Interpretationen der Vergangenheit - Aber hören kann ich sie nicht mehr.......

  • "....aber hören kann ich sie nicht mehr, weil doch Orchester und Sänger nicht mehr den Standards entsprechen."
    Das war der Satz - oder wenn man so will - der auslösende Fakter, der mir die Idee zu diesem Thread gab.
    Es handelte sich im konkreten Fall um Aufnahmen des Dirigenten R. Leppard. - gilt aber natürlich für sehr viele Interpretationen, die dem heutigen Aufführungsideal widersprechen. Denn es handelt sich bei heutigen Aufnahmen natürlich nicht wirklich um den Versuch die Interepretationen den historischen Gepflogenheiten der Entstehungszeit anzupassen, sondern zumeist darum "Neues" und "Zeitgemäßes" anzubieten. Viele HIP- Interpretationen atmen geradezu penetrant den Zeitgeist des ausgehenden 20. bzw frühen 21, Jahrhunderts. Wäre der Wunsch nach "Authentzität" wirklich vorhanden, daß würden beispielsweise heutige Operninszenierung anders aussehen.
    Das nur zur Einstimmung - ich möchte hier lediglich über orchestrale Werke schreiben. Auch möchte ich nicht hinterfragen inwieweit HIP wirklich "historisch informiert" ist - sondern vielmehr, ob man einst maßstabsetzende Interpretationen tatsächlich als "überholt" in die "Mottenkiste" schubsen kann - oder ob sie ewigen Gültigkeitswert besitzen.....
    Aufnahmen der Vergangenheit - nicht nur als historisches Museumsstück, sondern als musikalisch beglückendes Ergebnis...(?)


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo,


    auch wenn dies jetzt etwas merkwürdig klingt, finde ich, daß wirklich bedeutende Musikinterpretationen sich gewissermaßen außerhalb des physikalischen Raum/Zeit-Kontinuums bewegen und daher weder altern noch "unmodern" werden können.
    Was der Hörer für "groß" oder "bedeutend" hält, bewegt sich natürlich immer innerhalb der jeweiligen Geschmackssphäre und kann von daher einerseits keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit einfordern, andererseits aber auch nicht rechtmäßig von anderen, auch nicht von der Musikkritik, als unbedeutend oder falsch bezeichnet werden.
    Die Gemeinschaft der Musikinteressierten und Schallplattenkenner bezieht sich allerdings auf einen Kanon von bedeutenden Interpretationen, der sich im Laufe der Zeit ganz zwanglos herausgebildet hat, aber immer wieder ergänzt werden kann und soll. Im Tamino-Forum wird ja im Grunde ständig an einem solchen Kanon gearbeitet.
    Was die HIP-Interpretationen betrifft, so wird hier widersinnigerweise manchal eine Musealität der Musik erzeugt, die -gegen die Intentionen der Protagonisten- die Relevanz der betreffenden Interpretationen ( nicht derMusikstücke selbst!) eher herabsetzt als hebt.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)



  • auch wenn dies jetzt etwas merkwürdig klingt, finde ich, daß wirklich bedeutende Musikinterpretationen sich gewissermaßen außerhalb des physikalischen Raum/Zeit-Kontinuums bewegen und daher weder altern noch "unmodern" werden können.
    Was der Hörer für "groß" oder "bedeutend" hält, bewegt sich natürlich immer innerhalb der jeweiligen Geschmackssphäre und kann von daher einerseits keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit einfordern, andererseits aber auch nicht rechtmäßig von anderen, auch nicht von der Musikkritik, als unbedeutend oder falsch bezeichnet werden.


    Ich denke, jede Aufnahme ist spätestens nach seiner Entstehung irgendwie „überholt“ (auch wenn das vielleicht nicht so recht das passende Wort ist). Sie ist immer der momentanen Situation und dem momentanen Geschmack geschuldet. Das war früher so und gilt sicher heute auch noch. Ein Knappertsbusch oder Pfitzner hat nach damals „gültigen“ Standards musiziert, heutige Interpreten tun das Selbe. Nach der großen Fülle an heute noch „gültigen“ Aufnahmen müssen sich die Musiker heute halt was einfallen lassen, um sich Gehör zu verschaffen. Sei ein nun radikal Neues (wie zB Schoonderwoerds Klavierkonzerte von Beethoven) oder „rückwärts“ Gewandtes wie Thielemanns Sinfonien-Zyklus des gleichen Komponisten. Was auf Dauer die gleiche Gültigkeit haben wird wie die etablierten Aufnahmen der Altvorderen, wird der Markt und noch mehr die Zeit sagen. Irgendwann werden sicher alle möglichen „Neuerungen“ in der (klassischen) Interpretation ausgereizt sein. Insofern kann ich Joachim Schneiders Aussage absolut gutheißen; sie trifft es genau … Wer weiß schon, was in sagen wir fünfzig oder hundert Jahren übrig bleiben wird … oder eben „Standard“ sein wird. Wirklich spannendes wird überdauern. Interessante Frage …


    Im übrigen find ich es immer bisserl … sagen wir ‚spannend‘ … wenn Hörer immer nach der Einen, der Absoluten Aufnahme suchen und dann fast ausschließlich diese als hörenswert gelten lassen. Klar könnte man in fast jeder Aufnahme etwas bekritteln, oft kanns nicht mehr sein als ein beckmessern. Wenn ich Bruckners 7. höre, hab ich (ich!) nicht den Anspruch die BESTE hören zu müssen … heute will ich vielleicht Jochums Bruckner hören, morgen Karajans oder Horensteins oder Wands … und ich schwachen Momenten vielleicht auch Celibidaches. Ich find es dann zB immer wieder spannend (da ich mir das nie merken kann), ob nun der berühmte Beckenschlag gespielt wird oder nicht. Manchmal mag ich die forsche Gangart in Beethovens Pastorale, manchmal find ich Thielemanns anachronistische Aufnahme himmlisch. Und manchmal kann ich mich an Pfitzners oder Mucks Uralt-Aufnahme erfreuen. DIE EINE Aufnahme kann es nicht geben und das ist gut so ….

  • Großes Kompliment für diesen Beitrag, Meister Knöchel, und auch für den anderen zur Hifi-Ideologie!


    So interessant es auch für mich ist, gewisse Absolutheitsansprüche von Musikfreunden im Nachvollzug zu erleben, so sehr habe ich meine Bedenken. Seit vierzig Jahren höre ich intensiv Musik, anfangs auf schmaler Basis und ohne irgendeinen Blick für den Wert einer Interpretation. Das hat sich deutlich geändert, auch dank dieses Forums. Aber nach wie vor vertrete ich die Meinung, dass Pluralismus zählt, dass man sich den Mehrwert einer bestimmten Deutung auch einreden kann.


    Warum müssen wir immer in Wettbewerbskategorien denken? Reicht nicht der aktuelle Fußballwahn, bei dem zwanzig gut bezahlte junge Kerle mit einer Nation gleichgesetzt werden und man die Sorgen und Nöte Selbiger als ganzer urplötzlich komplett vergisst?


    Die Trennung zwischen Erfinder und Vorführer der Erfindung ist ein Phänomen, das in der Natur der Sache Kunstmusik liegt, ähnlich beim Theater - einverstanden. Es gilt in weitaus geringerem Maße für die epische und lyrische Literatur - die halt gerne aus der Distanz interpretiert wird, aber dadurch keineswegs erst entsteht - und für die Bildende Kunst (,welche leider dafür von einer bestimmten Klientel in Geldscheinen bemessen wird). Ich wünschte mir manchmal, man könnte auch in der Musik ähnlich abstrahieren, selbst wenn dieser Wunsch etwas Misanthropisches an sich haben mag. :D


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Wolfgang, Dank Dir :-) und Du hast vollkommen recht mit dem was Du schreibst. Sport ist Wettkampf – das muss so sein, aber künstlerisches Schaffen kann es niemals sein. Sicher suche auch ich immer wieder nach gelungenen Einspielungen und wenn ich mir allein mein Dvorak-Neue Welt-Portfolio angucke oder Beethovens Pastorale …da hab ich je weit über 25 Einspielungen hier rumstehen und keine einzige (sic!) möchte ich missen, alle höre ich mit größtem Genuss. Oder Gustav Mahler … klar darfs manchmal richtig krachen und dann hör ich auch auf (mir wichtige) Details; aber ich kann auch Mitropoulos oder Oskar Frieds Uralt-Aufnahme mit Genuss hören. Halt vielleicht ‚anders‘ hören. Ob diese Aufnahme bis heute überdauert hat, weil sie so gut ist, oder weil sie die bislang älteste Verfügbare ist … who knows. Sie ist ein Stück Zeitdokument und hat damit ihre Gültigkeit – auch interpretatorisch.
    :)

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  • Offensichtliche Kandidaten wären wohl ältere Aufnahmen von Barockmusik oder Alter Musik.
    Ich kenne da nicht allzu viel, habe zB die (nur etwa 30 Jahre alten) Vier Jahreszeiten mit Mutter/Karajan nie gehört. Neulich habe ich mal in eine andere Vivaldi-Karajan-CD reingehört, das fand ich einigermaßen grausig, bin mir aber relativ sicher, dass es mir mit ungefähr gleichzeitigen oder älteren Einspielungen der Musici, Marriners u.a. nicht so gehen würde, selbst wenn das vielleicht nicht die Einspielungen meiner Wahl wären. Das hat mit dem Alter gar nicht so viel zu tun.
    Natürlich mag man sich mal über einzelne Sänger ärgern, über die Klangqualität usw. und besonders Choraufnahmen vor ca. 1970 sind objektiv-technisch gesehen oft vergleichsweise schwach. Aber solche einzelnen Schwächen gibt es auch bei aktuelleren Aufnahmen.


    Seinerzeit als modern geltende Barockaufnahmen wie von Leppard u.a. finde ich normalerweise noch ziemlich gut anhörbar. Es gibt einzelne Sätze, die m.E. bei vielen älteren Aufnahmen "missverstanden" wurden, zB schleppen einige Menuette doch ziemlich und es gibt mindestens einen Satz aus der G-Dur-Suite der Wassermusik, der bei Maazel u.a. als langsames Andante gespielt wird, bei dem sich seither aber anscheinend die Ansicht durchgesetzt hat, dass das ein flottes Tänzchen sein sollte.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)


  • ...
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    Seinerzeit als modern geltende Barockaufnahmen wie von Leppard u.a. finde ich normalerweise noch ziemlich gut anhörbar. Es gibt einzelne Sätze, die m.E. bei vielen älteren Aufnahmen "missverstanden" wurden, zB schleppen einige Menuette doch ziemlich und es gibt mindestens einen Satz aus der G-Dur-Suite der Wassermusik, der bei Maazel u.a. als langsames Andante gespielt wird, bei dem sich seither aber anscheinend die Ansicht durchgesetzt hat, dass das ein flottes Tänzchen sein sollte.


    Ich hab mir im Laufe der letzten 1-2 Jahre die komplette Capriccio-Serie der 1984-er Aufnahmenreihe von J.S. Bach mit dem Neues Bachisches Collegium Leipzig unter Max Pommer und der Capella Fidicinia unter Hans Grüss gekauft. Ich wollte eine „antiquierte“ Alternative zu meiner Pinnock EC Sammlung haben und da diese recht preiswert hergegangen sind, hab ich sie mir peu-a-peu gekauft. Nun sind diese ja - wenn ich Tamine vertrauen darf - sicher nicht mehr state-of the-art, aber ich liebe sie dennoch, zeigen sie mir doch ein völlig anderes Bild der Musik Bachs. Snd das nun Aufnahmen, die überdauern werden? Die Potential für einen wann-auch-immer-zu-schaffenden-absoluten-Olymp haben? Ich weiß es nicht und es ist mir wurscht. Sie sind nach (damals) bestem Wissen und Gewissen entstanden, ich hör sie gern und vielleicht hör ich sei eines Tages mal nicht mehr gern. Das zumindest habe sie mit Trevor Pinnock gemeinsam.
    :)

  • Die Pommer-Aufnahmen sind aber doch etwa ungefähr gleich alt wie Pinnocks (frühe 1980er), oder?


    Zumindest einige Vetreter der DDR-Bachpflege haben im Grunde vorweggenommen, was sich erst Jahre später verbreitet hat, nämlich historisch informierte Spielweise auf modernen Instrumenten. Zwar war das natürlich auch schon der Anspruch von Leppard, Marriner u.a. ab Mitte der 1960er. Aber die Mischung bei Pommer u.a. ist schon sehr eigentümlich, selbst wenn sie mich nicht unbedingt überzeugt. Ich habe mir neulich noch einmal, weil ich sie gebraucht sehr günstig kriegen konnte, Pommers Händel Concerti grossi gekauft. Die sind verzierungsfreudiger als viele HIP-Aufnahmen, aber das klanglich schwache Cembalo und die weiche Tongebung der Streicher (sowie eine vermutlich relativ große Besetzung) passen nicht so recht zu den Verzierungen, Überpunktierung etc.


    Auch Pionierarbeit von Maurice André oder Güttler würde ich niemandem verleiden wollen, weil sie einiges an Repertoire ja überhaupt erst erschlossen haben, selbst wenn einigen von uns heute diese Piccolotrompeten künstlich klingen.

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  • Ja, die Pommerschen Aufnahmen sind sogar 1-3 Jahre später eingespielt worden; sie sind 1984 im Hinblick auf das Bach-Jahr 1985 – 300 Jahre Johann Sebastian Bach entstanden. Vom Ansatz her unterscheiden sie sich jedoch, wie Du richtig schreibst, fulminant zu Pinnocks famoser Les- und Spielart. Welche „Idee“ bei Pommer im Hintergrund mitgeschwungen hat, weiß ich natürlich nicht, aber Deine Aussage „historische Spielweise mit modernem Instrumentarium“ ist schlüssig. Richtig ist auch, dass alles – vor allem mit heutigen Ohren – relativ und unverhältnismäßig fett klingt; so gar nicht mehr „zeitgemäß“. Eben gänzlich anders als Pinnocks locker-forsches Spielen. Und zugegebenermaßen ist Güttlers Barocktrompete schon n … na ja … Unikum. Anyway, ich mag sie und – wie schon gesagt – vielleicht mag ich sie irgendwann mal nicht mehr …
    Wenn die CDs grad nicht so teuer wären, würd ich mir als Ergänzung gern noch n paar Aufnahmen von Günter Ramin und dem Café Zimmermann zulegen. Das wär dann ne rund Sache
    :)

  • Für mich ist Leppard immer noch der große Wiederentdecker Cavallis, eines meiner Lieblingskomponisten. Ich habe alle seine Glyndebourne-Aufnahmen und habe sie alle noch einmal gehört. Ich werde wohl nur die booklets behalten und die CDs wegwerfen. Der Orchesterklang ist dick und schwülstig, die Sänger bis auf wenige Aufnahmen schon für normale Opern drittklassig, für Cavalli sogar noch schlechter. Über die hier beliebten alten Aufnahmen der Matthäuspassion und der Haydn-Sinfonien schweige ich jetzt mal.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

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