Das Positive vorneweg: Tschaikowskij-Fans - so wie ich - waren heute in ihrem Element, sofern sie zwischen 12 und 13 Uhr der Live-Übertragung des Europakonzertes akustisch und optisch beiwohnten. Seine 5. Symphonie e-moll op.64 geriet, wie bei einem der besten Sinfonieorchester der Welt eigentlich nicht anders zu erwarten, in einer packenden Interpretation der Berliner Philharmoniker zu einem Ohrenschmaus. Es gab zwar im Kopfsatz ein paar kleinere Unstimmigkeiten, aber mit zunehmender Spieldauer entfesselten die Musiker das große elegische Pathos Tschaikowskijs und schienen im Finale dann dem verblüfft dreinschauenden Dirigenten, der ja gelernter Pianist ist, enteilt zu sein. Barenboim - er hatte vor vier Monaten schon das Wiener Neujahrskonzert übernommen - schien in dieser Phase irgendwie überflüssig. Wer zuhause in der Partitur mitlas, kam - so erging es jedenfalls mir - kaum noch mit dem Blättern hinterher.
Was den Berliner ebensowie den Wiener Spitzen-Klangkörper vor "nur guten" Orchestern auszeichnet, ist die unglaubliche Geschlossenheit, diese große einheitliche Linie, dieser sich in Tönen verströmende Atem. Es klingt, als ob nicht mehrere Dutzend Musiker, sondern nur ein einziger am Werk wäre, weil alle genau dasselbe Interpretations-Ziel vor Augen haben und wissen, wie sie es erreichen können.
Deswegen mag man es zwar bedauern, dass sich mittelmäßige Orchester nur selten an dieses anspruchsvolle Werk wagen, andererseits hat es den Vorteil, dass dem Publikum so erspart bleibt, Zeuge einer frustrierenden musikalischen Liebesmüh' zu werden.
Und dennoch: Als Referenzaufnahme für Tschaikowskij-Symphonien würde sich auch das heutige Europakonzert wohl nicht eignen. Vermutlich fehlte der Darbietung letztlich doch noch eine Portion typisch Russisches, jenes slawische Kolorit, was ich z.B. mit Aufnahmen Swetlanows und dem Großen RSO der UdSSR verbinde. Aber dieser Aspekt ist nur etwas für die geübten Ohren-Feinschmecker, die mit einem weit überdurchschnittlichen akustischen Differenzierungs- und Analysevermögen ausgestattet sind.
Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten - behauptet der Volksmund.
Und nicht selten hat er leider recht.
Bei mir bleibt nach diesem Europakonzert 2014 ein sehr schaler, unappetitlicher Nachgeschmack hängen, dessen Hauptverantwortlichen ich in Sir Simon Rattle sehe, ohne allerdings den stichfesten Nachweis führen zu können. Was damit gemeint ist, formuliere ich einmal zur besseren Veranschaulichung umgekehrt, weil dann ziemlich jedem klar werden sollte, welcher Skandal - und dieses scharfe Wort scheint mir keinesfalls übertrieben - sich heute in Berlin zugetragen hat.
Nehmen wir nun mal an, stellen wir uns das "Szenario" vor, in der britischen Hauptstadt London, dort, wo ja auch die besten Orchester des Landes ihren Sitz haben, hätte ein deutscher/österreichischer Chefdirigent eines der sogenannten "Big Five" (Klemperer/Philharmonia war ein historisches Bsp.) während eines Hunderter-Gedenkjahres, eines Centennariums, von einem der - eher wenigen - bedeutenden Komponisten des Landes, also z.B. 1959, dem 200. Todesjahr des als Komponist England faktisch zuzurechnenden G. F. Händel, oder 1995, dem 300. Todesjahr Purcells, oder jüngst 2013, dem 100. Geburtsjahr Benjamin Brittens, es kraft Amtes fertiggebracht, im Rahmen eines zentralen Konzertes, über welches alle Medien berichten, kein einziges Werk des historischen britischen Centennariums-Jubilars auf das Programm zu setzen, sondern anstelle dessen zwei Werke, die eine Hommage bzw. einen direkten Bezug zu dem gleichzeitig, in demselben Jahr bestehenden (halb)runden Gedenktag eines berühmten deutschen(!) Vertreters der Weltliteratur. (1959 etwa wäre das möglich gewesen, da es nicht nur ein Händel-, sondern ein Schiller-Gedenkjahr war.)
Dieser Gedanke erscheint jedem spontan vollkommen absurd, und seine Verwirklichung wäre so gut wie undenkbar. Denn der Respekt vor erstens dem gastgebenden Land und vor zweitens der Musik hätte es jedem kontinentaleuropäischen Gentleman (alter Schule) am Pult eines Londoner Orchesters geboten, in DIESEM Konzert den britischen Komponisten zu ehren - und nicht den deutschsprachigen Literaten.
Exakt das, nur mit vertauschten Rollen, passierte jedoch heute in Berlin!
Obwohl es in der Musikwelt wahrlich kein Geheimnis sein kann, dass sich 2014 zum 300. Mal der Geburtstag von sowohl Carl Philipp Emanuel Bach (8. März) als auch Christoph Willibald Gluck (2. Juli) jährt, zweier defnitiv nicht unbedeutender Komponisten, deren erster mindestens die ganze zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts weitaus populärer war als sein aus heutiger Sicht freilich noch größerer Vater, der überdies am Hofe des Preußenkönigs vor den Toren Berlins wirkte, so dass man in Berlin seine Spuren auch heutzutage fast noch riechen kann, und deren zweiter die Entwicklung der Oper entscheidend beeinflusst hat, ----- trotz dieser allgemein bekannten Gesichtspunkte und Argumente also enthielten sich die Berliner Philharmoniker an ihrem Gründungstag am Ort ihrer eigenen Wirkungsstätte (zur Erinnerung an den 50. Jahrestag von deren Wiedereröffnung) nicht des ungeheuren, ja unübertrieben schändlichen Affronts, anstelle von C.Ph.E. Bach und/oder Gluck sich dem 450. Geburtstag des britischen Nichtmusikers, reinen Wortkünstlers William Shakespeare zu widmen, dessen Biographie und Identität ja im übrigen noch immer nicht geklärt sind !!
Zu Beginn erklang, um den Skandal vordergründig zu vertuschen, mit der Ouvertüre zur Oper "Die lustigen Weiber von Windsor" noch ein Werk eines deutschen Komponisten (Otto Nicolai, des nur 1 Tag nach Robert Schumann geborenen Königsbergers), aber spätestens mit dem folgenden, deutlich längeren Programmpunkt, der seltenst zu hörenden Symphonischen Studie "Falstaff" c-moll op. 68 von Edward Elgar, war klar, wohin die musikalische Reise im ersten Teil des Europakonzertes 2014 führen sollte: Auf die britische Insel, ins Heimatland des nicht anwesenden Chefdirigenten.
Daniel Barenboim als "Sündenbock" erscheint mir angesichts der Rattle-Vorgeschichte nicht schlüssig, auch wenn er im Pausengespräch sich lobend über Elgars op.68 äußerte. Ich nehme ihm dieses diplomatische Lob nicht ab und gehe fest davon aus, dass zumindest die erste Programmhälfte dem Plan des Wirrlockenkopfes Rattle entsprungen ist.
Sollte also Sir Simon Rattle hinter all dem stecken, woran ich keine Sekunde zweifle, weil er von Anbeginn seiner völlig verfehlten, fatalen Wahl zum Nachfolger Abbados laufend unbedeutende Werke insbesondere britischer Komponisten auf das Programm der Berliner Ph. gesetzt und damit die Berliner Tradition verlustreich verwässert hat (die Symphonische Studie "Falstaff" wird im Standard-Konzertführer von Reclams mit 1 einzigen Satz abgehandelt, was seine guten Gründe hat, weil sie nämlich vergleichsweise unbedeutend ist!), dann hat er mit dem heutigen Faux-pas auch meine allerletzten Sympathien verspielt - mag er optisch noch so sehr wie ein moderner Mozart wirken!
Sir Simon, let me say: "I am looking forward to your demission from the conductor's stand of the Berliner Philharmoniker!"
So deutlich abwertend äußere ich mich nur sehr selten in Bezug auf eine prominente Dirigenten-Persönlichkeit. Aber Rattle hat für mein Empfinden heute den Jordan endgültig überschritten.