Hallo zusammen,
Dvoraks "Balladen für Orchester" beschäftigen mich seit der neuen Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern unter Sir Simon Rattle wieder sehr. Es ist merkwürdig, dass die Stücke bisher eine Art Schattendasein neben den drei bekannten Sinfonien 7, 8 und 9 fristen, neben dem Cellokonzert und vielleicht einigen wenigen anderen Werken des Melodikers Dvorak. Gleichzeitig teilen die Balladen das Schicksal vieler anderer Werke des Böhmen, zuvorderst des genialen "Requiems".
Komponiert nach der Rückkehr aus Amerika ab 1896 scheinen die Balladen, die Dichtungen von Karel Jaromír Erben inhaltlich verarbeiten, von vorneherein zyklisch gedacht zu sein, ähnlich "Ma vlast" von Smetana, allerdings ohne eine strikte Aufführungsreihenfolge. Dvorak hatte wohl seit seinen Anfängen als Komponist geplant, einen Zyklus orchestraler Balladen zu schreiben, erst im Alter kam er dahin, auf dem (inneren) Weg von der reinen Instrumentalmusik zu der rein dramatischen Form der - mir leider noch unbekannten - Oper Rusalka. Die vier hier gemeinten und als "Balladen für Orchester" zusammengefassten Orchesterstücke sind im einzelnen:
Vodník (Der Wassermann) op. 107
Polednice (Die Mittagshexe) op. 108
Zlatý kolovrat (Das goldene Spinnrad) op. 109
Holoubek (Die Waldtaube) op. 110
Inhaltlich sind die Balladen alle düstere, ja grausame und blutige Märchen. Ob nun das Kind, das quengelt und von der Mutter eher scherzhaft angedroht bekommt, es werde von der Mittagshexe geholt, plötzlich wirklich von der Mittagshexe geholt wird und stirbt; ob das Kind der Sterblichen, die der Wassermann in sein Reich gelockt hat, von diesem zerrissen wird, als die Sterbliche ihm den Rücken kehrt, oder ob im "goldenen Spinnrad" einer potentiellen, aber widerspenstigen Braut des Königs von der Stiefmutter Arme und Hände abgehackt und die Augen ausgesdrückt werden, woraufhin die Stiefmutter samt ihrer bösen Töchter den Wölfen zum Opfer fällt. Schauermärchen in romantischer Tradition, die Erben offenbar auch nicht ganz ohne eine Prise Ironie (vergleichbar Heine) erzählt (mir liegt bisher leider nur die vollständige Übersetzung der "Mittagshexe" vor). Dvoraks Musik ist an der Oberfläche scheinbar naiv, bewusst volkstümlich, ein wenig übermütig, aber im Orchestersatz findet die Dramatik Platz, brodeln die Klangfarben, drängt hier plötzlich die Cellostimme, steigert es sich plötzlich zu unerwarteter Katharsis. Immer mit Dovraks ungeheurer melodischen Erfindungsgabe, und in jeder der Balladen formell mit ungewöhnlichen, kreativen Neulösungen. Darauf ist im einzelnen, bei einer genaueren Betrachtung der einzelnen Stücke, noch einzugehen.
Kurzum, Werke eines eigentlich bekannten Komponisten, die den Vergleich mit seinen "populären" Werken mit Gewissheit aushalten und - nach meiner bescheidenen Einschätzung - unbedingt regelmäßiger im Konzertsaal zu hören sein müssten.
In neuerer Zeit sind es im wesentlichen zwei Aufnahmen, welche diese Juwelen wieder in Erinnerung gerufen haben: Nikolaus Harnoncourt und das Concertgebouw Orchestra Amsterdam und Sir Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker. Die Aufnahmen könnten vom Ansatz her nicht unterschiedlicher sein - doch dazu im Laufe des Threads mehr. Es gilt, Dvoraks wunderbare Balladen zu entdecken....
Beste Grüsse,
Claus