Alles für die Katz? - Über die Nachhaltigkeit von "Wiederentdeckungen"

  • Manche Label sind vorzugsweise damit beschäftigt in Vergessenheit geraten Komponisten und ihre Werke "wiederzuentdecken"
    Solche Entdeckungen werden meist allgemein bejubelt und man wundert sich, wie solche Werke in Vergessenheit geraten konnten, waren deren Schöpfer doch zu Lebzeiten oft ebenso berühmt wie die "ganz Großen" - ja gelegentlich gab man ihnen sogar den Vorzug vor diesen. Meist folgt einer Neuentdeckung und ihrer "Erstaufnahme" ein zweites, drittes oder weiteres Werk. Nach einiger Zeit indes kann man die bejubelte Edition zum Budgetpreis erwerben - und zwei Jahre später ist der neu Entdeckte Komponist bereits wieder vergessen. Indolenz der Hörer ? Zeitgeschmack ? Oder war alles nur eine Seifenblase - der Komponist ein Produzent von Massenware, die einst dem Zeitgeschmack entsprach ?


    Man könnte dieses Thema an Hand von Beispielen erörtern...


    mfg
    aLfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Für ein Label ist ja v.a. entscheidend, dass es insgesamt keine Verluste macht. Zumindest in Deutschland gab es, gerade auch bei weniger bekannten Komponisten, in der Vergangenheit oft Kooperationen mit Rundfunkanstalten und anderswo findet man gerade bei kleineren Labeln (unabhängig vom Komponisten) Sponsorenlogos oder Danksagungen im Beiheft.
    Natürlich nehmen Label wie Hyperion auch in Kauf, dass sie mal bei einer CD sehr lange warten müssen, bis sie damit Gewinn machen oder ganz darauf verzichten müssen. Dafür gewinnen sie aber an Renommee, eben ein "Entdeckerlabel" zu sein. Selbst wenn es nicht so viele potentielle Käufer gibt, hat man ja bei einer Rarität oft ein Monopol, weil es erst einmal gar keine Alternative zu kaufen gibt. Insofern könnte ich mir vorstellen, dass in den ca. 10 Jahren, in denen Hyperions CD der Rott-Sinfonie die einzige im Katalog gewesen ist, sich die ganz gut verkauft hat.


    Dass Neuentdeckungen im Allgemeinen bejubelt werden, scheint mir übertrieben. Natürlich gibt es Rezensenten und Hörer, die froh sind, nicht die dreißigste Aufnahme eines Standardwerks präsentiert zu bekommen oder rezensieren zu müssen. Und je gesättigter das Angebot bei Standardwerken ist, desto mehr Hörer interessieren sich vermutlich für Nischenrepertoire.
    Das ändert aber nichts daran, dass unser Musikleben, sowohl im Konzert als auch auf Tonträgern, letztlich standardrepertoire- und interpretenzentriert ist. Kaum ein Interpret schafft es, eine Karriere auf Wiederentdeckungen und Nischen zu bauen (jemand wie Hamelin ist eine Ausnahme) und die meisten Hörer haben an einer neuen Mahler-Aufnahme mit Gergiev oder gar an der Wiederveröffentlichung eines Rundfunk-Mitschnitts mit Furtwängler eher Interesse als an einer Sinfonie von Spohr oder Onslow.


    Es gibt aber auch erfolgreiche Wiederentdeckungen; wir hatten ja schon mehrere Threads dazu. Aus den letzten ca. 25 Jahren (teils hat es vorher begonnen), fallen mir folgende ein, bei denen ich es mehr oder weniger miterlebt habe:


    Biber, besonders die Rosenkranzsonaten
    Zelenka
    Rott (Sinfonie, viel mehr gibt es ja nicht)
    Zemlinsky


    Außerdem könnte man die Barockoper nennen und die "Erstfassungen" von Brucknersinfonien. Die wurden von der Riege der Brucknerdirigenten bis einschließlich Wand weitestgehend ignoriert; Inbal war in den 1980ern meines Wissens der erste, der sie eingespielt hat. Und seither gibt es etliche weitere Aufnahmen dieser Fassungen (ich verfolge das nicht so genau, weiß daher keine Details).

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo,


    ich möchte hier Kant zitieren. Dieser meinte im Zusammenhang mit Geistererscheinungen und Gespenstergeschichten, daß er jede einzelne zwar anzweifle, der Gesamtheit aber eine gewisse Bedeutung zuordnen würde.
    Auf das Thema bezogen hieße das: der einzelne Musikhörer mag sich mit seinen Vorlieben und Geschmacksrichtungen "irren", die Gesamtheit der Klassikhörer, Konzertgänger, Rezensenten und Musikwissenschaftler irrt sich in der Regel nicht, was die Bedeutung von Komponisten im historischen Gesamtzusammenhang angeht, sodaß "Neuentdeckungen" sich letztendlich, auch aus Gründen, die Johannes schon ausgeführt hat, nicht auf dem Markt halten können.


    Viele Grüße
    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Nach einiger Zeit indes kann man die bejubelte Edition zum Budgetpreis erwerben - und zwei Jahre später ist der neu Entdeckte Komponist bereits wieder vergessen.

    Was heisst, wieder vergessen? Ist es nicht eher so, dass der geneigte Sammler dann bereits befriedigt wurde? Ich bin sehr dankbar für die GA der Symphonien von Villa-Lobos, Joachim Raff, Darius Milhaud, und, und, und... Aber ich benötigte hier keine zweite und dritte Aufnahme, wenn die ersten interpretatorisch und klanglich so gut sind. Die stehen in meiner Sammlung und werden gehört und vergessen werden die Komponisten sicher nicht mehr.

  • Zitat

    Ist es nicht eher so, dass der geneigte Sammler dann bereits befriedigt wurde?


    Jein - Oft ist es ja so, dass man einer "Neuentdeckung" (= Wiederentdeckung) skeptisch gegenübersteht und den Erwerb, bzw die Auseinandersetzung damit "auf die lange Bank" schiebt, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Wunschliste in Bezug auf Interpreten und Mainstream-Aufnahmen ohnedies recht lang ist und die finanziellen Mittel nicht unbegrenzt sind. Last, but not least, ist es auch eine Zeitfrage -man möchte die Neuerwerbungen schließlich auch hören.
    Wenn ich das Forum durchsuche, dann finde ich gelegentlich noch heute Empfehlungen, die ich vo 5 Jahren übersehen habe. Manchmal gibt es das Gewünschte dann erfreulicherweise viel günstiger als zum Zeitpunkt des empfehlenden Beitrags - oft aber - leider überhaupt nicht mehr.
    NACHHALTIGE Wiederendeckungen im 20. Jahrhundert waren vor allem
    Antonio Vivaldi
    Luigi Boccherini
    Hans Rott
    Joachim Raff
    Ferdinand Ries

    --------------------------
    Auf Wunsch kann über die einzelnen Fälle diskutiert werden


    In den "Startlöchern" stehen (meiner Einschätzung nach)
    Ignaz Pleyel
    Antonio Rosetti

    Im Falle von Wiederentdeckungen neuerer Komponisten, wie beispielsweise Felix von Weingartner fühle ich mich nicht in der Lage eine Bewertung, bzw Prognose abzugeben...
    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Zitat

    Im Falle von Wiederentdeckungen neuerer Komponisten, wie beispielsweise
    Felix von Baumgartner fühle ich mich nicht in der Lage eine Bewertung,
    bzw Prognose abzugeben...

    Lieber Alfred,


    ich hoffe doch Du meinst Felix Weingartner :D In diesem Fall würde ich behaupten, dass dieser auch den Sprung - wenn auch nicht so meisterhaft wie Deine fünf genannten - geschafft hat. Manchmal, wenn auch selten findet man ihn sogar im Konzertprogramm Deutscher Orchester.
    Als einziger der skandinavischen Unbekannten dürfte es Kurt Atterberg gelangen sein aus dem Nischenrepertoire zu flüchten. Seine Werke werde nun wieder in großen Teilen der Werk gespielt, wobei ich auch denke, dass er es nicht so schwer hatte wie andere, da er auch nie so wirklich ganz vergessen war...


    LG
    Christian

    Danke für die Korrektur. Wurde ausgebessert, man soll halt nicht 3 Dinge gleichzeitig machen wollen... MOD 001 Alfred

  • Als einziger der skandinavischen Unbekannten dürfte es Kurt Atterberg gelangen sein aus dem Nischenrepertoire zu flüchten.

    Mir scheint aber auch, dass Herr Stenhammar das inzwischen geschafft hat. Von seine 6 Streichquartetten ist gerade die dritte GA unterwegs und seine beiden Klavierkonzerte scheinen sich bei den Interpreten auch einer zunehmenden Beliebtheit zu erfreuen. Der Werbepartner listet derzeit 39 Aufnahmen ausschließlich mit Werken von ihm (auch wenn einige doppelte darunter sind).

  • Bei jpc sind wesentlich mehr Stenhammar- und Alfvén-Aufnahmen gelistet als Atterberg und Rangström. In meinem alten Ullstein-Lexikon von 1965 klingt das noch andersrum:

    Zitat

    Schwedische Kunstmusik im engeren Sinne entstand im 19. Jahrhundert und sogar erst in seiner 2. Hälfte, etwa durch A.F. Lindblad, J.A. Söderman, J. Hallström und A. Hallén. Mit T. Aulin, W. Stenhammar, H. Alfvén, N. Berg, E. Kallstenius, besonders aber mit T. Rangström, K. Atterberg usw. wuchs innerhalb von 20 Jahren eine schwedische Komponistengeneration von ansehnlichem Rang hervor.


    Es scheinen also Atterberg und Rangström abgebaut und Alfvén und Stenhammar zugelegt zu haben.

  • Hallo,


    ich möchte nicht pedantisch sein, aber Alfred hatte völlig recht: der korrekte Name lautet Paul Felix von Weingartner, Edler von Münzberg (Quelle MGG, Band 17 sowie biographische Enzyklopädie der Musik, Band 2).
    Er stammte aus einer Diplomatenfamilie, und in der kuk-Monarchie war es bekanntlich üblich, daß hohe Offiziere (etwa ab Feldmarschalleutnant) oder hochrangige Beamte und Diplomaten, sofern sie nicht ohnehin adelig waren, spätestens beim Eintritt in den Ruhestand nobilitiert wurden.


    Viele Grüße


    J.Schneider


    Es ging nicht um den Titel, sondern um den Namen: Ich hatte im Original versehentlich BAUMGARTNER statt WEINGARTNER geschrieben - eine freudsche Fehlleistung, die Langzeitmitglieder, die den Hintergrund kennen - vermutlich zu lautem Lachen provoziert haben.... LG Alfred MOD 001

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Bei jpc sind wesentlich mehr Stenhammar- und Alfvén-Aufnahmen gelistet als Atterberg und Rangström. In meinem alten Ullstein-Lexikon von 1965 klingt das noch andersrum:


    Es scheinen also Atterberg und Rangström abgebaut und Alfvén und Stenhammar zugelegt zu haben.

    Hallo Taminos,


    letztendlich darf man aber nicht übersehen, dass Atterberg und Rangström ein viel geringeres Ouvre haben als eben Alfven oder Stenhammar und somit gar nicht soviel zum Aufnehmen bieten. Während die beiden erstgenannten vorallem sinfonisch zur Geltung kommen ( Rangström auch Lieder, von denen einige aufgenommen sind ) ist Alfven ein ziemlicher Allrounder wie auch Stenhammar. Stenhammar war zudem auch Klavierkomponist, was weder Rangström noch Atterberg jemals war. Ich denke auch, dass eine Entdeckung nur wirklich nachhaltig ist, wenn sie auch im Konzert gespielt werden. Bei Stenhammar ist dies fast ausschließlich in Schweden der Fall, Alfvén wird selbst dort sogut wie gar nicht gespielt. Atterberg hingegen mag zwar was die Discografie angeht nicht so zahlreich sein, aber seine Sinfonien werden wieder gespielt und das zeigt mir, dass er eben nachhaltig wiederentdeckt ist!


    Beste Grüße
    Christian

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  • Für den Konzertveranstalter, der zunächst Abos verkaufen und Abonnenten halten muss und dann noch einen befriedigenden Freiverkauf braucht, sind unbekanntere, wiederentdeckte Komponisten auch ein ökonomisches Problem. Wir führen beim Heilbronner Sinfonie Orchester - auch um die Experimentierfreude des Dirigenten und des Orchesters in Grenzen zu halten - über viele Jahre eine Werke/Besucherstatistik. Hier läßt sich genau belegen, dass die Besucherzahlen bei allgemein bekannten, populären Werken signifikant höher liegen. Zumindest Orchester, die existenziell auf Einspielergebnisse angewiesen sind, müssen diese Zusammenhänge zwingend berücksichtigen. Das heißt nun nicht, dass langweilige Programme geboten werden müssen. Die Mischung muss stimmen, will heißen, das unbekanntere Werk muss in einer Salamitaktik zwischen bekanntere Stücke gepackt werden. Ganz konkret: Christian Biskup hat mich von der 2. Sinfonie von Ludolf Nielsen begeistert. Gerne möchte ich mit ihm nun in 15/16 ein Programm mit dem Titel: Nordische Glückmomente konzipieren. Wenn das eine Realisierungschance bekommen soll muss die Nielsen-Sinfonie mit "Reissern" wie: "Sibelius Violinkonzert" nebst zugkräftigem Violinisten, "Hebriden Ouvertüre", Schwedische Rhapsodie, Valse Triste usw. gekoppelt werden. Unbekanntere Werke haben durchaus eine Chance, wenn sie richtig angeboten werden und dann beweist es sich, ob sich das Werk auf Dauer neben den Klassikern des Konzertbetriebs behaupten kann.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Ich denke auch, dass eine Entdeckung nur wirklich nachhaltig ist, wenn sie auch im Konzert gespielt werden. Bei Stenhammar ist dies fast ausschließlich in Schweden der Fall, Alfvén wird selbst dort sogut wie gar nicht gespielt. Atterberg hingegen mag zwar was die Discografie angeht nicht so zahlreich sein, aber seine Sinfonien werden wieder gespielt und das zeigt mir, dass er eben nachhaltig wiederentdeckt ist!

    Ich stimme Dir zu, nur konnte ich mich an keine Konzerte erinnern mit einem der vier Komponisten und wusste jetzt auch nicht, wo ich suchen könnte.
    :hello:

  • Um es kurz die Vertretung der Werke Atterbergs im Konzertprogramm zu beweisen:


    Sinfonie Nr. 3 - Göteborg 2013
    Sinfonie Nr. 4 - Kanagawa 2014
    Sinfonie Nr. 5 - Göteborg 2014
    Sinfonie Nr. 6 - Köln 2013, Tokyo 2013, Berlin 2014
    Hornkonzert - Växjö und Malmö 2014
    Suite Nr. 3 - Moskau 2013
    Intermezzo für Streicher - Bern 2013


    Wie man schnell merkt beschränkt sich diese bestimmt unvollständige Liste nur auf dieses und vergangenes Jahr und ist meines erachtens ein beweiß, dass die Wiedereingliederung recht erfolgreich vonstatten geht. Stenhammar wird meines Wissens fast nur in Göteborg gespielt - in der Spielzeit 2013/14 immerhin drei Mal ( Sinfonie Nr. 2 mit Blomstedt, Klavierkonzert mit Nagano, Serenade für Orchester mit Blomstedt )! Aber bei uns einen Stenhammar finden?


    Beste Grüße
    Christian

  • ES gibt ja verschiedene Ansichten darüber, ab wann man eine "Wiederentdeckung" als "nachhaltig" bezeichnen kann. Im Haydnjahr 1982 wurden quasi seine Opern "wiederentdeckt", was allseits bejubelt wurde. Philips brachte sie in durchwegs guter Besetzung auf den Markt. Aber schon nach wenigen Jahren waren sie wieder weitgehend vom Markt verschwunden - im Haydn Jahr 2009 folgte dann eine Wiederauflage in einer Gesamtbox. Das ist nicht besonders förderlich - denn jene die schon 1982 einige Opern erworben haben müssten, um ihre Sammlung zu ergänzen, die neue Box kaufen - und jene die noch keine Haydn -Oper kennen, werden wahrscheinlich auch nicht bereit sein den ganzen Block auf einmal zu kaufen..
    Kommen wir auf den orchestralen Bereich: Mancher meint, lediglich dann, wenn ein Werk regelmäßig am Spielplan steht, sei es wieder "Allgemeingut" - persönlich würde ich mich schon mit Aufnahmen begnügen. Ein weiteres Indiz indes, sollte die Erwähnung und Beschreibung solcher (angeblich) wiederentdeckten Werke in den diversen Konzert- und Operführern sein. Hier liegt noch manches im Argen - oder besser gesagt: eigentlich alles...


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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