Faszination Vokalpolyphonie – der persönliche Zugang

  • Die folgende Frage ist sehr subjektiv und richtet sich an alle Hörer und Begeisterten der Vokalpolyphonie. Sie hat nichts mit Kompositionstechnik und Musiktheorie zu tun.
    Die Vokalmusik des (späten) Mittelalters und der Renaissance unterscheidet sich in ihrem Klang und ihrer Tonsprache, wohl auch in ihrem Ausdruck substantiell von allem, was später an Musik komponiert wurde. Dies betrifft zunächst besonders (aber nicht nur) die Tatsache, dass in dieser Musik die Dur-Moll-Tonalität keine Rolle spielt, da die Musik auf Kirchentönen aufgebaut ist und somit Dur und Moll nur eine von (de facto sieben) Grundtonleitern darstellen, die jede für sich wieder einen ganz eigenen und für uns oft eigentümlichen Charakter besitzen.
    Zudem ist die Rhythmik dieser vokalen Musik gänzlich von den uns später vertrauten Rhythmen verschieden. Diese Musik ist in ständigem Fluss, angepasst an eigene, komplexe Gesetzmäßigkeiten, mit wenig Zäsuren und kaum markanten Punkten. Dennoch ist es eine hochgeistige Musik: bis in alle Details durchdacht und GLEICHZEITIG so angelegt, dass sie in uns intensive Gefühle zu wecken vermag. Dies wird wohl jeder anders erleben, jedoch wohl immer in irgend einer Weise mit der Empfindung verknüpft, „in einer anderen Welt“ zu sein.


    Ich möchte nun mein persönliches Erleben nicht beeinflussend vorweg nehmen. Denn es interessiert mich sehr:


    Wie nehmt IHR diese Musik wahr ? Was unterscheidet euer Hörerlebnis von Josquin, Brumel, Gombert, Palestrina (und vielen anderen) von eurem Erlebnis bei Bach oder Mozart oder gar Brahms und Bruckner ? Ja selbst von Monteverdi ?
    Was erlebt ihr in diesem polyphonen Fluss ? Warum hört ihr diese Musik überhaupt, die für viele Menschen gar keinen Zugang bietet, wenn man sich nicht bewusst auf sie einlässt ? Wie kamt ihr dazu, sie zu hören ?


    Ich freue mich sehr auf eure Antworten !


    Herzliche Grüße
    Bachiania

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Nach Janacek ist die Vokalpolyphonie meine große Liebe. Begonnen hat es damit, dass ich zum ersten Mal in meinem früheren Essener Vokalensemble die "Missa Papae Marcelli" von Palestrina mitgesungen habe. Eine Musik zu hören und zu singen, in der alle Stimmen gleich wichtig sind, eine Musik die sängerfreundlich ist (wenn man es dann mal kann), das hat mich begeistert.
    Inzwischen gibt es jede Menge Vokalensembles (siehe hierzu meinen eigenen thread), die diese Musik adäquat singen können, nämlich solistisch, hochvirtuos und lebendig, nicht akademisch. Ich nenne nur The Sixteen, Tallis Scholars, die Ensembles von Jordi Savall.
    Was mich vom Hören besonders fasziniert, ist, dass diese Musik unerschöpflich ist. Das sind für mich die Klassiker und Romantiker nicht, ich brauche da immer eine lange Pause, um sie wieder zu hören.
    Ich habe einmal in einem Sommerurlaub ein paar Schubert-Sinfonien und die Motette und Messe "Sicut lilium" von Palestrina mitgenommen. Mit Schubert war sehr zufrieden, aber der Palestrina war nach 5 Wochen immer noch frisch.
    Um ein Bild zu verwenden: etwa Beethovens Sinfonien (darunter eher die ungraden) ist wie eine großartige Rheinreise, eine Sehenswürdigkeit nach der anderen. Danach kommt aber keine zweite Rheinreise erst einmal.
    Die Polyphonie: hier befinden wir uns auf dem Meer: immer anders, immer gleich.
    Musikhören geschieht bei mir auf zwei Ebenen: im Auto höre ich meine CD-Sammlung quer durch.
    Zu Hause höre ich meine Musikgeschichte; hier bin ich bei der Polyphonie und werde sicher da noch drei Jahre bleiben. Durch die Aufnahmen von Jordi Savall habe ich einen neuen Lieblingskomponisten: Tomás Luis de Victoria, den ich vor 10 Jahren überhaupt noch nicht kannte. Zum Glück hat er mehr geschrieben als mein absoluter Favorit, Leos Janacek, sodass ich mich da auf viel Neues freuen kann.
    Diese Polyphonie höre ich übrigens ganz naiv, also ohne die musikologischen Hintergründe, die ja bachiana und Gombert zur Verfügung stehen.
    Zum Glück ist der Anteil der Beiträge im Forum über die Polyphonie mit ihren wertvollen Tipps in den letzten Jahren stetig angewachsen, sodass wir uns hier trotz des klassischen Mainstreams und der Vorliebe für die Belcanto - Oper durchaus nicht allein führlen.

    Schönheit du kannst zwar wol binden...

    Schönheit machet viel zu blinden...

    Schönheit alle Freyer grüssen...

    Schönheit reitzet an zum küssen...

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Die folgende Frage ist sehr subjektiv und richtet sich an alle Hörer und Begeisterten der Vokalpolyphonie.

    Gute Frage, liebe Bachiania, aber warum so exklusiv ?
    Neben der Begeisterung gibt es noch die Ambivalenz und die reine Ablehnung. Sollen doch alle, die nichts mit Polyphonie anfangen können, auch ihren Senf dazugeben.
    Vielleicht trägt das dazu bei, Missverständnisse auszuräumen.


    Nordische Grüße (ohne Wertung bitte!)
    hami1799

  • Etwas für rigide Menschen also? Oder gute Schwimmer?


    Meer und rigide? Wieso?
    Meer und gute Schwimmer? Das Schiff schwimmt, sprich der Komponist und das Werk. Wir müssen nur singen oder hören, sind also eher die Passagiere!

    Schönheit du kannst zwar wol binden...

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    Schönheit alle Freyer grüssen...

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  • Meer und rigide? Wieso?

    Wieso? Wieso?


    Die Frage scheint mir klein,
    Für den, der stets die Melodie verteufelt
    Und selbst bei Wein und Kerzenschein
    An großer Meister Können zweifelt.


    Ich erwähne mal so nebenbei: Lucia di Lammermoor.

  • Gute Frage, liebe Bachiania, aber warum so exklusiv ?


    Wunderbare Anregung, Hami !


    Dass es viele Menschen gibt, die mit dieser Musik wenig anfangen können, ist mir bewusst. Fließt sie doch in einem Strom dahin, der wenig teleologisch ist. Und der sehr stark den Hörgewohnheiten unserer Kindertage (wenn ich dieses mal so metaphorisch formulieren darf) widerspricht. Wer diesem nichts abgewinnen kann, wendet sich einfach anderem zu. Dass es hier radikale Gegner geben könnte (wie - verzeihung, ich möchte nichts aufrühren - beim Regietheater) scheint mir schwer vorstellbar.


    Daher interessiert mich besonders, was etwa Dr. Pingel noch nicht im Detail genannt hat. (Sorry, ich will die Dinge immer ganz genau wissen !)


    Diese Musik hat wenig Zäsuren. Und diese kommen oft nicht ganz erwarteten Momenten. Man befindet sich sowohl in Hinblick auf die Tonalität als auch auf den zeitlichen Ablauf in einem Feld eher als auf einem Weg. Ich finde aus dieser Perspektive den Vergleich von Meer und Fluss mehr als passend. Auch kann man oft keine führende Stimme feststellen. Dies kann beim einem Menschen ein Gefühl der Orientierungslosigkeit erzeugen, des Nicht-Wissens, wo man sich befinde. Oder aber ein Aufgehen im Moment der Musik.


    Dieses Zweite ist einer meiner Zugänge. Ich höre das Fließen der Musik und gebe mich dem hin. Ich erlebe mich in die Musik hinein, anstatt ihr willentlich zu folgen. Ich höre den Klang und das Gewebe, das durch die selbständigen Stimmen erscheint. Und ich nehme da und dort wahr, wenn Imitaitonen oder Schlussbildungen offenkundig sind.


    Dann aber wieder höre ich diese Musik ganz anders: mit dem Intellekt. Ich verusche beim Hören den Modus zu erkennen. Ich versuche mir die Stimmeneinsätze zu merken, die Struktur des Werkes akustisch zu überblicken. Dies ist eine echte geistige Herausforderung ! Vieles an der hohen Kunst dieser Musik kann nicht akustisch wahrgenommen werden. Dann natürlich interessiert mich (so vorhanden) das Notenmaterial, um wieder näher an die Überlegungen und kunstvollen Verarbeitungen des Komponisten zu gelangen.


    Was generell mich wohl am meisten fasziniert ist, wie diese Komponisten in hochgeistiger Weise mit Material, Kompositionstechnik und gleichzeitig den Vorgaben des Auftraggebers (der Kirche) umgehen und Kunstwerke höchster Komplexität schaffen, die gelichzeitig, lässt man sich auf einer emotionellen Ebene darauf ein, sehr tiefe Gefühle auslösen. Und gleichzeitig eine strake Wirkung hervorbringen.


    Und genau nach diesen frage ich euch. Was entsteht hier beim Hören in eurem Inneren ? Was BEWIRKT diese Musik ? Wie verändert sich eure Stimmung oder die Sicht auf das Leben, wenn ihr vokale Polyphonie der Renaissance hört ?


    Ich will natürlich hier nicht ungebührlich in euer Inneres zu dringen suchen, jedoch ist wahres Interesse über das, was diese Musik auszulösen vermag, mein Antrieb für diese Fragestellung. Und ob man antwortet, bleibt ohnehin jeden selbst überlassen.


    Viele herzliche Grüße,


    :) Eure Bachiania :)

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    (Sir Isaiah Berlin)

  • Dieses Gefühl der "Trance" stellt sich bei mir beim Hören der Polyphonie sehr oft ein ("das Meer!"). Beim Singen geht das weniger, denn bei der Polyphonie muss man höllisch aufpassen. Die Töne sind nicht so schwer, wenn man sich daran gewöhnt hat. Aber man sollte nicht herauskommen, weil man dann sehr schlecht wieder hineinkommt, gerade wegen des intensiven "Netzes von Tönen und Stimmen."
    Die Wirkung der Polyphonie: diese Musik hat etwas Tröstliches, Beruhigendes; hier erfährt man, dass die Welt vollkommen und in Ordnung ist. Im religiösen Bereich hat sie eine Eigenschaft, die ich "liturgische Reinheit" nennen möchte. Wir haben die "Missa Papae Marcelli" früher oft in katholischen Messen gesungen, da war diese Musik oft das einzig Erträgliche in einem Meer von Wortbanalitäten und liturgischen Schlampereien. Ähnlich erging es mir in evangelischen Gottesdiensten, wenn wir Schütz zu singen hatten, obwohl der ja nicht mehr polyphonisch ist. Schütz fand ich dafür immer geeigneter als Bach, weil Schütz mehr auf den Text komponiert.

    Schönheit du kannst zwar wol binden...

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • [quote='hami1799','index.php?page=Thread&postID=512091#post512091']


    Daher interessiert mich besonders, was etwa Dr. Pingel noch nicht im Detail genannt hat. (Sorry, ich will die Dinge immer ganz genau wissen !)


    :) Eure Bachiania :)


    Das, liebe bachiana, habe ich leider nicht verstanden.

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  • Wieso? Wieso?


    Die Frage scheint mir klein,
    Für den, der stets die Melodie verteufelt
    Und selbst bei Wein und Kerzenschein
    An großer Meister Können zweifelt.


    Ich erwähne mal so nebenbei: Lucia di Lammermoor.


    Alter Schwede, seit wann verteufele ich denn die Melodie, außer bei dem "melodischen" Krach, der etwa in der Lucia veranstaltet wird. Wenn du das nächste Mal kommst, musst du dir zur Strafe meine Partie im 2. Tenor bei der Missa Papae Marcelli anhören, da wirst du sehen, was es für tolle Melodien da gibt. Anschließend kommen etwa 20 Stunden Tomás Luis de Victoria, so viel habe ich nämlich davon.
    Aber im unwirtlichen Schweden muss man schon starke Geschütze wie die Lucia auffahren, damit die da im kalten Norden überhaupt was merken.

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  • Aber im unwirtlichen Schweden muss man schon starke Geschütze wie die Lucia auffahren, damit die da im kalten Norden überhaupt was merken.


    Wunderbar humorvolle Anmerkung, Dr. Pingel ! Aber: ich bitte euch: kommt nicht ins Streiten. Man kann doch Flüsse nicht gegen Meere ausspielen! Und ich (Bergfex) könnte nun noch ein paar wunderbar klare Bergseen (wie Bachs Klavierwerke) oder sprudenlnde Gebirgsbäche beisteuern (wie etwa schnelle Sätze in Haydns Klaviersonaten). Natürlich gibt es aucb musikalische Sümpfe und verwirrende Mangovengewässer (mit und ohne Piranhas). Aber wunderbar ist doch die Vielfalt !

    Daher interessiert mich besonders, was etwa Dr. Pingel noch nicht im Detail genannt hat. (Sorry, ich will die Dinge immer ganz genau wissen !)


    Ich meinte hiermit genaus diese Wirkung und Empfindung, die du hernach geschildert hast.


    Die Beruhigung kann ich auch empfinden. Und ich meine, beim Hören dieser Musik die Welt anders wahrzunehmen. Sie bringt mich näher an das Wesentliche. Ich bemerke leichter, welche Dinge ich in der Hitze des Alltags ZU wichtig nehme. Und ich sehe nicht mehr so sehr MICH als Zentrum meiner Welt.
    Dieses korrespondiert analog mit der Struktur der Musik: hier fehlen die emotionalen Ausbrüche, Höhen und Tiefen der späteren Musik. Kein Einzelnes drängen sich in den Vordergrund. Es herrscht bestens funktionierende Gemeinschaft. Die spätere Musik lebt in erster Linie von Dissonanz und Konsonanz und von dem dadurch entstehenden Spannungsverhältnis. In der polyphonen Musik gibt es wohl auch Dissonanzen, jedoch stehen sie nicht im Vordergrund. Die Musik gewinnt ihre Kraft aus dem Miteinander.


    Dies ist jetzt sehr persönliche Interpretation (aber so ist dieser Thread ja ausdrücklich gedacht): könnten wir in unserem Inneren und in unserer Umgebung weniger aus Spannung und Entspannung heraus handeln denn aus dem ruhigen, förderlichen Zusammenwirken aller maßgeblichen Faktoren, wäre - so sehe ich es - ein höherer Grad an Harmonie und Zufriedenheit gegeben. Äußerlich und innerlich.


    (;) in Deutschland wie in Schweden oder Österreich ;))



    Bahciania

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Die Beruhigung kann ich auch empfinden. Und ich meine, beim Hören dieser Musik die Welt anders wahrzunehmen. Sie bringt mich näher an das Wesentliche. Ich bemerke leichter, welche Dinge ich in der Hitze des Alltags ZU wichtig nehme. Und ich sehe nicht mehr so sehr MICH als Zentrum meiner Welt.
    Dieses korrespondiert analog mit der Struktur der Musik: hier fehlen die emotionalen Ausbrüche, Höhen und Tiefen der späteren Musik. Kein Einzelnes drängen sich in den Vordergrund. Es herrscht bestens funktionierende Gemeinschaft. Die spätere Musik lebt in erster Linie von Dissonanz und Konsonanz und von dem dadurch entstehenden Spannungsverhältnis. In der polyphonen Musik gibt es wohl auch Dissonanzen, jedoch stehen sie nicht im Vordergrund. Die Musik gewinnt ihre Kraft aus dem Miteinander.




    Bahciania



    So ist es. Und das ist es, was mich an der Polyphonie so fasziniert. Nimm die Motette "Sicut lilium" von Palestrina. Das ist subtile Musik, die aber einen Höhepunkt hat, den man zuerst nicht bemerkt. Dann aber umso mehr. Er ist durchaus vergleichbar mit der Eruption im ersten Satz von Mahlers 10 (siehe meinen thread Supernovae in der Musik).
    Mein Geplänkel mit Hans ist FuF (Fechten unter Freunden).
    Allerdings: es ist ja doch bezeichnend, wie hier der Mainstream ist; Beethoven und italienischer Belcanto. Also starke Mittel, starke Wirkungen, sofortige Verständlichkeit.
    Zur Dissonanz nur dies: wie stark wirken die Dissonanzen in Tallis´ "Spem" und "Lamentationes", weil sie sparsam eingesetzt werden!

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    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Dieses Gefühl der "Trance" stellt sich bei mir beim Hören der Polyphonie sehr oft ein ("das Meer!")

    Trance bei mir weniger, eher Transzendenz. Das Jenseits lockt mit kalter Pracht, jedenfalls wenn ich an die Werke der Renaissance denke.


    Die puristische Schönheit fasziniert, vermittelt aber gleichzeitig das Gefühl der Unnahbarkeit, des Unpersönlichen und der Vergänglichkeit, beschwört die Meditationen eines Trauernden in der Aussegnungshalle.


    Meine gelegentlichen Ausflüge in diese Welt der Erhabenheit enden meist mit der Rückkehr in die kuschelige Atmosphäre des romantischen Orchesterklanges.


    So weit die Gedanken eines hoffnungslosen Epikureers.

  • Lieber Hami (du heißt ja wohl Hans...),


    ich kann deine Empfindungen verstehen. Sie lehnen sich an den Wunsch an, die Empfindung sozusagen "fertig vorgeformt" zu bekommen, und sich in diese quasi "einzuklinken". Dies leistet jede Musik nach 1600, besonders je weiter sie sich von diesem Datum entfernt. Die Musik wurde im Laufe der Jahrhunderte immer subjektiver. Erst in den letzten etwa 100 Jahren hat hier eine Gegentendenz eingesetzt, die den Menschen offenbar zur Beschäftigung mit dem eigenen (oft dürsteren) Inneren anregen will.


    Doch diese Erfahrung von dir ist sehr interessant und hat mich sehr angeregt. Es ist tatsächlich so: Hört man die vokale Polyphonie, wird man in seinem Inneren auf ein (Dr. Pingel hat recht) Meer geschickt, in welchem man sich selbst orientieren und selbst erst finden muss, was an Gefühlen und Empfindungen da ist. Hört man einen klassischen Trugschluss oder einen Dominantseptakkord in einer klassischen Kadenz, weiß man, was dies ist. Er SPRICHT zu allen Menschen in der selben Sprache und sagt "Überraschung, ich bin noch nicht zu ende" bzw. "Jetzt erwarte den Schluss !"


    Vokale Polyphonie tut dies NICHT. Sie fragt eher "wo bist du" ? "Was kannst du entdecken ?" Vielleicht (das klingt jetzt salbungsvoll, aber ich erlebe es tatsächlich so) sogar "Wo liegt deine Wahrheit ?" Beethoven zu folgen ist ein berauschendes Erlebnis, wie ein Kinofilm, der einen mitreißt. Vokale Polyphonie ist wie eine Bergtour, in der man sich selbst sehr intensiv begegnet.



    Viele Grüße


    Bachiania

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Ich kenne die Musik vor Ende des 16. Jhds bisher größtenteils zu schlecht. Es hat für mich schon einiges gedauert, bis ich Schütz und Monteverdi als emotional packende Musik hören konnte.
    Was mir gut gefällt, ist zB eine Sammlung wie die folgende (links) mit größtenteils kurzen, weltlichen Stücken, abwechslungsreich zusammengestellt. Aber die großen Brocken der Messen von Ockeghem, Desprez, Palestrina u.a. wirken auf mich tatsächlich weitgehend noch sehr "eintönig".



    Musik vor ca. 1400 (wie auf der Sammlung rechts) klingt oft so exotisch, dass sie schon deswegen interessanter wirkt, wobei ich die vermutlich ebensowenig "verstehe" wie die Musik des 15. und 16. Jhds. Ich bin aber immer sehr skeptisch, wenn ich Musik aus fast 200 Jahren als "einheitlich" und größtenteils "meditativ" oder so wahrnehme. Ganz gewiss war es nicht der Fall, dass 200 Jahre lang gleichartig komponiert wurde und meditative Versenkung nicht das alleinige Ziel dieser Musik, nicht einmal wenn man sich auf geistliche Musik beschränkt. Das zeigt für mich, dass ich mit der Musik noch so wenig vertraut bin, dass ich ziemlich elementare Unterschiede nicht oder nur ansatzweise wahrnehme. (So ähnlich wie ein Rockhörer Mozart "zur Entspannung" hört.)

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • (du heißt ja wohl Hans...),

    Ja leider, dabei stände doch Besseres zu Gebote: Giovanni, Juan, Jan, Ivan, Janos, Jean, John oder wenigstens Hans Wurst. Nicht einmal die Verwandtschaft zu Hassan (=der Gute, der Schöne) ist mir vergönnt.


    Zu allem Unglück bin ich noch Wagnerianer. Das hindert mich aber keineswegs, Deinen Ausführungen einige Minuten der Kontemplation zu widmen.
    Dabei muss ich allerdings vorausschicken, dass mir an meiner Wiege die 13. Fee einige Gehirnzellen dermaßen zugekleistert hat, dass ich für die Bestimmung eines Intervalls in der Regel 3 Minuten benötige.
    Wie fatal sich das beim Presto auswirkt, kannst Du Dir sicher denken. Und dann noch bei vier Noten gleichzeitig.


    Übrigens, würde man bei einem Dominantseptakkord im Tristan auch auf die Auflösung warten?
    Du als Musiker sicher, ich würde ihn dort vermutlich gar nicht mal bemerken, in einer klassischen Kadenz aber sehr wohl.


    Dein Vergleich der vokalen Polyphonie mit einer Bergtour trifft den Nagel auf den Kopf, bereitet mir aber erhebliche Kopfzerbrechen, denn ich bin nicht schwindelfrei.
    Doch ehe ich die Flinte ins Korn werfe, vielleicht könnte man versuchen, am Seil zu klettern?


    Viele Grüße
    Don Giovanni



  • Also, ich setze mich für die Transzendenz in meinen antiquarischen gotischen Beichtstuhl aus dem 13. Jahrhundert und lausche einer polyphonen Messe. Anschließend, zum Einlullen und romantischen Abschalten, lege ich mich in die Wanne und höre Norma oder Lucia oder Verdis Requiem oder die Pathétique, von der Neunten (4.Satz!) nicht zu reden.
    Nein, im Ernst, die Polyphonie ist nicht nur pur und ernst. Ein Schwerpunkt sind ja die vielen Marienkompositionen. Der Marienkult ist ja dem Judentum und dem Urchristentum vollkommen fremd, sozusagen ein heidnischer Seiteneinsteiger. In diesem Kult wurde und wird, religiös verkleidet, der Mythos des Weiblichen etabliert. Also sind diese Kompositionen immer auch latent erotisch. In ähnlicher Form wurde ja auch das Hohelied verwendet, nur umgekehrt. Auch hier sind die Kompositionen ja nicht zu zählen.
    Dazu kommt, dass die Polyphonie auch eine sehr weltliche Seite hat. "Matona mia cara" von Orlando di Lasso mit deutschem Text dürfte wegen der offenen Obszönität kein Rundfunksender spielen! Hier im weltlichen Bereich gibt es sehr viel Fröhliches, Rauschendes , Witziges, Anzügliches, rasante Tänze, gegen die Haydns und Schuberts Contretänze wie für Marionetten komponiert erscheint (oder eben halt eine Hofgesellschaft, was auf dasselbe hinausläuft).
    Empfehlung: spanische Musik mit Villancicos von Hesperion XXI unter Jordi Savall.

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  • Noch ein Unterschied von der Polyphonie zu jenem Komponisten aus Sachsen, der uns einige schöne Stellen hinterlassen hat: die Polyphonie hat eindeutig die besseren Texte. Da klingt sogar die flämische Sprache noch bewegender als Wogalaweia von Floßhilde, Wellgunde und Stechbrémse!

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  • @Hami


    :hahahaha::hahahaha::hahahaha:
    Ich wusste nicht, dass man für Wagnerianismus ein Parteibuch braucht ! Ich jedenfalls besitze keines ! Erlaube mir aber trotzdem, etwa den Tristan als großartige Musik zu empfinden. Ich habe es nur immer vermieden, mich auf Tuchfühlung mit Wagner zu begeben, da ich in meiner Jugend nach einer "Götterdämmerung" in der Wiener Staatsoper das hohe Suchtpotnezial erkannte und mich dem entsprechend in, sagen wir, respektvollem Abstand halte.
    Ja, Wagner löst in der Regel eigentlich fast NICHTS auf. Schon gar keine Dominantseptakkorde ! Doch dieses müsste man wohl in einem anderen Thread diskutieren.


    Was die vokale Polyhponie betrifft, so sehe ich es als ehrenvollen Auftrag, euch (da ich als Missionar gänzlich ungeeignet bin) ein paar repräsentative Möglichkeiten anzubieten, sich dieser Musik u nähern. Doch dieses erwartet bitte erst morgen ....



    Und Hans, im Übrigen kommt dein Name von dem für mich schönsten Christlichen Namen, Johannes, was immerhin "Gnade Gottes" bedeutet ! Ich wäre damit durchaus zufrieden ! ;)

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  • Na da habt ihr mir ja eine wunderbare Aufgabe zugedacht! Als Missionarin bin ich kann nicht sehr geeignet, jedoch als Bergführerin sehr wohl, und ich freue mich, euch vielleicht die Sache klein wenig schmackhaft machen zu dürfen. Ha(ns)mi, den Klettegurt musst du selbst anlegen, ans Seil nehme ich dich. Und wir fangen NICHT mit einem Dreitausender an !


    Zunächst scheinen mir noch zwei Punkte wichtig:


    1. wir dürfen nicht vergessen dass es hier um eine Musik Periode gehet, die gleich lange dauert, wie die gesamte Musik von Bach bist Schönberg! Hierbei sind die noch früheren Formen der Mehrstimmigkeit noch ausgeklammert.
    2. Man muss sich bewusst sein, dass die religiöse und die weltliche Musik dieser langen Periode sich sehr stark unterscheiden.

    Es isleicht, sich für die vielen humorvollen und spritzigen Madrigale und Chansons zu begeistern. Stellvertretend nenne ich hier zwei:


    El Grillo von Josquin de Prez in der Interpretation des Hilliard Ensembles:




    Und Madonna Mia Cara von Orlando di Lasso welches Jahr bereits unser Dr Pingel bereits erwähnt hat. (Hier vom Hilliard Enselmble sehr dem Text entsprechend sehr kernig gesungen):



    Diese Musik ist leicht verständlich und oft homophon fällt also streng genommen nicht in den Bereich der Vokalolyphonie.


    Die echte Polyphonie also das kunstvolle Verweben alle Beteiligten und zudem unabhängigen Stimmen nach strengen, teilweise selbst auferlegten Regeln und Gesetzmäßigkeiten, hat freilich einen anderen Klang und eine andere Absicht.
    Und genau diese polyphonen Werke sind es von welchen ich in diesem Thema spreche.


    Bei solch einer Fülle verschiedenster Komponisten verschiedenster Zeiten und ganz individuellen Stils ist es nicht leicht, ein paar wenige wenige repräsentative Stücke herauszugreifen, um jemandem diese Klang Pracht nahe zu bringen. Dies ist, als solle man ein paar "klassische" Stücke auswählen, um jemand die "klassische Musik" näher zu bringen.


    Doch ich versuche es.


    Zunächst ein eher altes Werk: Hört euch dieses Sanctus des Johannes Ockeghem (1419-1497) an.
    Hier wird komplexe Kompositionstechnik angewendet und gleichzeitig erzielt er in der für uns ungewohnten Tonart wunderbare Klangpracht !



    Doch Ockeghem schrieb auch zu Herzen gehende Lieder wie etwa dieses:



    Zurück zur Polyphonie:


    Eine ganze Generation überspringend möchte ich zwei Werke aus der so genannten "vierten Generation" vorstellen, die meiner Ansicht nach eine leicht fassliche Mischung aus polyphonen Techniken und starker Klangwirkung darstellen:


    Eine Marien-Motette des Clemens non Papa (1510 - 1588)



    Sowie eine Motette des Nikolas Gombert (1495 - 1569)



    Mit der Mitte des 16 Jahrhunderts änderte sich Vieles: Durch das Konzil von Trient wurde die Kirchenmusik sehr stark in "erwünschte" Bahnen gelenkt und viele "Auswüchse" verboten. Dennoch entstand auch hier noch herrliche Musik. Der reine Stil Palestrinas ist heute noch als solcher so maßgeblich für die zukünftige Musik, dass Schüler der Kontrapunktik zunächst einmal lernen müssen, im "Palestrina-Stil" zu komponieren. Ein Zeitgenosse Palestrinas ist Tomas Luis de Victoria, der ebenfalls sehr prächtige Werke komponierte.


    Da unser lieber Dr. Pingel sich bereits als Verehrer dieser zwei alten Meister "ge-outet" hat, frage ich ihn: Möchtest du vielleicht je ein Werk dieser zwei hier beitragen ?


    Ich bin gespannt auf eure Rückmeldungen !


    Polyphone Grüße !
    Bachiania

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  • Die YouTube-Hinweise kann ich technisch nicht, aber die Hinweise gehen trotzdem.
    Hier meine Spitzenweine (die Bezeichnung Verkostung finde ich richtig toll, liebe Bachiana)
    Palestrina Missa Pape Marcelii. Die habe ich oft gesungen, es gibt sehr gute Aufnahmen davon. Pfitzner hat die Legende dazu in seiner besten Oper "Palestrina" verarbeitet - eine wunderbare Oper.
    Palestrina Stabat mater für Doppelchor, das habe ich auch schon gesungen.
    Palestrina Motette und Messe Sicut lilium


    Victoria: Das Ave Maria. Das ist das schönste von den sehr vielen, die es gibt. Von diesem Victoria-Stück habe ich etwa 6 Aufnahmen, von denen mir die Savall-Aufnahme (Hesperion XXI) am besten gefällt.


    Ockeghem: Chanson S´elle m´amera, hier am besten vom Orlando - Consort.


    Josquin: Nymphes des bois, das ist das Tomebau auf den Tod von Ockeghem, am besten von den King´s Singers.


    Diese Stücke sind alle eingängig und melodiös und ziemlich sofort zu verstehen. Das habe ich an meinem Bruder getestet, den ich übrigens schon mit meiner Leidenschaft für Janacek angesteckt habe.
    Dabei stelle ich fest, dass meine Victoria- Begeisterung sehr meiner früheren Janacek - Begeisterung gleicht.

    Schönheit du kannst zwar wol binden...

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    Schönheit alle Freyer grüssen...

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Ich kenne diese Alte Musik von Perotin bis Gesualdo jetzt seit ca. 20 Jahren, so richtig "gefunkt" hat es erst vor ca. 4 Jahren, damals habe ich mir ca. 2 Wochen ausschließliches Anhören von Vokalpolyphonie verordnet, und es hat planmäßig gewirkt.
    8-)

  • Ich kenne diese Alte Musik von Perotin bis Gesualdo jetzt seit ca. 20 Jahren, so richtig "gefunkt" hat es erst vor ca. 4 Jahren, damals habe ich mir ca. 2 Wochen ausschließliches Anhören von Vokalpolyphonie verordnet, und es hat planmäßig gewirkt.


    Das mag bei einem gesunden Organismus funktionieren, bei einer chronischen Wagner-Vergiftung eher nicht. Doch versuchen kann ich´s ja.

  • Man kann ja auch die Berge UND das Meer lieben und sich wohl fühlen, wo man sich eben gerade befindet....

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  • Man kann ja auch die Berge UND das Meer lieben und sich wohl fühlen,


    Und das sogar gleichzeitig, wie zum Beispiel in Bregenz: Der Pfänder und das schwäbische Meer!


    Übrigens habe ich mir Deine Beispiele schon mehrmals angehört. Gar nicht so unübel.
    Der Ockeghem, oder wie immer er sich nannte, zauberte wirklich beachtliche Klangfarben aus der Feder.

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  • damals habe ich mir ca. 2 Wochen ausschließliches Anhören von Vokalpolyphonie verordnet, und es hat planmäßig gewirkt.


    Ein interessantes Statement (dieses hatte ich offenbar zuvor überlesen). Wie geht das ? Warum "verordnet" man sich so etwas ? Und wie hat es gewirkt ? Und was genau hast du zwei Wochen lang gehört ?


    Ich bin gespannt auf deine Antwort !


    Viele Grüße
    Bachiania

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    (Sir Isaiah Berlin)

  • Zitat

    hami1799: Übrigens habe ich mir deine Besipiele schon mehrmals angehört. Gar nicht so unübel.

    Ja wie denn nun, lieber Hami? "Gar nicht so übel", also gar nicht schlecht, oder "Gar nicht so unübel", also gar nicht gut? :D


    Liebe Bachiania,


    ich habe mir gerade das "Sanctus" von Johannes Ockeghem angehört. Ich empfand es nicht nur als klangprächtig, sondern als zutiefst andächtig, ja beinahe jenseitig. Ein tolles Stück! Ghe ich recht in der Annahme, dass es auch vom Hilliard-Ensemble dargeboten wurde wie die prächtige "Grillo" und Madonna Mia Cara? Lange wird es die Hilliards ja nicht mehr geben.


    Liebe Grüße


    Willi :rolleyes:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Ja wie denn nun, lieber Hami? "Gar nicht so übel", also gar nicht schlecht, oder "Gar nicht so unübel", also gar nicht gut?


    Dann, lieber Will(i) ich´s eben anders formulieren: das klingt gar nicht so übel, wie es sich anhört. Zufrieden?


    Im Übrigen stimme ich Dir in Deiner Analyse zu. Vielleicht wird aus mir doch mal was.


  • Lieber Dr. Pingel,


    das ist eine wunderbare Musikauswahl. Ich selbst habe nun einige Tage gebraucht, um alle Stücke durchzuhören. Es sind sehr berühmte Klassiker darunter, aber auch herrliche Dinge, die ich zuvor nicht kannte, wie etwa das Ave Maria von Victoria.


    Ich habe mir erlaubt, die Stücke auf Youtube zu suchen und für unsere "Polyphonie-Aspiranten" in einer Playlist zusammenzufassen:


    https://www.youtube.com/playli…pflHnpPmj5_O44j6H2ymUBpYE


    Leider fand ich nicht alle in den von dir erwähnten Aufnahmen, aber ich finde alle dirt versammelten Versionen schön.


    Palestrina leitete ja eine neue Ära ein: Er wurde vom Tridentiner Konzil quasi dazu verpflichtet, ab sofort Kirchenmusik zu schreiben, die keine weltlichen Bezüge (und schon gar keine auf irgendwelche erotischen Chansons) hatte. Zuvor waren ja viele Melodien von weltlichen Liedern als Grundlagen für Messen verwendet worden. Und er sollte die Polyphonie verwerfen, denn man konnte in diesem Gewirr aus gleichwertigen Stimmen den (WICHTIGEN) religiösen Text kaum mehr verstehen. Also war das Diktat: reine hompophone Kompositionsweise, syllabische Deklamation der Silben. Schon mit Musik natürlich, aber die Textverständlichkeit war oberste Prämisse.
    Nun geht die Legende, Palestrina habe mit seiner Missa Papae Marcelli (siehe Playlist) die Kirchenmusik gleichsam aus dieser Breduille vor dem endgültigen Vertrocknen gerettet, indem er in dieser Messe (die natürlich dem Papst gewidmet ist) homophone und polyphone Passagen so geschickt verknüpft, dass sogar der Papst fand, das sei für das Verständnis des Textes ausreichend. Fortan war (in vernünftigem Maße) Polyphonie wieder erlaubt ! Dieser "Großtat" Palestrinas danken wie viele herrliche Werke, auch von dem von Dr. Pingel (zu vollem Recht) so geschätzten Victoria ! Dass Palestrina selbst später auch wieder weltliche Lieder als Grundlage verwendete zeigt, dass die Diktate der Kirche nicht immer tatsächlich als oberstes Gebot erachtet wurden !


    ich habe mir gerade das "Sanctus" von Johannes Ockeghem angehört. Ich empfand es nicht nur als klangprächtig, sondern als zutiefst andächtig, ja beinahe jenseitig. Ein tolles Stück! Ghe ich recht in der Annahme, dass es auch vom Hilliard-Ensemble dargeboten wurde wie die prächtige "Grillo" und Madonna Mia Cara? Lange wird es die Hilliards ja nicht mehr geben.


    Lieber Willi, mit dem Begriff "jenseitig" hast du schon etwas getroffen, was ich auch empfinde. Doch ich fange inhaltlich mit diesem Wort nicht sehr viel an. Was ist das Jenseits? Ich würde (obwohl das auch nicht viel klarer ist) sagen: nicht aus meiner Welt. Anders als das, was ich täglich erlebe. Vielleicht trifft es am besten: "Diese Musik hebt mich ab von dem, was mich täglich beschäftigt". Sie lässt Erhabenheit und innere Größe spüren.


    Übrigens gibt es auf Youtube auch die anderen Sätze der Missa Mi Mi von Ockeghem. Gesungen wird dies von der Capella Pratensis.


    Viele weitere Hörfreuden wünscht


    Bachiania


    P.S. mehr schade als erfreulich ist :S , dass uns hier zwei wertvolle Mitsprecher abhanden gekommen sind: Zweiterbass und Gombert ! Meldet euch doch mal wieder !
    Bachiania (und Dr. Pingel freut sich darüber sicher auch !)

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • "Wenig teleologisch" trifft es recht gut. Die Notwendigkeit selbstständiger Orientierung, der Mangel an vorgegebener Dramaturgie ist ein nicht unwesentlicher Reiz dieser Musik. Allerdings gilt dies nur in Relation mit z.B. der Sonatensatzform; im Vergleich mit vielerlei traditioneller nichteuropäischer Musik sind diese Werke durchaus zielgerichtet.


    Darüber hinaus nehme die Polyphonie des 15./16. Jahrhunderts nicht wesentlich anders wahr als Werke späterer Epochen. Da ich eher selten Nebenbeihörer bin, interessiert weniger ein primär meditativer Effekt als vielmehr die Möglichkeit, sich auf die polyphone Struktur der Werke konzentrieren zu können, gleichgültig ob von Josquin, Bach, Brahms oder Schönberg. Diese erzwungene Konzentration hat allerdings eine gewissermassen kontemplative Wirkung.


    Da ich diese Musik ungefähr seit dem achten Lebensjahr regelmässig gesungen habe [übrigens in jenem Ambiente, in dem dr.pingel diese Musik hört: während er in einem Beichtstuhl aus dem 13. Jahrhundert sitzt, stand ich in einem Chorgestühl aus dem 14. Jahrhundert] und als noch eher junger Teenager auch mit der Mensuralnotation vertraut gemacht wurde, empfinde ich sie nicht als fremdartig - wenngleich auch mein Ausgangspunkt selbstverständlich einmal Beethoven war. Die formalen und "hermeneutischen" Differenzen zu Barock und Klassik sind ja weniger gravierend als von diesen Epochen zur Moderne.


    Die gegenwärtige Wahrnehmung von Werken des 15./16. Jahrhunderts als "Meditationsmusik" o.ä. ist sicherlich der Aufführungstradition geschuldet. Selbst die frühen englischen Spezialensembles sind letztlich noch von einer viktorianischen Gesangstradition geprägt. Ich teile Johannes Roehls Auffassung, dass die Werke eines Jahrhunderte währenden Zeitraumes heute zu pauschal und zu vereinheitlicht wahrgenommen werden - schon Angesichts der Vielzahl von zeitgenössischen lokalen und regionalen Aufführungstraditionen dürfte tatsächlich eine kaum vorstellbare Mannigfaltigkeit der Darstellung geherrscht haben. Mittlerweile erfährt die Alte Musik allerdings eine zunehmende Pluralität an Aufführungspraktiken, wie sie die HIP-Bewegung bereits für die Barockmusik erzeugt hat.


    PS: Welches Ave Maria von Victoria meint dr.pingel eigentlich, neben dem von Bachiania verlinkten vierstimmigen gibt es ja auch ein doppelchöriges:
    http://youtu.be/EJ8nk6BM9G4

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