Ohrwürmer - angenehme Begleiter - oder Plagegeister ?

  • Wer kennt sie nicht - jene musikalischen Themen, die man urplötzlich im Ohr hat - und die einen den ganzen Tag lang begleiten - oder verfolgen - wie man es eben betrachtet ? Die einen betrachten sie als angenehme Musikberieselung, die anderen als Störenfriede.
    Ich selbst wär nie auf die Idee gekommen in einem Ohrwurm eine Belästigung gesehen. Das wäre bei mir eventuell der Fall, wenn es ein Thema von Alban Berg oder Ligeti, von Stockhausen oder Cage gewesen wäre - aber das ist bis jetzt noch nicht vorgekommen - und ich schätze auch die diesbezügliche Gefahr für die Zukunft als gering ein ....
    Daraus könnte man schliessen, daß sich ein Ohrwurm eigentlich nicht wirklich unverlangt aufdrängt - man hat ihn sich gewissermaßen eingefangen - oder doch nicht ?.......


    Ein Ohrwurm wird von mir in der Regel als angenehmer Begleiter durch den Tag - oder für einige Stunden gesehen. Einziger Minuspunkt: Wenn ich die Melodie zwar "im Ohr habe" - es mir aber partout nicht einfallen will - WAS - ich denn da eigentlich momentan höre - und von wem die Komposition stammt. Es ist mir dann bewusst, dass ich diese Melodie - sobald sich der Ohrwurm erschöpft zur Ruhe gelegt hat - über lange Zeit hinweg nicht hören werde -im schlimmsten Fall ist er auf ewig entschwunden....


    Welche Meinung habt Ihr zu Euren Ohrwürmern ?
    Wodurch werden sie ausgelöst ?
    Und wie behandelt ihr sie ?


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zit.: "...Das wäre bei mir eventuell der Fall, wenn es ein Thema von Alban Berg oder Ligeti, von Stockhausen oder Cage gewesen wäre - ...

    Mein armer Alban Berg kommt hier wieder einmal schlecht weg. Dabei gibt es von ihm auch tatsächlich so etwas wie melodische "Ohrwürmer". Wer´s nicht glaubt, der soll sich mal seine Vertonung des Theodor Storm-Gedichts "Die Nachtigall" anhören."
    Aber zum Thema: Die Sache wirft zwei interessante Fragen auf:
    Was macht den Ohrwurm zu einem solchen? Und -
    Was bewirkt, dass er sich einstellt und festsetzt? Gibt es hierfür so etwas wie Auslöser?

  • Ohrwürmer sind bei mir zum Glück nur für einige Zeit im Kopf und dann schnell wieder weg. Z.B. heute abend wenn ich mir auf sonostream TV den Rosenkavalier aus Mamlö aufnehmen werde, weiss ich genau das ich zumindestens für einige Tage das Finale des zweiten Aktes und die Überreichung der silbernen Rose im Kopf haben werde und irgendwie mitsumme. Aber früher als ich nur Popmusik gehört habe war das viel schlimmer und deshalb kann ich heute noch viele Stücke von Queen, Eagles Tina Turner, Madonna oder Whitney Houston mitsingen. Welches Stück mir aber gar nicht aus dem Kopf geht ist von Barry Manilow Cobacabana , warum auch immer, vielleicht deshalb weil ich ihn in den 80 Jahren mal live in der Royal Albert Hall erlebt habe. Zum Glück gibt es noch zumindestens in der klassischen Musik Ohrwürmer in der heutigen Popmusik wüsste ich keine.

  • Mein armer Alban Berg kommt hier wieder einmal schlecht weg. Dabei gibt es von ihm auch tatsächlich so etwas wie melodische "Ohrwürmer". Wer´s nicht glaubt, der soll sich mal seine Vertonung des Theodor Storm-Gedichts "Die Nachtigall" anhören."
    Aber zum Thema: Die Sache wirft zwei interessante Fragen auf:
    Was macht den Ohrwurm zu einem solchen? Und -
    Was bewirkt, dass er sich einstellt und festsetzt? Gibt es hierfür so etwas wie Auslöser?


    Darf ich mich Dir zu Seite stellen, lieber Helmut? Mir ist erst dieser Tage dieses Lied von Berg nach Storm über viele Stunden nicht aus dem Sinn gekommen, obwohl ich es seit Ewigkeiten nicht gehört hatte:


    Die Nachtigall


    Das macht, es hat die Nachtigall
    die ganze Nacht gesungen,
    da sind von ihrem süßen Schall,
    da sind in Hall und Widerhall
    die Rosen aufgesprungen.


    Sie war doch sonst ein wildes Blut;
    nun geht sie tief in Sinnen,
    trägt in der Hand den Sommerhut
    und duldet still der Sonne Glut,
    und weiß nicht, was beginnen.


    Das macht, es hat die Nachtigall
    die ganze Nacht gesungen;
    da sind von ihrem süßen Schall,
    da sind in Hall und Widerhall
    die Rosen aufgesprungen.

    Ich werde gewöhnlich von diesen "Ohrwürmern" - welch schreckliche Bezeichnung für ein für mich nicht unangenehmes Phänomen - regelrecht heimgesucht. Ohne Vorwarnung vornehmlich in den unmöglichsten banalen Situation. Auf einer Rolltreppe im Kaufhaus zum Beispiel, wo niemand auf Berg verfällt. Manchmal habe ich nur die Musik im Ohr und muss mich erst finden, deren Ursprung herauszufinden. Es sind immer Stücke aus den ferneren Bezirken, niemals so etwas wie Beethovens Fünfte. Seltsam ist, dass mir die "Nachtigall" schon mehrfach zugeflogen ist. Gibt es eine traumhafte Vorbereitung dafür?


    Gruß von Rheigold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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  • Lieber Rheingold,
    eben wollte ich gerade ein paar Sätze zu diesem Thread hier einstellen, an denen ich in der letzten Stunde mit Vergnügen herumgeschrieben habe, da stoße ich auf diesen Deinen Beitrag. Und ich sehe, dass Du mich darin angesprochen hast.
    Mir fiel ein Stein vom Herzen. Es war nicht so sehr die Übereinstimmung in der Hochschätzung dieses Liedes von Alban Berg, die mir buchstäblich Freude bereitete (obwohl das natürlich auch eine höchst erfreuliche Sache ist), es war tatsächlich das Angesprochen-Werden und die Form, in der es geschah.


    Nun also zu "den paar Sätzen". Vielleicht ist auch darin ein Einklang zwischen uns beiden zu erkennen. Ich habe sie verfasst, ohne dass ich die Deinigen kannte.

  • Das ist aber mal ein lustiger Thread. Er hält mich doch tatsächlich davon ab, meiner Arbeit nachzugehen (das heißt, den Beitrag über das nächste Hugo Wolf-Lied zu schreiben. Macht nichts! Liest ohnehin keiner!).


    Also wenn man von der Semantik dieses Wortes „Ohrwurm“ ausgeht, dann sind „Ohrwürmer“ ein höchst gefährliches Getier. Der Volksglaube hat nämlich aus der Bezeichnung für ein Heilmittel in der Antike bösartige wurmartige Gesellen gemacht, die über das Ohr ins Gehirn kriechen und dort jede Menge Zerstörung anrichten. Im französischen „perce –oreille“ hat sich das zum Beispiel sprachlich niedergeschlagen.


    Heißt also für die Fragestellung des Threads: „Ohrwürmer“ sind keineswegs „angenehme Begleiter“, sie sind sogar mehr als „Plagegeister“, die sind gefährlich, weil sie das Hirn vernebeln, so dass es seine Empfänglichkeit für andere musikalische Erfahrungen – zumindest vorübergehend - verliert. Ausgelöst wird der Befall – wie bei jeder Krankheit auch – durch eine entsprechende, in diesem Fall seelische Disposition.


    Man wird in einer situativ bedingten Gestimmtheit mit einem Mal empfänglich für ein melodisches Motiv, eine klangliche Figur oder eine kurze Passage aus einem orchestralen musikalischen Werk, das genau die Stimmung zum Ausdruck bringt, in der man sich im Augenblick befindet (was übrigens für die musikalische Qualität dieses „Werkes“ spricht). Und dann setzt es sich fest und will nicht weichen, auch wenn die emotionale „Gestimmtheit“ oder die Augenblickserfahrung, die als „Auslöser“ wirkte, längst verflogen ist.


    Aber ist das – um mal ernst zu werden - nun wirklich plagegeisterisch oder gar gefährlich? Mir ist schon widerfahren, dass sich beim nächtlichen Gang durch eine vollkommen verlassene Kleinstadtstraße beim Blick auf stillen Häuserfassaden die Melodik von Schuberts Lied aus der „Winterreise“ einstellte: „Es bellen die Hunde, es Rasseln die Ketten; es schlafen die Menschen in ihren Betten…“. Und dieses Lied ließ mich nicht mehr los, bis der Schlaf seine Melodien löschte.


    Auf meine Frage bezogen hieße das dann doch also: Musik, auch wenn es nur ein melodisches Motiv daraus ist oder eine klangliche Figur, vermag einer Augenblickserfahrung oder einer emotionalen Gestimmtheit einen über ihre situativ-zeitliche Vergänglichkeit hinaus reichenden Bestand zu verleihen.


    Dann wären also „Ohrwürmer“ tatsächlich, wie die antike Medizin schon wusste, eine höchst heilsame Sache. Ein Heilmittel gegen die Vergänglichkeit. Ein Mittel gegen das „In-die-Zeit-geworfen-Sein“ also.
    Es lebe der musikalische „Ohrwurm“!

  • Zitat

    Was macht den Ohrwurm zu einem solchen? Und -
    Was bewirkt, dass er sich einstellt und festsetzt? Gibt es hierfür so etwas wie Auslöser?


    Viele Fragen auf einmal. Ein Ohrwurm ist in der Regel für den Betroffenen gefällig zu hören, er schmeichelt sich ein, kennt keine Dissonanzen sondern baut (bespielsweise) auf Terzen etc. auf. Der Ohrwurm ist ein Thema von hohem Wiedererkennungswert, und zwar eines, das man gern ein zweites und drittes Mal hören möchte, wenn es zu Ende ist.
    Die Auslöser sind vielfältig. Oft sind sie mit einem Erlebnis verbunden, daß einem plötzlich in den Sinn kommt, oder aber man hat das Thema als Berieselung im Kaufhaus gehört, von einem sommerlichen Orchester im Stadtpark herübergeweht, unterbewusst aufgenommen und dann nach Stunden wieder unbewusst in die Erinnerung eingeflossen. Ich empfinde ihn in der Regel als sehr angenehm. ("Verweile doch - Du bist so schön").


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !