worten „des Lebens Tiefe“ bewegt sich die melodische Linie in Gestalt eines gedehnten verminderten Sekundfalls, der mit einer harmonischen Modulation verbunden ist, in tiefere Lagen hinab. Die Triolen im Klaviersatz folgen ihr darin. Aber da sind ja noch die „süßen Träume“ des letzten Verses. Hier macht die Vokallinie zunächst einen verminderten Sextsprung und geht dann „poco. rit“ in einen leicht gedehnten Sekundfall über, der deshalb eine Anmutung von Lieblichkeit aufweist, weil die Harmonik aus ihrer Verminderung wieder in die Grundtonart hinüber moduliert und im Klavierbass die Triolen nun auf einer Ebene verbleiben.


    Mit der zweiten Strophe ändert sich der Ton des Liedes deutlich. Das „doch“ am Versanfang fordert das regelrecht, und die nachfolgenden lyrischen Bilder tun dies erst recht. Die im kurzen Zwischenspiel aus tiefer Lage in einem Crescendo aufsteigenden Oktaven leiten diesen neuen Ton ein. Sie bleiben für die ganze zweite Strophe klanglich prägend, denn sie erklingen – und dies in gleichsam verstärkter Form, weil unisono in Bass und Diskant – jeweils in den kurzen Pausen der melodischen Linie. In höchst eindrucksvoller Weise reflektieren sie die Bilder von den „Stürmen“ und dem „wilden Tanz“. Zwischengelagert sind jeweils Achtelakkord-Repetitionen, die, da durchweg die Dynamik des Fortissimos herrscht, die hohe Expressivität des Klaviersatzes noch verstärken.


    Die Singstimme, die nun nach dem Piano der ersten Strophe, ebenfalls zum Fortissimo übergegangen ist, deklamiert in insistierender Weise über ganze Taktlängen auf nur einer – und zwar hohen – tonalen Ebene, von der sie erst am Ende des jeweiligen Verses um ein kleines Intervall nach oben abweicht. Nur bei dem Wort „Straßen“ vollzieht sie einen von dieser Struktur abweichenden Oktavfall. In dieser Strophe geht von ihr eine große klangliche Eindringlichkeit aus, die sich am Ende, bei dem Verharren auf einem hohen „F“ über den heftigen Akkord-Repetitionen im Klavierdiskant ins Extrem steigert.


    Bei der dritten Strophe setzt die melodische Linie der Singstimme nach einer kleinen Achtelpause auf eben diesem hohen „F“ an, beschreibt aber danach lebhafte, „sehr rhythmische“ (Anweisung) Fall- und Steigbewegungen. Das geschieht immer noch fortissimo und wird vom Klavier in ebenfalls lebhafter Weise begleitet. Der Klaviersatz mutet an wie eine bunte Mischung aus all dem, was er in den beiden ersten Strophen aufwies, - allerdings in durch Pausen eingegrenzter Form: Akkord-Repetitionen (vorwiegend triolisch), aus der Tiefe aufsteigende Akkorde und wiederum Oktaven, dieses Mal aber in Bass und Diskant auseinanderlaufend. Gegen Ende der Strophe kommt eine Art bedeutungsschwere Gewichtigkeit in die Melodik und den Klaviersatz, die mit der Anweisung „sehr breit“ versehen ist: Die melodische Linie beginnt in langen Dehnungen auf einer Ebene zu verharren, und das Klavier akzentuiert dies mit rhythmisierter Akkordik.


    Mit drei markant angeschlagenen und rhythmisierten Oktaven in Bass und Diskant wird zur letzten Strophe übergeleitet, die den Ton der vorangehenden fortsetzt, - allerdings „etwas belebter, jedoch immer gemessen“ (Anweisung). Die Singstimme deklamiert nun auf einer melodischen Linie, die überaus gewichtig und expressiv wirkt, weil sie nach längerem Verharren auf einer tonalen Ebene mit einem Mal eine große Fallbewegung vollzieht, die in eine Dehnung mündet. Und am Ende, bei den Worten „Der soll mein Schiffmann sein“, schreitet sie „breit“ in langsamen und höchst gewichtigen Schritten von einem „H“ in mittlerer Lage zum Grundton herab. Das Klavier begleitet das mit fortissimo und höchst markant angeschlagenen siebenstimmigen Akkorden.

  • Ich bin sehr froh und erleichtert darüber, dass Helmut Hofmann nicht "draußen" geblieben, sondern wieder dahin zurückgekommen ist, wo ihn viele vermisst hätten, wenn er denn geblieben wäre.


    Es ist eine wirkliche Freude zu wissen, dass wir mit weiteren Liedbesprechungen, die mir und vielen anderen eine Bereicherung waren und sind, rechnen dürfen.


    Es ist schön, lieber Helmut, dass Du das, was Du angefangen hast, weiterführst.



    Liebe Grüße


    Portator

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  • Hab Dank für Deine Worte, lieber Portator.
    Ich hoffe, dass ich die Lieder so vorstellen kann, dass ich ihrer klanglichen Schönheit und ihrer liedgeschichtlichen Bedeutung gerecht zu werden und Interesse an ihnen zu wecken vermag.

  • Der Wolf-Biograph Ernest Newman (Hugo Wolf. London 1907, Leipzig 1912) war von diesem Lied wenig angetan, meinte gar, es handele sich dabei um das am wenigsten gelungene des ganzen Bandes. Auch Erik Werba fand es als „ein wenig äußerlich geraten“. Dietrich Fischer-Dieskau möchte das „apodiktische“ Urteil Newmans in seiner Gültigkeit „dahingestellt“ sein lassen. Er hebt zwar positive Elemente heraus und weist darauf hin, dass das „selbstbewusst auftrumpfende Stück“ „immerhin noble Haltung in seiner auf vier Strophen wirkungsvoll aufgebauten Schilderung des Charakters“ bewahre, findet aber auch Schwachstellen in der Komposition. So kritisiert er:
    „Die Mittelsätze mit ihren etwas unbestimmten Modulationen sind zweifellos Schwachstellen“. (Hugo Wolf, S.446)


    Irgendetwas muss an diesem Lied anrüchig sein, - wenn solche Experten leicht – oder gar stark – die Nase rümpfen. Es muss etwas sein, so denkt der naive Hörer desselben, der das gar nicht bemerkt und das Lied eigentlich ganz ansprechend gefunden hat, was dem liedkompositorischen Niveau Hugo Wolfs nicht gerecht wird, es gleichsam unterschreitet. Aber was ist es?


    Warum Fischer-Dieskau die „unbestimmten Modulationen“ als „Schwachstellen“ einstuft und sich darin so sicher ist, dass er das Wort „zweifellos“ in den Mund nimmt, das ist für einen Laien wie unsereinen nur schwer nachvollziehbar. Meint er damit eine solche tatsächlich modulationsreiche Passage wie die der dritten Strophe („Der lernt sich wacker rühren…“)? Die finde ich nun gerade besonders gelungen, und zwar wegen der in der triolisch-rhythmisierten Aufwärtsbewegung der melodischen Linie fast schon dramatisch wirkenden Steigerung der musikalischen Expressivität. Den harmonischen Modulationen kommt in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion zu. Und im übrigen ist das ja doch eine vollkommen adäquate Umsetzung der lyrischen Bilder in Musik.


    Was also ist es dann? Vielleicht, so denke ich, könnte es das etwas „Grob-Gestrickte“ dieser Komposition sein. Die Musik will immer zu ins Forte – und eigentlich sogar in Fortissimo. Gewiss, es gibt Piano-Passagen. Und das Lied setzt ja sogar im Piano ein. Dann aber dominiert das Forte ganz und gar, und in der letzten Strophe ereignet sich eine regelrechte Überwältigung des Pianos durch ein permanentes Crescendo. Einher geht damit im Bereich des Klaviersatzes das häufige Auftreten von fortissimo artikulierten Akkordrepetitionen und aufsteigenden Oktavketten. Und schließlich fügt sich in dieses Bild grob gestrickter Faktur auch das gehäufte Auftreten von Sprung- und Fallbewegungen über große Intervalle, - von der Quarte bis zur Oktave.


    Aber musste Wolf nicht zu diesen kompositorischen Mitteln greifen, wenn er dem lyrischen Text in seinem lyrisch-sprachlichen Thesen- und Spruchcharakter musikalisch gerecht werden wollte?
    Und ist überdies dabei nicht ein Lied herausgekommen, das musikalisch in dich stimmig ist und klanglich und rhythmisch zu beeindrucken vermag?

  • Mich drängt es bei Liedern öffentlich nie zu derart "knallharten" Statements, wie Helmut Hofmann sie zu Beginn des interessanten, zum Dialog aufrufenden vorigen Beitrags zitiert. Ich gebe aber zu, dass ich mich genau in seinem "Angebot" wiederfinde: das Lied spricht mich wegen des etwas "Grob-Gestrickten" weniger an als andere aus dem Wolf-Eichendorff-Zyklus. Unabhängig davon, dass Wolf sicher wusste, was er wollte und dies auch angemessen verwirklicht hat.


    Wie geht es anderen Hörern?

  • Mein zweiter Beitrag zu diesem Lied "Der Freund" endete im Manuskript ursprünglich in drei Fragen, von denen ich nur zwei abgetippt und hier eingestellt habe. Die letzte - gestrichene - lautete:
    "Wie denken die Tamino-Liedfreunde, die dieses Lied kennen, über die hier zur Sprache gebrachten Urteile über seine liedkompositorische Qualität?"
    Ich hatte sie gestrichen, weil ich nicht auf eine Reaktion zu hoffen wagte und überdies weiß, dass mindestens einer der hier aktiven Liedfreunde sich strikt weigert, auf den Aspekt der kompositorischen Qualität in irgendeiner Weise einzugehen.


    Dabei dürfte für jeden, der sich gründlich hörend auf die Eichendorff-Lieder Wolfs einlässt, schwer zu ignorieren sein, dass diese - wie übrigens auch die Goethe-Lieder - ihn unterschiedlich stark ansprechen. Das hängt natürlich nicht nur mit der liedkompositorischen Qualität zusammen, sondern ist auch bedingt durch den individuellen "Geschmack", was Lieder anbelangt. Und der kann oft zu recht eigenwilligen Urteilen führen, - wie jenes von La Roche, der sich hier einmal - wenn ich recht erinnere - regelrecht begeistert über das Lied "Heimweh" ausließ. Der Schluss, dieses "Grüß dich, Deutschland, aus Herzensgrund" verursacht ihm immer wieder eine Gänsehaut (meine ich mich zu erinnern).


    Sollte man also diesen Aspekt der klanglichen und liedkompositorischen Qualität aus der Liedbetrachtung hier im Forum wegen seines unvermeidlich hohen Grades an Subjektivität gänzlich ausklammern?
    Ich vertrat diese Auffassung früher auch. Und dies vehement. Inzwischen denke ich anders. Die Erfahrungen, die ich mit einem bis ins kompositorische Detail gehenden analytisch-deskriptiven Sich-Einlassen auf die Lieder hier im Forum gemacht habe, belehrten mich eines Besseren. Das stößt auf herzlich wenig Resonanz. Und das ist auch gar nicht verwunderlich, denn es sagt nur dem etwas, der sich mit Liedern aus musikwissenschaftlichem und -liedhistorischem Interesse beschäftigt und sie unter diesem Aspekt "unter die Lupe" nimmt.


    Dem sie liebenden und in ihrer Klanglichkeit genießenden Hörer ist damit in gar keiner Weise gedient. Was soll er mit solch einer (ein anderes Lied betreffenden) Aussage anfangen:
    "Das Lied schwankt zwischen E-Dur und F-Dur; aber es ist kein impressionistisches Schwanken und In-einander-Klingen, sondern der erniedrigte (neapolitanische) Sextakkord der zweiten Stufe, der scheinbare F-Dur-Akkord, ist zu einer neapolitanischen Nebentonart ausgebaut, mit dem E-Dur verklammert; so selbständig geworden, dass er das tonale Gleichgewicht sprengen könnte". (Originalton Th.W. Adorno. Hier steht übrigens von mir mit Kugelschreiber nebendran vermerkt und mir rotem Marker unterstrichen: "Mein Problem!". Ich meinte damals: Ich komme nicht mit!)


    Nein! Dieser Aspekt sollte in die Liedbetrachtung einbezogen werden, - all der subjektivistischen Bedenklichkeiten zum Trotz. Denn er allein vermag einen breit angelegten diskursiven Prozess in Sachen Kunstlied zu generieren. Dieser sollte freilich, und das würde ich schon für wichtig und unverzichtbar halten, an die analytische Betrachtung der Faktur des Liedes angebunden und insofern an sie rückgekoppelt sein. Aber ihn auszuklammern, - das halte ich für bedenklich, was eben diese dialogische Zielsetzung und Ausrichtung eines Internet-Forums anbelangt.


    Bei dem, was ich da schreibe, habe ich ein sehr schlechtes Gewissen. Denn ich habe jahrelang gegen das verstoßen, was ich hier für unverzichtbar erkläre. Da ist noch eine Erinnerung. Dem Tamino-Mitglied Klaus2, der erklärtermaßen mit dem Kunstlied nicht viel zu tun hat, habe ich einmal versprochen, ihm den Zugang dazu zu vermitteln, indem ihm die klangliche Schönheit ausgewählter Lieder auf dem Hintergrund des in ihnen in Musik verwandelten lyrischen lyrischen Textes aufzeige.
    Ich habe das Versprechen bis heute nicht eingelöst.

  • Die Vertonung lebt - eben gehört - von dem Gegensatz des Tonfalls: einmal des Lyrischen und Wiegenliedhaften im Kontrast zum Dramatisch-Theatralischen (an den "Erlkönig" erinnernd), wozu auch die auftrumpfende Gebärde der Selbstbehauptung gehört in der Konfrontation mit den Naturgewalten. Über die Größe und Bedeutung dieser Liedvertonung vermag ich nicht zu urteilen - empfinde aber die Umsetzung dieser Dichtung als angemessen, doch trefflich charakterisiert.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Was die von mir oben zitierten Urteile über dieses Lied von Ernest Newman, Erik Werba und Dietrich Fischer-Dieskau anbelangt, so ist zu bedenken, dass sie nur von relativer Gültigkeit sind. Sie sind unter Bezugnahme auf die Gesamtheit aller Lieder dieses Eichendorff-Bandes gefällt worden, beanspruchen also keine gleichsam absolute Gültigkeit, - wenn es so etwas bei Liedern überhaupt gibt.


    Im Vergleich mit einem Lied wie „Nachtzauber“, einem der großen dieses Bandes, wirkt „Der Freund“ in der Tat, wie ich sagte, ein wenig „grob gestrickt“. Aber man muss dabei bedenken, dass es sich hier um zwei ganz und gar unterschiedliche Formen von Eichendorff-Lyrik handelt. Auf der einen Seite, bei „Nachtzauber“, die für Eichendorff so typische Natur-Metaphorik, hier hingegen eine Art von lyrischer Spruchweisheit, die im Spannungsfeld von zwei Menschentypen entfaltet wird: Dem auf den Wogen des Lebens schlafenden kindlichen Gemüt und dem sturmerprobten Menschen „von echtem Kerne“.


    Und genau diese Bipolarität reflektiert die Musik dieses Liedes: Mit dem sanften Pendeln der melodischen Linie der Singstimme um zwei tonale Ebenen auf der Grundlage eines triolisch wiegenden Klaviersatzes am Anfang, und der danach sich fortissimo entfaltenden klanglichen Expressivität einer große Sprungbewegungen beschreibenden melodischen Linie und eines Klaviersatzes, der sich in heftigen Akkordrepetitionen und aufsteigenden Oktavketten ergeht.


    Von daher gesehen handelt es sich bei diesem Lied um eine überaus kunstvolle und klanglich ansprechende, weil den lyrischen Text in seiner Aussage mit den Mitteln der Musik voll erfassende und ihn darin interpretierende Komposition, - darin der Maxime Hugo Wolfs entspringend :
    „Die Poesie ist die eigentliche Urheberin meiner musikalischen Sprache. (…) Da liegt der Hase im Pfeffer“.

  • Wandern lieb ich für mein Leben,
    Lebe eben wie ich kann,
    Wollt ich mir auch Mühe geben,
    Paßt es mir doch gar nicht an.


    Schöne alte Lieder weiß ich,
    In der Kälte, ohne Schuh’
    Draußen in die Saiten reiß ich,
    Weiß nicht, wo ich abends ruh.


    Manche Schöne macht wohl Augen,
    Meinet, ich gefiel’ ihr sehr,
    Wenn ich nur was wollte taugen,
    So ein armer Lump nicht wär. -


    Mag dir Gott ein’n Mann bescheren,
    Wohl mit Haus und Hof versehn!
    Wenn wir zwei zusammen wären,
    Möcht mein Singen mir vergehn.



    Dieses Gedicht ist das erste einer Gruppe von insgesamt sechsen, die von Eichendorff mit dem Titel „Der wandernde Musikant“ versehen worden ist. Sie entstanden zu unterschiedlichen Zeiten, - dieses erste zum Beispiel 1826. Im Zentrum steht das Motiv des durch die Welt wandernden, sich der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen singend und musizierend überlassenden und darin die bürgerliche Welt gleichsam transzendierenden Menschen, wie Eichendorff ihn in seinem „Taugenichts“ berühmt gemacht hat.


    Dieses lyrische Ich verkörpert die nicht-bürgerliche Existenz in gleichsam umfassender Gestalt. Sie verweigert sich der Sesshaftigkeit, dem bürgerlichen Beruf mitsamt seinem Besitzdenken, und vor allem der Ausrichtung der Existenz auf eine sinnstiftende Zielgerichtetheit ihrer Entfaltung und Verwirklichung. Dieses lyrische Ich möchte leben „eben wie es kann“, und sich dabei „Mühe“ zugeben, „passt“ ihm eben „gar nicht an“.


    Genau darin aber wurzelt das „Musikant“-Sein, das existenzielle Künstlertum dieses lyrischen Ichs. Dahinter steht ein wesenhaft romantischer Gedanke: Künstlertum kann sich nur im Frei-Sein von allen Normen, Verhaltensformen und Zwängen bürgerlicher Existenz entfalten. Dieses Gedicht formuliert ihn in seiner einfachen, in vierhebigen Trochäen entfaltenden lyrischen Sprachlichkeit sehr plastisch. Ließe sich dieser „Musikant“ auf ein Leben mit der „Schönen“ in „Haus und Hof“ ein, so würde ihm „sein Singen vergehen“.

  • Dieser Musikant, ein „armer Lump“, der eben lebt, wie er kann, aber „schöne alte Lieder“ weiß, hat Wolf zu einem munter-heiteren Lied im volkstümlichen Ton inspiriert. Volksliedhaft mutet daran die einfache Struktur der melodischen Linie an, die sich sogar nach Strophenlied-Manier teilweise wiederholt. Auch die Tatsache, dass weit ausgreifende harmonische Modulationen gemieden werden und dass der Klaviersatz in enger Führung an die melodische Linie gebunden ist, bewirkt diese Anmutung von Volksliedhaftigkeit. Der genaue Blick auf die Faktur enthüllt freilich ein gerüttelt Maß an kompositorischer Raffinesse. Hier war eben ein Hugo Wolf am Werk.


    Komponiert wurde das Lied am 22. September 1888. Es steht in A-Dur, weist einen Viervierteltakt auf und ist mit der Vortragsanweisung „Sehr mäßig“ versehen. Im viertaktigen Vorspiel klingt in Gestalt von ansteigenden und in Terzschritten fallenden Sechzehnteln eine melodische Figur auf, die eine Art leitmotivische Funktion gewinnt, weil sie nicht nur als Zwischenspiel nach der ersten und der dritten Strophe erklingt und auch Inhalt des Nachspiels ist, sie prägt auch durchgehend in leichten Modifikationen den Klaviersatz im Diskantbereich. Nur im Vorspiel mündet sie in einen fermatierten arpeggierten Akkord, der in seiner klanglichen Gestalt und seiner Harmonik wie eine Lied-Eröffnung wirkt. In ihrer klanglichen Anmutung nimmt man diese melodische Figur als Ausdruck muskantischen Geistes.


    Die melodische Linie der ersten Strophe, die sich – mit einer delikaten Modifikation an einer Stelle – in der dritten wiederholt, ist auf volksliedmäßige Kantabilität hin angelegt. Nicht nur, dass Fallbewegungen in Terzschritten dominieren, sie wiederholen sich sogar in identischer Form beim zweiten Verspaar der Strophe, wobei die zweite Melodiezeile auf dem Grundton endet, die erste aber auf der der Dominante zugehörigen Sekunde darüber. Das ist wirklich Musikanten-Melodik, was man hier vernimmt.


    Anderen musikalischen Geist atmen die zweite und die vierte Strophe. Und das zeigt wieder das eminente Gespür für lyrische Sprache, das so typisch für Wolf ist. Hier nämlich kommt eine gewisse gedankliche Reflexivität in die lyrischen Aussagen: Das lyrische Ich spricht seine Seele aus. Das hat zur Folge, dass melodische Linie der Singstimme und Klaviersatz eine neue, und zwar komplexere Struktur annehmen. Beide reflektieren darin die jeweilige lyrische Aussage. Die Vokallinie neigt nun dazu, zunächst auf einer tonalen Ebene zu verharren, dann aber, wenn die lyrisch relevante, das Innere der Seele betreffende Aussage kommt, markante Fallbewegungen zu vollziehen. Auf überaus beeindruckende Weise ereignet sich das bei den Worten „weiß nicht, wo ich abends ruh“. Aus einem Quartsprung heraus macht die melodische Linie einen mit einer harmonischen Rückung einhergehenden Oktavfall und verharrt dann auf dem damit erreichten tiefen „Dis“.


    Der Klaviersatz, der in dieser zweiten Strophe aus permanent nach oben laufenden Sechzehnteln im Diskant über zum Teil arpeggierten Akkorden im Bass besteht, steigert sich an dieser Stelle in seiner Aufwärtsbewegung noch weiter und mündet in ein Zwischenspiel, das in seinen Pendelbewegungen von Sechzehnteln in sehr hoher Diskantlage wirkt, als würde es mit klanglichen Mitteln Ratlosigkeit ausdrücken wollen. Darf man als Kenner der Wolf-Biographie vermuten, dass sich der Komponist an dieser mit einem „poco rit“ hervorgehobenen Stelle des Liedes in Eichendorffs Versen selbst findet und musikalisch ausspricht? Er wusste selbst ja oft nicht, wo er abends ruhen würde, - in seiner wanderschaftlichen Heimatlosigkeit dem verehrten Franz Schubert tiefinnerlich verwandt.


    In der letzten Strophe setzt die melodische Linie der Singstimme zwar so ein, wie man das von der zweiten kennt. Und auch im Klaviersatz begegnet man bekannten Klängen. Dann aber, mit den beiden letzten Versen, kommt mit einem Mal die Melodik des Liedangangs mit ihren Terzfallbewegungen wieder. Und auch das Klavier kehrt zu den leitmotivischen Figuren zurück. Das Lied schließt sich damit am Ende in Melodik und Klaviersatz, - ganz seinem volksliedartigen Geist gemäß. Allerdings erklingt zuvor noch dieser melodische Quintfall bei den Worten „Haus und Hof versehn“, - wieder mit einem Ritardando versehen.
    So ganz volksliedmäßig arglos ist dieses Lied nicht!

  • Es war sehr bewegend, wie das Forum auf den Tod Harald Krals reagierte, und das ist es noch. Das Tamino-Forum ist doch wohl etwas ganz Besonderes!
    Heute sagte ich mir deshalb: Du rappelst dich gefälligst auf, nimmst deine etwas müden alten Knochen zusammen und machst hier weiter, - egal wie gut oder schlecht das ist, was dabei herauskommt.
    (Ich bitte um Verständnis für diese persönliche Notiz. Sie musste sein!)

  • Erik Werba meint zu diesem Lied:
    „>Der Musikant< rüttelt freilich nicht auf, er will derlei gar nicht, aber er erfreut durch die Schubert-Nähe seiner Vertonung“.
    Das ist gut gesehen. Zwar ist das keine wirkliche Schubert-Melodik, was dem Hörer hier begegnet, aber was Werba hier an „Nähe“ vernimmt, das dürfte die heitere, beschwingte und von Schalkhaftigkeit durchsetzte Musikalität sein, die den Geist dieses Liedes ausmacht.


    Das fängt ja schon mit diesem an Dudelsack-Klänge erinnernden Vorspiel an, das dann wie ein Leitmotiv in unterschiedlichen Anwandlungen den ganzen Klaviersatz prägt: Wie in hoher Lage taumelnd einsetzende Sechzehntel, die danach über eine Sekunde und zwei Terzen in die Tiefe stürzen. Der arpeggierte Akkord, in den das Vorspiel dann mündet, will zwar sagen, dass man es im folgenden mit einem „Musikanten“ zu tun hat, aber er sagt, eben weil er als Ausklang dieses Vorspiels auftritt, noch mehr: Das ist ein unbekümmert beschwingtes Wesen, das sich da gleich melodisch artikulieren wird.


    Und in der Tat: Die melodische Linie dieses Liedes drückt auf bezaubernde Art musikantisch beschwingte Unbekümmertheit aus, - dieses „Lebe eben, wie ich kann“. Immer dann, wenn dieser „Musikant“ sich lyrisch selbst ausspricht, also sein Wesen bekundet, erklingen die melodischen Figuren, die die erste Strophe beherrschen: Die in kleineren Intervallen erfolgende Abwärtsbewegung, die danach wie beschwingt in einem Sprung über ein großes Intervall in hohe Lage aufsteigt. Wenn aber Reflexivität in die lyrische Sprache kommt, wie in der zweiten und der vierten Strophe, verharrt die melodische Linie wie zögerlich lange auf nur einen tonalen Ebene. In der zweiten Strophe ist das ein „H“, von dem sie gar nicht loszukommen scheint: „Schöne alte Lieder weiß ich“ / „Draußen in die Saiten reiß ich“. Und auch beim ersten Vers der vierten Strophe taucht dieses „H“ noch einmal beharrlich auf.


    Dieses Lied ist zwar durchkomponiert, es weist gleichwohl in seiner Melodik die Anmutung von Volksliedhaftigkeit auf. In der ersten und der zweiten Strophe sind die Melodiezeilen auf den beiden Verspaaren in ihrer Grundstruktur ähnlich, - im zweiten Fall nur jeweils auf eine Kadenz hin modifiziert. Und in der dritten und vierten Strophe kehrt jeweils beim zweiten Verspaar die Melodik der ersten Strophe in eben dieser Grundstruktur wieder. Das lässt die kompositorische Raffinesse erkennen, die sich hinter dieser Fassade von volksliedhafter Einfachheit verbirgt. Das lyrisch konditionale „Wenn“, mit dem diese beiden Verspaare eingeleitet werden („Wenn ich nur was wollte taugen“ / „Wenn wir zwei zusammen wären“) bringt das lyrische Ich ja gedanklich auf seine existenzielle Grundsituation zurück, wie sie in der ersten Strophe zum Ausdruck kommt. Was also liegt für einen Komponisten wie Hugo Wolf näher, als hier auf die dort dem lyrischen Text zugrundeliegende Melodik zurückzugreifen?


    Wolfsche Raffinesse, worin sich dieses Lied eben doch von einem Schuberts unterscheidet, begegnet einem auch immer wieder einmal in den kompositorische Textnähe reflektierenden melodischen Details: Dem Oktavsturz bei den Worten „wo ich abends ruh´“ etwa, dem neckisch wirkenden Sextsprung bei „meinet ich“ („gefiel ihr sehr“), bei dem in den Sekundfall zu „ich“ hin eine Sechzehntelpause eingefügt ist (wirklich große Raffinesse!), und dem geradezu melodisch lapidar wirkenden „Mag dir Gott ein´n Mann bescheren“.

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  • Lieber Helmut,


    danke für Deine wie immer vorzüglichen, erhellenden und lesenswerten Besprechungen. Ich bin auch sicher, dass Robert Klaunenfelds Einlassungen Dich keineswegs unter Druck setzen sollen oder wollen - ich sehe hier vielmehr die Chance, dass sich zwei äußerst kundige und kenntnisreiche Musikfreunde gegenseitig ergänzen und dadurch einen Grad der Reflexion und Kenntnisvermittlung erreichen, der einem allein nicht in dieser umfassenden Art und Weise gelingen würde.


    Was aber nun denn "Musikanten" angeht: meine Reaktion, als ich den Text zum ersten Mal las (ohne das Lied zu kennen), war eine ungeheure Melancholie: das Wissen, ein Außenseiter zu sein, nicht dazuzugehören, sogar dem trauten Liebes- und Eheglück entsagen zu müssen, klang für mich nach einem großen Opfer, das der Kunst gebracht werden musste, und das oft schmerzlich ist.


    Nachdem ich das Lied dann gehört habe, verschiebt sich der Akzent ein wenig: die elegische Grundhaltung, die ich in den Versen gelesen habe, wird durch den Zusammenklang mit der Musik zu einer eher nonchalanten, verschmitzten Haltung, die durch eine gewisse Schicksalsergebenheit und Melancholie lediglich leicht eingefärbt wird.


    Die Klavierbegleitung ist dabei mehr als eine muntere, musikantische bzw. volksliedhafte Weise, die nämlich bei näherem Hinhören einiges an Facettenreichtum und Finesse aufweist - dies ist mir erst durch die Lektüre Deines Beitrages, der diese Feinheiten und Schattierungen auslotet, erst ganz zu Bewusstsein gekommen.


    Bleibt für mich festzustellen, dass diese Diskrepanz zwischen unbeschwerter Heiterkeit und subtiler Sehnsucht, zwischen Entsagung einerseits und musikalischer Erfüllung andererseits einen sehr großen Reiz auf mich ausübt.


    Ich schätze bei diesem Lied diese Einspielung mi Peter Anders und Michael Raucheisen sehr:



    herzliche Grüße

  • Danke für Deinen Beitrag, lieber Don Gaiferos.


    Die Peter Anders-Interpretation habe ich mir angehört (ich kannte sie nicht, obwohl ich sie natürlich in der Raucheisen-Sammlung zur Verfügung habe). Er verleiht dem "Musikanten" einen beschwingt forschen Ton, der einen in der melodischen Linie angelegten Wesenszug dieses Gesellen zum Ausdruck bringt. Interessant!


    Deine Bemerkung "Bleibt für mich festzustellen, dass diese Diskrepanz zwischen unbeschwerter Heiterkeit und subtiler Sehnsucht, zwischen Entsagung einerseits und musikalischer Erfüllung andererseits einen sehr großen Reiz auf mich ausübt." weist auf eine klangliche Dimension in diesem Lied hin, die ich vielleicht nicht genügend herausgearbeitet habe.
    Dafür ganz besonderen Dank!

  • Was aber nun denn "Musikanten" angeht: meine Reaktion, als ich den Text zum ersten Mal las (ohne das Lied zu kennen), war eine ungeheure Melancholie: das Wissen, ein Außenseiter zu sein, nicht dazuzugehören, sogar dem trauten Liebes- und Eheglück entsagen zu müssen, klang für mich nach einem großen Opfer, das der Kunst gebracht werden musste, und das oft schmerzlich ist.


    Die Peter Anders-Interpretation habe ich mir angehört (ich kannte sie nicht, obwohl ich sie natürlich in der Raucheisen-Sammlung zur Verfügung habe). Er verleiht dem "Musikanten" einen beschwingt forschen Ton, der einen in der melodischen Linie angelegten Wesenszug dieses Gesellen zum Ausdruck bringt. Interessant!


    Lieber Don, lieber Helmut,


    interessant, was man doch aus Lyrik so Verschiedenes an Tönen heraushören kann! :D Ich höre bei Eichendorff eher einen ironisch-verschmitzten Ton. Der Sänger ist sich seiner Paria-Existenz bewußt - für die das Unzuhause-sein konstitutiv ist. Die erste und letzte Strophe sind für mein Sinnverständnis entscheidend: Es macht keinen Sinn, die unstete Wanderer-Existenz aufzugeben, dies ist das "Schicksal" des Musikers/Sängers - dies wäre eine vergebliche und sinnlose Mühe. Das unstete Wandern ist nicht nur Bestimmung - der Sänger "liebt" diese, befindet sich hier also im Einklang mit sich selbst. Würde er ein Liebchen heiraten und bürgerlich seßhaft werden, dann verstummten die Lieder - das, und nur das wäre traurig. Der Musiker als fahrender Geselle genießt durchaus seine Freiheit - ein bisschen so wie die Bremer Stadtmusikanten, nutzlose, für die Welt überflüssige Gesellen, die deshalb zu Musikern werden und die Räuber verschrecken und dabei leben in Saus und Braus, besser, als sie in der bürgerlichen Welt je gelebt haben. Ich höre da keine Melancholie heraus, sondern eine humoristische Ergebenheit in das eigene Schicksal - man nimmt die Dinge heiter-gelassen so, wie sie sind. Die Wahrhaftigkeit und Komik resultiert aus dem distanzierten Außenseiterblick des Parias. De bürgerliche Existenz ist für den wandernden Musikanten durchaus keine Verlockung - diese Angebote weist er mit selbstzufriedener heiterer Entschiedenheit ab. Diese Stimmung heiterer (Menschen-)Weltverachtung trifft Wolfs Vertonung finde ich sehr gut - und die Interpretation von Peter Anders gefällt mir auch! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Helmut, lieber Holger,



    in der Tat, die leise Sehnsucht, die ich da im Text mehr noch als in der Musik lese, ist sicherlich sehr subjektiv und eher zwischen den Zeilen zu finden, wiewohl "in der Kälte, ohne Schuh'", schon ein wenig die Entbehrung und Bedürftigkeit des armen, fahrenden Musikanten zumindest erahnen lässt, und auch die Unerreichbarkeit der Schönen, die ihn durchaus interessant findet, der er aber nicht gerecht werden kann, spiegelt da schon etwas Wehmütiges für mich wieder; dazu passt auch, wie das Lied, so wie Peter Anders es auch singt, folgerichtig mit einem Hauch von ritardando bzw diminuendo im Piano ausklingt (im Notentext steht zusätzlich die Bezeichnung "zart"): dabei hätte der Komponist ja auch gerade diesen Vers "Wenn wir zwei zusammen wären, / Möcht mein Singen mir vergehn." auch eher spöttisch, lustig oder besonders schwungvoll, quasi als heitere Pointe vertonen können - aber nein, das wird ganz zart, sachte und leise gesungen...
    Dabei gebe ich Dir absolut recht:


    Das unstete Wandern ist nicht nur Bestimmung - der Sänger "liebt" diese, befindet sich hier also im Einklang mit sich selbst.


    ist völlig richtig auf den Punkt gebracht ist - jedoch denke ich, dass dieses in-sich-selbst-Ruhen sicherlich schon auch bisweilen den leisen Zweifel oder den Anflug eines Bedauerns kennt. Ebenso zutreffend finde ich Deine Einschätzung, lieber Helmut, dass Peter Anders hier


    einen beschwingt forschen Ton, der einen in der melodischen Linie angelegten Wesenszug dieses Gesellen zum Ausdruck bringt.


    anschlägt - das heißt für mich: ähnlich, wie Münchhausen sich selbst am Schopf aus dem Sumpf zieht, löst er sich durch die Musik, die ja seine Bestimmung, sein Lebenselexier ist, von der Wehmut und der Sehnsucht los und verscheucht mit seinem lebhaften, schwungvollen Gesang die aufkeimenden "Grillen".

  • in der Tat, die leise Sehnsucht, die ich da im Text mehr noch als in der Musik lese, ist sicherlich sehr subjektiv und eher zwischen den Zeilen zu finden, wiewohl "in der Kälte, ohne Schuh'", schon ein wenig die Entbehrung und Bedürftigkeit des armen, fahrenden Musikanten zumindest erahnen lässt, und auch die Unerreichbarkeit der Schönen, die ihn durchaus interessant findet, der er aber nicht gerecht werden kann, spiegelt da schon etwas Wehmütiges für mich wieder


    Da bleibe ich doch skeptisch, lieber Don. Höre Dir vielleicht mal das Liszt-Lied "Die drei Zigeuner" (Text: Nikolaus Lenau) an - hier mit Jonas Kaufmann und Helmut Deutsch. (Kaufmann ist leider ein Opern- und kein Liedsänger und eher glatt, dafür aber H. Deutsch ausgezeichnet. Barenboim dagegen als Partner von Fidi ist so gar nicht zigeunerhaft. Die hervorragende Paarung Fassbaender/Thibaudet gibt es leider nicht bei Youtube.)



    Auch bei Lenau kommt die Unbehaustheit vor. Lenaus musizierende Zigeuner tragen wie Eichendorffs wandernder Musikant Lumpen mit Flicken. Aber bezeichnend ist da keinerlei Wehmut zu spüren, sondern statt dessen begegnen sie dieser Ärmlichkeit der eigenen Existenz mit der Haltung von Trotz und Verachtung. Die Unbehaustheit der "fahrenden Gesellen" wehleidig zu betrachten und sich nach häuslicher Gemütlichkeit zu sehnen, paßt eigentlich nicht zur Romantik, sondern ist eher ein Motiv des aufkommenden Biedermeier. Hölderlin nannte die Häuslichkeit "borniert". Ganz in diesem romantischen Sinne will das lyrische Ich bei Eichendorff von den "schönen Augen" der Mädels nichts wissen, die ihn doch letztlich nur heiraten und d.h. domestizieren wollen. Da zieht er statt dessen lieber ohne Schuhe durch die Welt, findet er doch immer einen Ruheplatz. Fidi hat ja beide Lieder gesungen. Ich werde mal nachhören, welchen Unterton er da heraushört! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zit: „Ich höre bei Eichendorff eher einen ironisch-verschmitzten Ton.“

    „Verschmitzt“ – ja, „ironisch“ – nein.


    Ich hatte mich ja oben um eine Interpretation des Eichendorff-Gedichts bemüht und merkte an deren Ende an:
    „Genau darin aber wurzelt das „Musikant“-Sein, das existenzielle Künstlertum dieses lyrischen Ichs. Dahinter steht ein wesenhaft romantischer Gedanke: Künstlertum kann sich nur im Frei-Sein von allen Normen, Verhaltensformen und Zwängen bürgerlicher Existenz entfalten. Dieses Gedicht formuliert ihn in seiner einfachen, in vierhebigen Trochäen entfaltenden lyrischen Sprachlichkeit sehr plastisch. Ließe sich dieser „Musikant“ auf ein Leben mit der „Schönen“ in „Haus und Hof“ ein, so würde ihm „sein Singen vergehen“.“


    Eichendorfs Verse sind frei von jeglichem ironischen Unterton. Sie bringen das gleichsam „naive“ Selbstverständnis eines lyrischen Ichs zum Ausdruck, das wesenhaft ein künstlerisches ist, ohne sich eigentlich dessen in all seinen Dimensionen voll bewusst zu sein. Diese „Naivität“ ist – und darin gründet die literarische Größe dieses Gedichts – eine genuin lyrisch sprachliche. Dieser „Musikant“ drückt sich bemerkenswert einfach, ja fast lakonisch aus: „Lebe eben, wie ich kann“ / „Passt es mir doch gar nicht an…“
    Für Ironie fehlt da die für diese immer konstitutive Reflexivität. Dieser Musikant spricht von sich selbst und seinem Wesen eben so, wie es ist. Und das in einer durchaus lapidar-konstatierenden Sprachlichkeit.


    Gewiss, es gibt Reflexivität, und sie kommt in den konjunktivischen Passagen des lyrischen Textes zum Ausdruck. Vielleicht sind sie es, die den Eindruck auslösten, den das Gedicht auf Don Gaiferos gemacht hat. Und ich wies ja auch darauf hin, in welcher Weise die Musik diese Doppelschichtigkeit des lyrischen Textes reflektiert.


    Es ist zu beachten, dass dieser „Musikant“ bei Eichendorff ein „wandernder“ ist, einer, der „in der Kälte, ohne Schuh“ unterwegs ist und nicht weiß, wo er abends ruht. Und wenn er von der „Schönen“ spricht, dann mag dabei doch so etwas wie eine Sehnsucht nach einem Zusammensein mit einem solchen Wesen mitschwingen. Wolf verleiht ja der melodischen Linie bei den Worten „weiß nicht, wo ich abends ruh“ eine bemerkenswerte Struktur: Sie macht einen höchst expressiven Oktavfall und verharrt dann wie starr geworden in der damit erreichten tiefen Lage, wobei ihre Harmonisierung eine Modulation von E-Dur nach Gis-Dur durchläuft.


    In diesem wandernden Musikanten tut sich also seelisch durchaus einiges. Er reflektiert seine Existenz. Aber diese Reflexivität ist keine, die die Existenz in Frage stellt, und sie ist eingerahmt von jenen Versen, die tatsächlich schlicht konstatierend sind. Und das ist sogar bei den beiden letzten der Fall, - ganz im Gegensatz zu ihrem sprachlich konjunktivischen Charakter. Denn sie sagen eigentlich: Das Singen wird mir vergehen, wenn ich mich einlasse auf ein Leben mit dir und „Haus und Hof“.


    Was mir an diesem Lied so gut gefällt – und darin ist es eben ein typisches, den lyrischen Text musikalisch reflektierendes und interpretierendes Wolf-Lied – , das ist die Art und Weise, wie sich die lapidar konstatierende, aber zuweilen doch reflexiv gebrochene Sprachlichkeit in der Musik niederschlägt. Das versuchte ich oben in meinen Ausführungen dazu darzustellen.

  • Zit: „Ich höre bei Eichendorff eher einen ironisch-verschmitzten Ton.“


    „Verschmitzt“ – ja, „ironisch“ – nein.


    Ironisch im "eigentlichen" Sinne sicher nicht, da hast Du völlig recht, lieber Helmut - da habe ich ein bisschen überspitzt. ;) Das ist zweifellos keine hochreflektierte romantische Ironie im Sinne von Schlegel, wo das Ich in irgendwelche Kostüme schlüpft und Versteck spielt, es selbst und nicht es selbst ist. Dazu ist diese Lyrik in der Tat zu ehrlich und naiv (allerdings dabei sehr sympathisch, weil unmittelbar). Aber - das geht mir beim Wiederlesen nach Deinem Beitrag auf - es steckt da doch etwas von der durchaus reflektierten Heiterkeit der Haltung des "Taugenichts" drin (wie in der gleichnamigen bekannten Novelle). Das lyrische Ich bezeichnet sich selbst als Taugenichts, eine humoristische Reflexion, welche sich selber gleichsam über die Schulter schaut. Es weiß um seine schicksalhafte Bestimmung und trägt dies mit der Zuversicht und reflektierten Gelassenheit eines Hinnehmens der eigenen Existenz, eingebettet in ein christliches Gottvertrauen. Bei Lenau dagegen ist diese mildfühlende Romantik längst in rauhen Nihilismus gekippt - das heiter-unbeschwerte Hineinleben in die Welt getragen vom Gottvertrauen ersetzt der grimmige Trotz und die Liebe die Weltverachtung.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Über Wipfel und Saaten
    In den Glanz hinein -
    Wer mag sie erraten,
    Wer holte sie ein?
    Gedanken sich wiegen,
    Die Nacht ist verschwiegen,
    Gedanken sind frei.


    Errät’ es nur eine,
    Wer an sie gedacht,
    Beim Rauschen der Haine,
    Wenn niemand mehr wacht,
    Als die Wolken, die fliegen -
    Mein Lieb ist verschwiegen
    Und schön wie die Nacht.


    Dieses Gedicht gehört zur Gruppe der nachgelassenen Gedichte Eichendorffs. Es weist in der rhythmisch freien, sich einem Metrum verweigernden Entfaltung seiner lyrischen Sprache einen ganz eigenen Zauber auf. Im Zentrum stehen die „Gedanken“ an die Geliebte, in denen die Liebe zu ihr gleichsam Gestalt annimmt. Aber diese Gestalt bleibt unbestimmt. Das drückt sich lyrisch-sprachlich schon darin aus, dass die „Gedanken“ als Subjekt des Geschehens erst im fünften Vers auftauchen.


    Das Gedicht setzt mit einer Frage ein, die aber keine rein abstrakte ist, sondern sich aus lyrischen Bildern speist: „Wipfel“, „Saaten“ und „Glanz“ kommen darin vor. Dass die Frage sich auf die „Gedanken“ an die Geliebte richtet, erfährt man erst in der zweiten Strophe. Und zugleich werden sie in ihrem Charakter beschrieben: Sie sind „frei“, und sie können „sich wiegen“. Es sind eben keine abstrakten, sondern in ihrem Wesen konkret-emotionale, und deshalb vermögen sie – in der verschwiegenen Nacht – von der fernen Geliebten „erraten“ werden. Sie haben darin etwas mit den „Wolken, die fliegen“ gemein.


    Aber auch das bleibt unbestimmt in diesem Gedicht. Der zweiten Strophe liegt ein Konditional zugrunde. Das „Wenn“ des vierten Verses steht gedanklich auch schon am Anfang des ersten: „Wenn „die eine“ errät, „wer an sie gedacht“…- was dann? Das Gedicht sagt es nicht. Und das ist ja auch seine eigentliche Absicht. Die Liebe ist eine zutiefst verschwiegene, eine, deren Kostbarkeit darin besteht, dass sie im Innersten des lyrischen Ichs gehütet wird.
    Und darin ist sie „schön wie die Nacht“.

  • Dieses Lied entstand am 31. August 1888. „Sanfte Bewegung und immer sehr zart“ steht als Vortragsanweisung darüber, und damit ist sein klangliches Wesen sehr treffend beschrieben. Die Musik fängt hier die lyrischen Bilder und die ihnen zugrunde liegende Situation des nächtlich verschwiegenen Gedenkens der Geliebten in geradezu vollkommener Weise ein. Man empfindet die Musik als unmittelbar von den lyrischen Bildern her komponiert, die das metaphorische Zentrum der dichterischen Aussage bilden: „Gedanken sich wiegen“, „Als die Wolken, die fliegen“.


    Im Grunde handelt es sich hier um ein Strophenlied. Erste und zweite Strophe sind im wesentlichen in ihrer Faktur identisch, - aber sie sind es nicht ganz und gar. Der Klaviersatz weist leichte Modifikationen auf und weicht – auch wegen der Überleitung ins Nachspiel – am Ende der zweiten Strophe deutlich von dem der ersten ab. Auch in der melodischen Linie der Singstimme findet sich eine Abweichung. Es ist nur ein einziger Ton, aber er macht sinnfällig, wie bewusst Wolf bei der Liedkomposition vorgeht. Bei den Worten „schön wie die Nacht“ tritt an die Stelle des Sextfalls, den die Vokallinie bei „Gedanken sind frei“ aufweist, ein Sekundfall (das „A“ wird gleichsam durch ein „E“ ersetzt).


    Der Grund für diese – eigentlich ja doch sehr kleine – Veränderung der melodischen Linienführung ist in der lyrischen Aussage zu finden. Den Worten „Gedanken sind frei“ wohnt eine gewisse in Gestalt einer Feststellung vorgebrachte philosophische Abstraktheit inne. Der Sextfall verleiht ihr markante Klarheit. „Schön wie die Nacht“, - das ist eine deskriptive, genuin lyrische Aussage. Bei ihr wäre der Sextfall musikalisch unangemessen. Ein sanftes, im Sekundschritt nach unten sich ereignendes Fallen der melodischen Linie ist ihr weitaus gemäßer.


    Was sich im Vorspiel klanglich andeutet, dieses nach oben Davonschweben der Achtel im Diskant über einer zarten Melodik im Bass, das hat gleichsam programmatische Funktion für das ganze Lied: Es ist etwas Schwebend-Unbestimmtes in ihm. Nicht nur die Melodik begegnet einem so, - mit ihrem immer wiederkehrenden Innehalten am Ende der Melodiezeilen. Auch die Harmonik wirkt schwebend in ihren vielen Modulationen. Es ist ja doch seltsam, dass das g-Moll, das am Anfang in der Notation vorgegeben ist, im Lied gar nicht auftaucht. Stattdessen entfaltet sich die Harmonik in permanenter Modulation zwischen h-Moll, Fis-Dur, Cis-Dur und D-Dur.


    Innerhalb der Strophen beobachtet man eine Zweigliedrigkeit. Die melodische Linie, die auf den drei letzten Versen liegt, wirkt wie eine Antwort auf die der ersten vier Verse. Es ist die unterschiedliche Struktur der Vokallinie, die diesen Eindruck bewirkt. Die beiden Melodiezeilen, die die beiden ersten Verspaare der Strophe umfassen, münden jeweils in eine aus einer Sprungbewegung hervorgehende Dehnung. Es ist, als würde die melodische Linie in ihrer Bewegung einen Augenblick innehalten. Dann aber setzt, verbunden mit einer harmonischen Rückung, bei den Worten „Gedanken sich wiegen“ eine zweimalige Aufwärtsbewegung der melodischen Linie in zügigen Schritten ein, die dann am Ende (bei „Gedanken sind frei“) in eine mit einem Crescendo versehene und weit gedehnte bogenförmige Fall- und Steigbewegung mündet, die wirkt, als würde sich die Melodik klanglich regelrecht verströmen.


    Auch im Klaviersatz gibt es diese Zweigliedrigkeit, allerdings deckt sie sich nicht völlig mit der der melodischen Linie. Bei der ersten Melodiezeile besteht er aus der ruhigen Aufeinanderfolge von größtenteils punktierten Viertel-Akkorden, bei denen die Quinte klanglich prägend wirkt. Mit der zweiten Melodiezeile („Wer mag sie erraten…“) setzt – zusammenmit einer harmonischen Rückung – ein triolisches Auf du Ab von Achtel-Quinten und –Sexten in Bass und Diskant ein, das für die ganze restliche Strophe Inhalt des Klaviersatzes ist. Man empfindet es klanglich als eine Steigerung der Expressivität der melodischen Linie der Singstimme, - in dem Sinne, dass dem, was sie in der Deklamation des lyrischen Textes zu sagen hat, mit klanglichen Mitteln Nachdruck verliehen wird. Auf besonders beeindruckende Weise wird das vernehmlich, wenn bei der langen Dehnung am Ende der Worte „wer holte sie ein?“ die Sexten in die Höhe steigen und damit den Fragecharakter dieser lyrischen Verse steigern. Oder dort, wo bei dem „Sich-Wiegen“ der Gedanken das Auf und Ab der Sexten ein klangliches Wiegen evoziert.


    Ein wunderbar leises Lied ist das, das den Piano-Bereich nur zwei Mal kurz verlässt und im Nachspiel in Gestalt von über arpeggierten Akkorden aufsteigenden Terzen, Quinten und Sexten pianissimo ausklingt.

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