Beethoven: Klaviersonate Nr. 4 Es-dur op. 7 - CD-Rezensionen und Vergleiche (2014)

  • Ludwig van Beethoven: Klaviersonate Nr. 4 Es-dur op. 7 „Grande Sonate“


    Da diese Sonate noch keinen eigenen Thread hat, möchte ich sie hier vorstellen:


    1. Satz: Allegro molto e con brio, Es-dur, 6/8 -Takt, 362 Takte (ohne Wiederholung der Exposition, die allein 136 Takte umfasst);
    2. Satz: Largo, con gran espressione, C-dur, ¾ - Takt, 90 Takte;
    3. Satz: Allegro, As-dur/es-moll, ¾ - Takt, 149 Takte (ohne Wh. T.25-95, T.96-110, da capo T.1-95),
    4. Satz: Rondo, poco allegretto e grazioso, Es-dur, 2/4 – Takt, 183 Takte, ohne Wh. T.64-71, T.72-87);


    Diese Sonate, die zwischen 1796 und 1797 entstanden ist, hat aus mehreren Gründen den Beinamen „Grande Sonate“ verdient. Zum Einen hat sie, wie o. a. Satzübersicht zeigt, eine sehr große taktmäßige Ausdehnung, die größte nach der Hammerklaviersonate, aber auch ihre temporale Ausdehnung, die je nach Interpret schwankt, ist mit ca. 25 bis 31 Minuten am zweitlängsten.
    Aber auch kompositorisch ist dieses Frühwerk durchaus als groß zu bezeichnen:


    „…zum anderen ist die zwar schon mit op. 2 etablierte Viersätzigkeit zyklisch auf neue Weise erfüllt, was nicht zuletzt für die Proportionen innerhalb und zwischen den Sätzen Bedeutung bekommt. Vor allem der Sonatenhauptsatz (363 Takte) und der dritte Satz, diesmal bezeichnenderweise nicht als Scherzo betitelt (149 Takte ohne Wiederholungen und da capo) erhalten eine gewaltige Aufwertung, der einerseits erneut die symphonische Dimension des langsamen Satzes standhält und andererseits eine alternative Finallösung nahelegt….so fand Beethoven hier den Lösungsweg einer ausdrucksspezifischen Umlenkung. Ein graziöses Allegretto schafft eine neue Charakteristische Ebene, die im Sinne eines entspannten Ausschwingens eine andere und ebenso glückliche finale Wirkung erzeugt; nicht mehr Überbietung von Virtuosität oder gar Dramatik ist angesagt,…sondern das Finale zielt auf eine Lösung als Lyrische Entspannung“. (Siegfried Mauser: „Beethovens Klaviersonaten“, S. 38-39).

    Beethoven selber sah auch wohl die Bedeutung dieser Sonate und gab ihr wohl deshalb auch eine eigene Opuszahl, was er erst wieder bei der Nummer 8, op. 13 wieder machte.
    Auch innerhalb z. B. des Kopfsatzes verschoben sich die Dimensionen. So ist z. B. die Durchführung zugunsten der Exposition (136 Takte) und der Reprise + Coda (167 Takte) auf 51 Takte geschrumpft. Auch ist die Reprise keine „wörtliche“ Wiederholung der Exposition.
    Diese Verschiebung von Elementen aus der Durchführung in die Exposition und in die Reprise weist schon in die kompositorische Zukunft Beethovens:


    „Auf spielerisch-virtuose Weise finden wir so in diesem Kopfsatz eine Tendenz des späten Beethoven anitizipiert, bei dem dann die anspruchsvolleren Durchführungstechniken wie die thematische Verarbeitungs- und Variantenbildung zusehends aus dem Bereich der Durchführung in den von Exposition und Reprise hereingeholt werden“. (Siegried Mauser: ebenda, S. 41).

    Den dritten Satz hat Beethoven wohl bewusst nicht Scherzo genannt, weil er wohl Ergebnis die Form Scherzo-Trio-Scherzo nicht erfüllt sah, denn der mit „Minore“ bezeichnete Mittelteil, sonst Platz des Trios, schien als solcher zu gewichtig, weil er nicht nur äußerlich in die Satzmitte gerückt war.


    Im Finale schließlich wurde deutlich, dass ein Rondo wie dieses durch die Ausgestaltung der Variationen dennoch dem Sonatenhauptsatz nahe steht, dass aber Beethoven schon in dieser seiner erst vierten Sonate schon mit einer Erweiterung der Form experimentierte.
    Diese Vielzahl von ungewöhnlichen Merkmalen dieser Sonate bestätigt m. E. ihre kompositorische Größe und zeugt von Beethovens früher Meisterschaft.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

    Einmal editiert, zuletzt von William B.A. ()


  • Beethoven, Sonate Nr. 4 Es-dur op. 7
    Claudio Arrau, Klavier
    AD: April 1964
    Spielzeiten: 8:43 - 9:43 - 5:13 - 7:51 – 31:40 min.


    Der erste Bericht fällt zwangsläufig länger aus, weil Vieles in dieser langen Sonate anders ist als in anderen Sonaten, und das einmal für alle weiteren Interpretationen Wichtige in den folgenden Berichten wegfallen kann.


    Claudio Arrau nimmt diese wahrhaftig große Sonate im Kopfsatz mit, wie ich finde, ausreichend schnellem Tempo und achtet von Anfang an auf die zahlreichen dynamischen Vorschriften wie z. B. auf das erste Sforzando in Takt 3, das kurze Crescendo/Decrescendo in Takt 9/10 und die nachfolgenden in Takt 13-15, 21-24. Interessant auch die eng beieinander stehenden ff und pp in den Takten 25 – 32, die Arrau auf das Feinste trifft, wobei er das Fortissimo durchaus kräftig gestaltet. Bereits hier sind Merkmale zu erkennen, wie sie sonst in der Durchführung vorkommen, so ändern sich die Figuren oft, wie z. B. der Wechsel von Achtelläufen in der linken Hand mit den Akkorden in der rechten Hand ab Takt 5, dann wieder zurück ab Takt ab Takt 13. Nach der Überleitung in Takt 17 laufen dann die Achtelfiguren in beiden Händen zum Teil parallel, um am Takt ab Takt 25 von einer neuen Form abgelöst zu werden, nämlich Akkorden, die in den Pianissimi in der rechten Hand als Oktaven gespielt werden und in den Fortissimi als Oktaven in der linken Hand. nach der Überleitung ab Takt 41 stehen den Achtelläufen in der rechten Hand zunächst die Sforzandi in der Begleitung zusammen mit der Voschlagnote als Septim oder im Gefolge diese Figuren in die rechte Hand wechseln und in Takt 51 und 53 zu einer Tredezime werden. So geht es in rascher Folge weiter, und dieser gewiss nicht leicht nachzuvollziehende Aufbau wird von Arrau sehr transparent und in einem natürlichen Fluss dargestellt. In Takt 59 bis 67 folgt dann ein neuer, sehr sanglicher Abschnitt mit wechselnden Intervallen in beiden Händen und nach einem, wie ich meine, kurzen Überleitungsabschnitt mit Duolen und Triolen in der rechten Hand wechselt es dann an Takt 73 erneut, wobei dann den absteigenden Oktaven in der rechten Hand (abwechselnd Zweiern und Dreiern) in der linken Hand absteigende Zweier-Terzen gegenüberstehen. Auch hier gestaltet Arrau das Geschehen dynamisch sehr aufmerksam, vor allem ist das Crescendo ab Takt 76 zu loben, sowie in der wiederum ab Takt 79 geänderten Form mit den tiefen Bassakkorden im Fortissimo und den gleich darauf folgenden punktierten Noten im Pianissimo. Ab Takt 85 treten dann in der rechten Hand wieder Oktaven auf, die sich ab Takt 93 mit dem ersten Sforzando in parallel laufenden aufsteigende Achtelfiguren mit einleitendem, auf dem Sforzando liegenden Oktavakkord wandeln , die ab Takt 97 in aufsteigende und bis zum ff crescendierende Sechzehntel münden mit überleitenden Viertelakkorden ab Takt 99. Diese führen zu einer weiteren „Variierung“: die vormals aufsteigenden Achtel wandeln sich in aufsteigende und bis zum ff crescendierende Sechzehntel, denen aufsteigende, Staccato-Achtelfiguren. All das mündet ab Takt 105 in ein prächtiges Crescendo, in der rechten Hand aufsteigende Sechzehntel, in der Begleitung ¾ -Akkorde, von Arrau abermals prachtvoll ausgeführt. Ab Takt 111 folgt dann nach einer kurzen Überleitung wieder ein neuer ausgedehnter Abschnitt, in dem in der rechten Hand jeweils pro Takt zwei auf und absteigenden Sechser-Sechzehntelfiguren taktübergreifende zunächst um eine Oktav steigende, dann um zweimal eine Oktav fallende, dann zweimal steigende und zweimal fallende Sforzandi gegenüberstehen. Im letzten Abschnitt der Exposition folgen dann wechselnde Achtel- und Viertel-Akkorde mit Sforzandi auf dem ersten Akkord, wohl zwecks Überleitung zur Wiederholung dieser gigantischen Exposition, die taktmäßig mehr als doppelt so umfangreich ist wie z. B. die Exposition der Mondscheinsonate. Und für die Claudio Arrau hier 2.17 min. braucht.
    In der Durchführung nach 4: 35 min. von Takt 137 bis 188 passiert dann naturgemäß nicht mehr so viel: sie beginnt mit Fortissimo-Akkorden in Takt 137 und 138 in der Begleitung und 139 in der rechten Hand, denen ab Takt 141 Legatobögen in Moll folgen, zum großen Teil in beiden Händen und im p gehalten, erst in Takt 151 mit einem Crescendo, und in Takt 152 endend. In Takt 153 folgen dann Achtel- und Viertelfiguren, die denen im Überleitungsteil von Takt 127 bis 136 ähneln, aber ebenfalls in Moll stehen, wiederum und auch taktübergreifend mit einem Sforzando auf dem jeweils ersten, in der Begleitung fast durchgehenden Oktav-Akkorden. Nach den letzten Akkorden in Takt 164/65 in ff notiert sind, folgt eine kurze p-Überleitung, der das Hauptthema, diesmal in Moll, im Pianissimo folgt, um dann in Takt 177 unvermittelt in ff auszubrechen, aber nur für 4 Takte, dann geht die Durchführung im p, im letzten vollen Takt 187 und in 188 auf eins im Pianissimo zu Ende.
    In Takt 189 beginnt die Reprise, aber anders als in der Exposition, mit veritablen Auftaktakkorden im Fortissimo, die Arrau auch adäquat umsetzt. Auch sonst weicht die Reprise im weiteren Verlauf von der Exposition ab, d. h. auch hier gibt es in den musikalischen Figuren wieder Änderungen und vor allem im ersten Teil bis Takt 214 mehr dynamische Spitzen mit einer Kette von fünf Sforzandi allein in Takt 209-211. Ansonsten gibt es natürlich auch viele Stellen, wo der Auftakt wieder auftaucht, oder die beiden tiefen Fortissimo-Takte 79 und 80, hier 259 und 260, interessanterweise genau 180 Takte später. Überhaupt ist mir im Laufe der vielen Hörsitzungen, die ich bis jetzt gemacht habe, immer wieder aufgefallen, wie schlüssig mathematisch diese Musik auch aufgebaut ist.
    Nach vielem, was man in der Exposition so oder so ähnlich schon gehört hat, scheint mir dann bei Takt 312 die Coda einzusetzen mit einem Sforzando und anschließenden ff, aber dann wieder rasch wechselnden dynamischen Gegensätzen zwischen ff und p, geht es in Takt 343 sogar ins pp, wo Arrau nach all dem leidenschaftlichen und pathetischen Schwung einen Augenblick innehält in Takt 343 bis 350- welch ein genialer Einfall! Dann ein letztes Mal die Anfangsakkorde, dieses Mal als Crescendo bis hin zum Fortissimo-Abschluss. Der Kreis schließt sich - nach 492 gespielten Takten.


    Welch ein Gegensatz stellt sich uns in der Eröffnung dieses herrlichen „Largo, con gran espressione“ zum Kopfsatz dar. Wie spannungsreich und ergreifend gestaltet Arrau diesen Satz. Schon nach dem ersten Akkord Gänsehaut. Nach dem Zwischenspiel ab Takt 9 wird in Takt 15 das Hauptthema in variierter Form wiederholt, diesmal mit zwei dreifachen Fortissimo-Akkorden in Takt 20 und21. Nach einem kurzen Crescendo/Decrescendo in Takt 22/23und einem weiteren überleitenden in Takt 24 erscheint in Takt 25 das zweite Thema in der Spielvorschrift „sempre tenute“ (rechts) und sempre staccato (links). Arrau spielt das herrlich, auch wie sich das Thema in Takt 29 in Mollwandelt. So geht es hin und her, wieder kurz Dur, wieder Moll, ab Takt 33 wieder mit der ursprünglichen Vorschrift aus Takt 25, in Takt 37 mit den dunklen Moll-Oktav-Akkorden, die von den hohen Trillern abgelöst werden, in Takt 39/40 wieder die Moll-Akkorde, jetzt in p-sf-p, dann wieder die Triller, die alle im Pianissimo so darübergehaucht scheinen, kurz das Hauptthema in den hohen Sphären, dann ab Takt 45 eine scharfe Sforzando-Kette, die von Staccato-Sechzehnteln abgelöst wird.
    In Der Wiederholung des Hauptthemas in Takt 51 fällt auch auf, ähnlich wie in der Reprise des Kopfsatzes, dass hier manchmal kaum merkliche Änderungen Platz greifen, z. B. die Sechzehntel in Takt 65 und 66 in der rechten Hand (linke Hand Pause). Auch die die Sechzehntel-Figuren ab Takt 74 (g‘-g‘‘-g‘‘) bis Takt 76, die ganz betörend sind, sind neu hinzu gekommen und werden noch in Takt 76 erweitert bis zu Takt 78 hier von sf zu f und dann zu ff führen und dann ab Takt 78 zu einer Coda der „anderen Art“. Sie ist, wie ich finde, in ihrer Art, wie auch der Übergang in eine andere Sphäre beschrieben sein könnte, einmalig und von Claudio Arrau grandios gespielt.


    Das Allegro wurde, wie ich ja schon im Einführungstext ausgeführt habe, von Beethoven selbst nicht als Scherzo bezeichnet, weil der hier unter der Bezeichnung „Minore“ eigentlich an der Trio-Stelle stehende Satzteil eine zu große Bedeutung gewonnen hat.
    Formal ist dieser Satz aufgebaut aus vier Teilen: a-a-b-a, das heißt, das Allegro wird (jedenfalls von Arrau) wiederholt, dann folgt das „Minore“, dann nach dem Minore als da capo noch einmal das Allegro. Im Ganzen spielt Claudio Arrau also einschließlich Wiederholungen im 3. Satz 352 Takte. (Zum Vergleich: Das Menuetto aus der ersten Sonate hat mit da capo 146 Takte).
    Vom Verlauf her ist das Allegro sehr anmutig und beherbergt in Takt 39 ein „mancando“ in sich, was die gleiche Bedeutung hat wie das „calando“ im Finale der Pathétique, also „verschwindend, abnehmend (temporal und dynamisch). Auch diese „Kleinigkeit“ ist für mich eine Schlüsselstelle, die Arrau exakt ausführt. Beim Verfolgen des „Minore“ muss man ganz genau hinschauen, weil die Achtelfiguren sehr schnell dahin gehen. In seiner Art weist dieses „dämonisch-Gespenstische“ sog. „Trio“ schon in die Zukunft. Arrau wiederholt vorschriftsmäßig die ersten 15 Takte. Im da capo des Allegro spielt er durch.


    Das Poco Allegretto e grazioso, welches in Rondeauform komponiert ist, übrigens bereits zum zweiten Mal nach der Sonate Nr. 2 op. 2, die wie die Nr. 4 auch ein Largo als langsamen Satz hat, besteht aus vielen Variationen. Schon in Takt 12 wird das Hauptthema oktaviert. Alles fließt völlig entspannt und anmutig dahin. Claudio Arrau wählt ein moderates Tempo, wie es dem Allegretto gebührt. Köstlich, wie die Dreierfiguren in der rechten Hand zwischen Takt 18 mit Auftakt und Takt 25 sowie die Zweiunddreißigstel in der linken Hand unter den Akkordketten der Begleitung hingetupft werden. Die Zweiunddreißigstel wandern dann in einer Abwandlung in die rechte Hand und alternativ wieder in die Begleitung und erzeugen so eine swingende Bewegung. Auch die vielen dynamischen Feinheiten kommen hier unter den Händen von Claudio Arrau wieder wunderbar zur Geltung, ebenso die Triller und nach dem ff in Takt 46 und dem Decrescendo in Takt 48 folgt der Übergang zur Wiederholung des Hauptthemas, auch die Staccati in der Folge vergisst er nicht.
    In Takt 63 bis 93, der von der Anlage her (in Moll) durchaus als Durchführung betrachtet werden könnte und in denen zwei von Arrau gespielte Wiederholungen vorkommen (Takt 64 bis 71, und Takt 72 bis 87) stehen sich die Zweiunddreißigstel-Ketten, teils in der rechten Hand und Viertel- und Achtel-Akkorde gegenüber, teilweise auch in beiden Hände, teilweise vertauscht. Es ist in diesem vorsichtig mit „dramatisch“ bezeichneten Abschnitt also allerhand Aktion, immerhin so viel, dass ab Takt 93 wieder das lyrische Hauptthema auftaucht, aber auch wieder mit geringfügigen Modifikationen. In der Folge fließt das Geschehen weiter mit vielen Zweiunddreißigstel-Figuren, mit vielen Auf- und Ab-Bewegungen in der Tonhöhe in der Dynamik durchaus auch mit ffp in Takt 161. Ob und wo hier noch eine Coda anzusetzen wäre, wage ich nicht zu behaupten. Jedenfalls hat dieser wunderbare Finalsatz einen etwas überraschenden Schluss, wie ein Rad, das langsam und leise zum Stehen kommt. – Typisch Beethoven!!


    Einschließlich der gespielten Wiederholungen hat Arrau in diesem Satz 207 Takte gespielt.
    Eine großartige Interpretation!


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup:

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  • Beethoven, Sonate Nr. 4 Es-dur op. 7
    Claudio Arrau, Klavier
    AD: 1987
    Spielzeiten 1987: 9:07 - 9:48 - 5:23 - 8:17 – 32:35 min.
    Spielzeiten 1964: 8:43 - 9:43 - 5:13 - 7:51 – 31:30 min.


    Claudio Arrau nimmt in dieser 23 Jahre später entstandenen Aufnahme die Spielzeiten nicht signifikant langsamer, wie man angesichts seines Alters von nunmehr 84 Jahren meinen könnte (s.o.).
    Lediglich seine dynamische Spannweite ist nach oben hin ein wenig der Altersmilde gewichen.
    Ansonsten beachtet er weiterhin sehr sorgfältig die Crescendi und Decrescendi sowie die Sforzandi. Die beiden Fortissimo-Takte 79 und 80 kommen m. E. sogar genauso kernig wie in der früheren Aufnahme. Ebenso sind die Legatobögen, die Staccati, eigentlich die ganze Grundtechnik, nach wie vor ausgezeichnet.
    Auch die Transparenz zischen rechter und linker Hand ist nach wie vor sehr gut zu verfolgen. Vieles habe ich schon in der ersten Rezension gesagt, aber ich möchte doch noch mal auf die vorzügliche Gestaltung des, ja ich möchte sagen, in diesem Falle „Kleinods“, der Durchführung, hinweisen, die zwar in Moll steht, aber fast durchgängig legato gespielt wird, und das ist gerade in den gegenläufigen Tonleitern in den Takten bis 152 sehr eindrucksvoll, auch im nächsten Abschnitt, der sich aus kurzen Bögen mit Auftakt-Sforzando zusammensetzt und von einem herrlichen Decrescendo in Takt 167/168 abgeschlossen wird. Sehr bemerkenswert auch die vier Abschlusstakte der Durchführung, 185 bis 188 mit einem terrassendynamischen Abschwung.
    Sehr schön auch die Reprise, die ja auf höherem dynamischen Level beginnt als die Exposition und in der die beiden Tridezim-Sprünge aus der Exposition nun durch tiefer gelagerte Duodezim-Sprünge ersetzt werden. Auch in der an dynamischen Gegensätzen reichen Coda mit den vielen Sforzandi, Fortissimi und auch atemberaubenden Pianissimi zeigt Arrau sein immer noch großes Können.


    Auch dieses Largo spielt Claudio Arrau traumhaft. Welch ein dynamischer Unterschied liegt zwischen dem p im ersten Takt und dem pp in Takt 15, und wie liebevoll gestalte er Crescendo und Decrescendo innerhalb von drei Akkorden in Takt 9/10 und 11/12, und seine „moderaten“ ff-Schläge in Takt 20 und 21 haben noch reichlich dynamischen Abstand zu den unmittelbar vorherigen und unmittelbar folgenden Pianissimi. Brilliant und höchst packend spielt er auch das zweite Thema im sempre tenuto (rechts) und sempre staccato (links). Diese Passage ist dynamisch sehr dicht und mündet in diese abermals herrlich gespielten Dreierfiguren mit zwei Zweiunddreißigstel auf c‘‘‘-d‘‘‘ und einer anschließenden Achtel auf es‘‘‘, in der dritten Doppelfigur die es‘‘‘ als Viertel gespielt- eine traumhafte Stelle. Das wirkt auf mich fast, als wolle die Musik innehalten, bevor die fanfarenartigen Sforzandoketten ab Takt 45 einsetzen. Da vermag ich keinerlei qualitativen Unterschied zwischen der frühen und der späten Aufnahme festzustellen. Das ist einfach nur große Kunst.
    Auch bei Einsetzen der Reprise ab Takt 51, wieder mit Variationen, läuft mir der Schauer über den Rücken, auch bei der Überleitung zur Coda, wo die Begleitfiguren ab Takt 74 in der hohen Lage der rechten Hand liegen und die linke Hand die Melodie spielt und das Geschehen mit ständiger dynamischer Steigerung in den Takten 76 und 77 zu einer p/pp Coda mündet, die so wohl nur von Beethoven ersonnen werden konnte, beginnend mit vier Staccati nur in der rechten Hand und schon im Pianissimo sind, auch hier wieder äußerst langsam, äußerst spannungsreich- äußerst lucide- wahre Himmelsmusik!


    Im 3. Satz Allegro, spielt Arrau auch in dieser Aufnahme alle Wiederholung, wie sollte es auch anders sein, der Satz dauert genau so lange wie in der 64er Aufnahme. Auch hier spielt er das mancando (calando) wieder vorbildlich.
    Das Minore spielt er in schön rollender Weise mit den Fortissimo-Piani. Nur an denen kann ich als Laie erkennen, wo sich der Pianist gerade befindet. Am Ende des Minore wird das Allegro da capo wiederholt, allerdings ohne die inneren Wiederholungen.


    Auch im Schlusssatz, dem Poco Allegretto e grazioso, geht Claudio Arrau nicht der Atem aus. Wieder findet er das richtige Tempo, befolgt er jede dynamische Anweisung und findet er die richtige Balance zwischen Melodie und Begleitung. Besonders die tiefen aufsteigenden Zweiunddreißigstel in Takt 18 und 19 sowie die weiter ab Takt 26 die Seiten wechselnden Zweiunddreißigstel-Figuren lassen das Geschehen swingen. Auch der durchführungsartige Abschnitt ab Takt 63, der weitgehend in den durchaus auch die Seiten wechselnden Zweiunddreißigsteln gestaltet wird, kontrastiert enorm zu dem verklärenden, lyrischen Ton des Allegrettos. Herrlich lässt Arrau auch die Wiederholung des Mittelteils dieser Durchführungspassage mit dem Ritartando in Takt 92/93 ausklingen. Zum wiederholten Male lässt Beethoven die Musik innehalten, bevor in Takt 94 das Hauptthema wieder aufgenommen wird, auch hier natürlich variiert und in Takt 143 noch einmal nach oben oktaviert. Beethoven lässt nichts aus, nicht einmal die nächste Wiederholung, wieder nach unten gesetzt, um dann noch einmal diesen unnachahmlichen Schluss zu genießen, wiederum nahezu unnachahmlich gespielt.
    Claudio Arrau hat in dieser Aufnahme bewiesen, dass er auch mit 84 Jahren noch ein ganz großer Meister war, der nicht auf Grund seines Alters und seiner Verdienste „durchgezogen werden musste“.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup:

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  • Lieber Willi,


    da hast Du die Tür aufgemacht zu einer liebsten Beethoven-Sonaten, was mich natürlich - im Zusammenhang mit der Besprechung von Michelangelis Aufnahme(n), der ich diese ein Leben dauernde Liebe verdanke - zu einem kleinen Essay herausfordern wird. :) Für heute nur so viel: Die beiden von Dir abgebildeten Arrau-Boxen - gerade auch die 2. mit den Briefmarken auf dem Cover - enthalten nach jpc die alten Aufnahmen aus den 60igern. Die späteren aus den 80igern sind soviel ich weiß nur in diesen weißen Papp-Boxen von Philips-France, die leider vergriffen sind, veröffentlicht worden. Er wäre natürlich schön, wenn es anders wäre... :hello:


    Schöne Grüße
    Holger


  • Du hasst natürlich völlig Recht, lieber Holger, es handelt sich natürlich um dieses Cover, das zu posten mir aber gestern nicht gelang. Daher habe ich es mit dem o. a. versucht, von dem ich fälschlicherweise annahm, es sei auch von 1987. Aber die Box ist doch um den "Schnäppchenpreis" von 790 € zu haben :hahahaha: . Scherz beiseite, ich bin schon auf deine Rezension von ABM gespannt.


    Liebe Grüße


    Willi :)

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  • Aber die Box ist doch um den "Schnäppchenpreis" von 790 € zu haben

    Das ist ja wieder einmal irre! Es gibt einige exklusive Musikstücke, zu denen hat man ja ein "persönliches" Verhältnis - und bei Beethovens op. 7 ist das bei mir so. Da fällt dann die "Besprechung" auch anders, etwas "bekenntnishafter" - aus! Ich freue mich schon auf diesen Thread und natürlich auf Deine so liebevoll-sorgfältigen Beiträge, den vielversprechenden Anfang mit Arrau hast Du ja schon gemacht - die "Pathetique" habe ich aber auch keineswegs vergessen, da kommen noch einige Nachträge! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger


  • Wie ich schon sagte, lieber Holger, bleiben ja die Threads immer offen, und auch bei mir ist noch eine Pathétique unterwegs, und zwar die von Peter Rösel. Auch die werde ich natürlich nachtragen. Ich habe vorhin eine CD runtergeladen, die du vielleicht kennst und sie auch schon gebrannt und werde sie gleich probehören:


    Liebe Grüße


    Willi :D

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  • Ich habe gerade die Sonate in der Interpretation von Arturo Benedetti Michelangeli probegehört, und sie gefällt mir nach dem ersten Hören ähnlich gut wie die Einspielungen Arraus, ja ich möchte sagen, ich bin ähnlich begeistert.
    Die Einspielungen ähneln sich grundsätzlich darin, dass beide Pianisten mit Bedacht an die Ausgestaltung dieser Sonate gehen. Sie wähnen sich zu Recht nicht auf der Flucht.
    Dynamisch haben ihre Konzepte viele Übereinstimmungen, temporal ähneln sich vor allen der dritte und vierte Satz, während das Zeitkonzept im ersten und zweiten Satz umgekehrt ist. Michelangeli nimmt den ersten Satz langsamer und den zweiten Satz schneller als Arrau, aber dennoch ist alles, was sie machen, schlüssig.
    Es ist, wie ich das schon manches Mal bei Beethoven-Werken gesagt habe. Es gibt nie nur eine gültige Annäherung an Beethoven. Seine Musik lässt immer variable Annäherungen zu, wenn sie in einem groben gemeinsamen Rahmen sind. Das gilt für das Tempo ebenso wie für die Dynamik oder für gewisse agogische Eigenheiten, von denen ich vermeinte, bei Michelangeli einige bemerkt zu haben, die aber dennoch m. E. in das Gesamtkonzept passten.


    Nun denn, wenn Michelangeli an der Reihe ist, werde ich einen ausführlichen Hörbericht abliefern.


    Liebe Grüße


    Willi :)

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  • Das könnte spannend werden! Ich kann ja die allgemeine Wertschätzung für diese statische Aufnahme nicht nachvollziehen, nur der vierte Satz ist wirklich bezwingend, aber der erste Satz verbreitet auf allerhöchstem Niveau gähnende Langeweile. Die BBC-Live-Aufnahme gefällt mir da schon besser, obschon sie vom Konzept her völlig identisch ist, aber sie ist nicht so leblos wie dieses Studiokonstrukt. Freue mich auf die Diskussion - wobei ich gerade festgestellt habe, dass es neben den zahlreichen Gesamtaufnahmen offenbar nur Einzeleinspielungen von Pollini (entstehende GA), Perahia, Richter, Biss, Gilels, Sokolov und Hewitt (entstehende GA) gibt, was ich im Vergleich zu den anderen Sonaten doch überschaubar finde.


    Beste Grüße,
    Christian

  • Ich kann ja die allgemeine Wertschätzung für diese statische Aufnahme nicht nachvollziehen, nur der vierte Satz ist wirklich bezwingend, aber der erste Satz verbreitet auf allerhöchstem Niveau gähnende Langeweile.

    Lieber Christian,


    ich lese gerade Eduard Hanslick über Wagners "Meistersinger": Für ihn verbreitet diese Musik nichts als ödeste Monotonie! Wer von den Wagner-Freunden wird das nachvollziehen können? Das alles ist letztlich eine Frage der Höreinstellung und der Erwartungshaltung. Hanslick erwartet etwas ganz Bestimmtes von dieser Musik, was sie nicht erfüllt. Und deshalb erscheint sie ihm eintönig. Ich finde gerade den ersten Satz von ABM berstend spannend in jeder einzelnen Note - spannender als alle diese im wehenden Allegro con brio dahineilenden Schnellspieler. Das ist das Problem - man muß sich auf die "Logik" von ABM einlassen, sich in seine Art zu denken und zu artikulieren einhören und mithören. Sonst bleibt man einfach "draußen" - und dann wird es in der Tat langweilig. Aber darauf werde ich noch eingehen! :D


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Aber es ist doch schön, lieber Christian und lieber Holger, dass man über die Interpretation eines Stückes durch den Pianisten X oder Y untrschiedlicher Meinung sein kann, wofür man für sich jeweils gute Gründe finden kann, und es ist gut, dass es über die Interpretation eines Stückes unter der Vielzahl von Interpreten abweichende Ansichten gibt. Was wäre es doch schrecklich, über Interpretationen zu sagen: Kennt man eine, kennt man alle. Gut, dass das nicht so ist, und wenn ein Interpret sich in etwa an der Partitur hält, dann kommt es halt auf sein Können an, und da bin ich mir bei den meisten Pianisten, die ich in meiner Sammlung habe, ziemlich sicher.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • In seiner Dir ja auch bekannte BBC-Legends-Aufnahme mag ich ihm gerne folgen, Holger, und da ist er im ersten Satz gerade mal knappe 30 Sekunden schneller - so groß ist der Unterschied also nicht und es liegt gewiss nicht nur an meiner Erwartungshaltung, die sich übrigens ja auch an der Vortragsbezeichnung "Allegro molto e con brio" orientiert. Aber ich muss das auch noch einmal im Vergleich hören. Die DG-Aufnahme ist für mich leblos und ohne jedes pulsierende Überraschungsmoment - und das bei diesem wunderbaren Satz, dessen Charakter ja gerade einem staunenden, fortschreitenden Pulsieren vergleichbar ist! Und bei ABM klingt es, also habe er sich in einem muffigen, schalldichten Medici-Palazzo eingesperrt, während draußen 'con brio' das Leben vorbei zieht. ;) Freue mich auf Deine Überlegungen und Deinen Erwartungshorizont an diesen ersten Satz!


    BG,
    Christian


    PS: Finde das von Hanslick übrigens sehr treffend, was er da über Wagner sagt :D


  • Beethoven, Klaviersonate Nr. 34 Es-dur op. 7
    Wilhelm Backhaus, Klavier
    AD: November 1966
    Spielzeiten 6:17 - 6:06 - 3:48 - 6:34 – 22:45 min.


    Die o. a. Spielzeiten suggerieren eine besonders schnelle Gangart. Dem ist jedoch nicht so. Wilhelm Backhaus lässt, zumindest in den ersten drei Sätzen, soviel kann ich jetzt schon sagen, alle Wiederholungen aus, was an und für sich schade wäre, aber im Kopfsatz macht das allein 2:21 min. aus, und mit der Wiederholung wäre er nahezu genauso schnell (langsam) wie Arrau in der früheren Aufnahme und nur wenige Sekunden schneller als der vierundachtzigjährige Arrau. Backhaus selbst war zum Zeitpunkt der Aufnahme 82 Jahre alt.
    Aber auch sonst trennen ihn Welten von Arrau, der sich auch als zwei Jahre Älterer genau an den Notentext hielt, d. h. die gewaltige Sonate und ihren mit Wh fast 500 Takte langen Kopfsatz durch die Umsetzung der zahlreichen dynamischen Vorschriften nach dem Willen des Komponisten ideal strukturierte. Bei Backhaus fehlen von Beginn an viele Dynamisierungen, weder Crescendi noch Decrescendi werden adäquat umgesetzt, meistens auf Kosten eines von Anfang an zu hohen dynamischen Levels. Auch Sforzandi werden häufig eingeebnet. Als ein Beispiel für diesen Mangel mag das Crescendo zwischen Takt 105 und 108 gelten, das von p nach ff geht und richtig gespielt einen fulminanten Aufschwung der Sechzehntel-Kaskaden ergibt. Aber Backhaus beginnt mindestens mit mf, es ist kaum eine Steigerung da.
    Dann habe ich auch mehrere Male Tonschwankungen festgestellt oder Stellen, wo die rechte und die linke Hand nicht synchron waren. Es ist schade.


    Das Largo beginnt dynamisch wesentlich besser als der Kopfsatz, ist mir aber im Gegensatz zum Kopfsatz zu schnell. Im Gegensatz zu Arrau in seinen beiden etwa gleichlangen Largos ist Backhaus um 50% schneller, das ist mir viel zu viel. Vor allem das zweite Thema ab Takt 25 verliert er m. E. das rechte Zeitmaß bei weitem. Da steht sempre/tenuto und sempre/staccato, was er richtig befolgt. Da steht aber nicht sempre andante. In der Passage Takt 35/36 spielt er dann noch ein Accelerando, und in Takt 39 auf der Eins spielt er auch kein p, sonder m. E. mf, dadurch kommt das nachfolgende Sforzando nicht mehr richtig zur Geltung. Durch das hohe Tempo verliert der ganze Satz seinen Zauber, seinen hohen emotionalen Gehalt. Wieder sehr schade.


    Der dritte Satz gefällt mir dynamisch und spieltechnisch bis jetzt noch am besten, obwohl er hier auch die lange Wiederholung von 70 Takten im Allegro auslässt. Die beiden kurzen Wiederholungen am Beginn und im Minore spielt er.


    Das Rondo beginnt mir auch reichlich flott, obwohl dynamisch korrekt, aber mit den aufsteigenden Sechzehnteln in der Begleitung ab Takt 16 (f), zieht er das Tempo nochmal an. Das ist in meinen Augen kein Poco Allegretto e grazioso, sondern ein Allegro molto, und Grazie verbindet man schwerlich mit dem Begriff „schnell“. Wenn dieses hohe Tempo irgendwo akzeptiert werden kann, dann im durchführungsartigen Teil ab Takt 63, als es aber dann wieder zu Rückkehr des Hauptthemas kommt, ist das Tempo wieder zu hoch. Hätte er im Allegretto das m. E. richtige Tempo erwischt, hätte dieser Satz, der dynamisch dieses Mal auch in den leisen Lagen zu überzeugen wusste, noch etwas herausreißen können. Diese Aufnahme ist 10 Minuten kürzer als die Arrau’sche von 1987!!!


    Lieb Grüße


    Willi :(

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Sagitt meint


    von Bendetti Michelangeli gibt es eine Aufnahme vom Bonner Beethovenfest 1970. Ein Bild davon habe ich nicht. Ich finde sie lebendiger als die DG Aufnahme.

  • Sagitt meint


    von Bendetti Michelangeli gibt es eine Aufnahme vom Bonner Beethovenfest.1970.Ein Bild davon habe ich nicht.Ich finde sie lebendiger als die DG Aufnahme.


    Die habe ich natürlich auch, lieber Sagitt! :) Der erste Satz hat bezeichnend auf die Sekunde genau dieselbe Zeit wie in der DGG-Studioaufnahme. Die Auffassung ist also dieselbe. Die Aufnahmetechnik der DGG ist leider alles andere als optimal. Wie damals häufig bei der DGG ist der Flügel bei Klavieraufnahmen wenig präsent. Deswegen wirkt das Klangbild eher distanziert - da ist der Konzertmitschnitt aus Bonn unmittelbarer und direkter und wirkt lebendiger. Finde ich auch. Man kann bei Klavieraufnahmen die Mikros entweder im Abstand vor dem Flügel platzieren oderr direkt unter den Deckel hängen. Bei Beethoven hat die DGG den ersten Weg gewählt, bei ABMs Chopin-Platte den zweiten. Die ist viel unmittlbarer - man hört sogar den Dämpfungsfilz, wenn das Pedal betätigt wird. Eine solche Aufstellung hätten sie besser auch bei der op. 7 gewählt. Aber wahrscheinlich hatten die Tontechniker Schiß vor den extremen dynamischen Kontrasten (Übersteuerung) und habe sie auf diese Weise moderat entschärft durch die Fern-Perspektive. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Lieber Sagitt und lieber Holger,


    ich habe in meiner Aufnahme nicht den Eindruck von tonaler Distanziertheit gehabt. Aller klingt klar und natürlich und ebenfalls lebendig. Ich kann mich überhaupt nicht beklagen.


    Liebe Grüße


    Willi :)

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  • Sagitt meint:


    ABM war nach meiner Auffassung live eigentlich besser. Perfektionist ja ohnehin, aber mit einer Spannung, die bei Studioaufnahmen nicht ohne weiteres vorhanden ist. Die berühmten Aufnahmen der Beethoven-Konzerte sind ja auch live Aufnahmen.

  • Was die Live-Aufnahme des 1. und 3. Konzertes mit den Wiener Philharmonikern betrifft, lieber Sagitt, kann ich das bestätigen, aber bei den Sonaten, speziell jetztbei der Nummer 4, habe ich noch keine Vergleichsmöglichkeit.


    Liebe Grüße


    Willi :)

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  • ABM war nach meiner Auffassung live eigentlich besser. Perfektionist ja ohnehin, aber mit einer Spannung, die bei Studioaufnahmen nicht ohne weiteres vorhanden ist. Die berühmten Aufnahmen der Beethoven-Konzerte sind ja auch live Aufnahmen.


    Da ich so ziemliche alle Mitschnitte von ABM habe, die veröffentlicht worden sind, kann ich das so nicht bestätigen. Von Rubinstein oder Gilels ist ja bekannt, daß sie im Konzert viel impulsiver waren als im Studio. Bei ABM ist die Sache erheblich komplizierter. Die ersten Studioaufnahmen bei der DGG stammen aus seiner "sachlichen" Phase Anfangs der 70er, da hat er teilweise auch im Konzert sein Temperament gezügelt bis zur Selbstverleugnung. Wenn man dann die betreffenden Studioaufnahmen mit Mitschnitten von Ende der 50er vergleicht, entsteht ein schiefes Bild. Bei der op. 7 finde ich da aber keine nennenswerten Unterschiede. Im Falle von Schubert z.B. Anfang der 80er gleicht die Studioaufnahme dem Mitschnitt aus Lugano wie ein Ei dem anderen - und die Studioaufnahme ist bei der 1. Brahms-Ballade sogar dynamischer als der Konzertmitschnitt. Bei seiner letzten Aufnahme, den Mozart-Konzerten, hat er allerdings den Konzertmitschnitt veröffentlichen lassen, weil er ihn lebendiger fand, obwohl eine Studioaufnahme bereits im Kasten war - zum großen Ärger seines Produzenten. ABM war eben eine hochkomplexe Persönlichkeit, die man einfach nie "ausrechnen" kann.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Bei der op. 7 finde ich da aber keine nennenswerten Unterschiede.


    Tatsächlich? Schon in Takt 3 spielt er das vorgeschriebene sf in London (BBC Legends) viel markanter als in der gezähmten Studioeinspielung. Und im vierten Satz entfaltet sich in der Durchführung doch ein völlig anderer Sog. Weitere Beispiele ließen sich anführen - von der Grundanlage ändert sich freilich nichts. ;)


    BG,
    Christian

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  • Tatsächlich? Schon in Takt 3 spielt er das vorgeschriebene sf in London (BBC Legends) viel markanter als in der gezähmten Studioeinspielung. Und im vierten Satz entfaltet sich in der Durchführung doch ein völlig anderer Sog. Weitere Beispiele ließen sich anführen - von der Grundanlage ändert sich freilich nichts ;-)

    Lieber Christian,


    ich hatte mich auf den Vergleich des Konzertes vom Beethovenfest (1970) und der Studioaufnahme von 1971 bezogen. Die Aufnahme der BBC ist 12 Jahre später (1982) entstanden - das geht schon in Richtung auf ABMs Spätstil. Da ändert sich dann in der Tat einiges. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Christian und lieber Holger, jetzt bin ich ja wirklich gespannt auf euer beider Rezensionen ein- und der selben Aufnahme. Ich vermute mal, dass ich die Studio-Aufnahme von 1971 habe. Nichts Genaues weiß ich nicht, da dem MP3-Download leider kein Booklet beilag.
    Nach meiner heutigen Enttäuschung (Pathétique) würde ich mich wieder über ein positives Erlebnis freuen.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Ich bezog mich auf diese famose Live-Aufnahme (BBC Legends):



    Die Studio-Aufnahme ist von der DG, und dann gibt es noch eine Live-Aufnahme aus Bonn, aber die ist derzeit leider nicht verfügbar.



    Beste Grüße,
    Christian

  • Ich habe die CD auf meinem Wunschzettel notiert. Vielleicht taucht ja auch noch irgendwann weider ein Ton- und oder Bilddukument von dem Konzert in Bonn auf. Im nächsten Jahr wäre ein passender Zeitpunkt. Dann hat er sowohl 95. Geburtstag als auch 20. Todestag.


    Liebe Grüße


    Willi :)

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  • Auf die Frage, welche Plattenaufnahmen ihn besonders geprägt hätten, antwortete Michael Korstick, der auch Musikkritiken schreibt: Michelangelis Aufnahme von Beethovens op. 7. Durch Michelangeli habe er diese Sonate überhaupt erst lieben gelernt. Michelangelis Aufnahme sei von einer schier unglaublichen Perfektion – ein Niveau, hinter das kein Pianist heute mehr zurückfallen dürfe. Mir ist es ganz genauso ergangen: Diese frühe Beethoven-Sonate hat außer ihren ausufernden Dimensionen eigentlich nichts Spektakuläres, was sie über andere herausheben würde. Wäre da nicht Michelangelis singuläre Aufnahme, welche sie zum Inbegriff klassischer Schönheit – ja zu dem schöner Musik überhaupt – macht.


    „Meisterschaft ist gar kein Ausdruck“ – äußerte Joachim Kaiser über diese Aufnahme. Das Ich des Ästhetikers lebt und leidet – so ist es zu lesen bei Stéphane Mallarmé – an seinem Streben nach absoluter Vollkommenheit. Es ist wohl keine Frage, dass der Perfektionist Michelangeli in seiner ersten Aufnahme für die DGG ein solches Vollkommenheitsideal zu erreichen strebte. Für viele Bewunderer ist diese Aufnahme deshalb nicht nur eine Beethoven-Interpretation, sondern ein exemplarisches Beispiel, in welche Höhen sich die Kunst des Klavierspiels erheben kann: pianistische Perfektion, resultierend aus der vollständigen geistigen Durchdringung der Musik. Das Instrument wird hier wahrlich zum instrumentum, das sich nicht mehr eigenmächtig durch seine mechanische Natur der Beseelung widersetzt, ein Korpus und seine Stimmung, welcher gleichsam zur Stimme des Pianisten wird: Was auf dem Klavier möglich ist, bestimmt nunmehr der menschliche Geist und nicht das Instrument – eine nahezu uneingeschränkte Beherrschung, welche die absoluten Grenzen des Instruments auslotet und sogar zu sprengen scheint. Es ist kein Wunder, dass nicht nur Liebhaber von Klaviermusik, besonders gerade Pianisten diese Aufnahme bewundern: Michelangelos Ton erreicht nicht nur makellose Tonschönheit und Reinheit, sondern eine Flexibilität, welche dem starren Anschlag des Klavierhammers die Beweglichkeit von Stimmbändern zu verleihen scheint, die ihn an- und abschwellen lassen wie ein lebendiges Wesen. Immer wieder staune ich über diese „atmenden“ Bass-Portati im Largo. Geradezu atemberaubend, wie die bewegte Triolen-Passage aus dem Scherzo endet (T 139 ff.): Eine leise, wehmütig klagende, berührend schöne Melodie und darunter ein wetterleuchtender Bass an der Grenze des Hörbaren, Spuren vager Andeutung eines in die Erinnerung abgesunkenen vormalig aufdringlichen Geschehens – der Blick in eine zweite Welt verborgener Gedanken gleichsam. In den Extremlagen des pianistisch eigentlich Unbeherrschbaren, wo andere Pianisten nur noch improvisieren können, da kann Michelangeli immer noch kontrolliert bewusst gestalten.


    Michelangelis Perfektion gleicht der Kunst eines Portraitmalers. Nicht die Photographie zu imitieren ist ihr Sinn, sondern die wesentlichen Züge zu treffen und eine im wahrsten Sinne des Wortes treffsichere Proportionierung: jede Ungenauigkeit bedeutet eine Entfremdung, die Person wird nicht mehr erkannt. Das „Schöne“ in dieser Aufnahme zielt auf das Eidetische, eine Klarheit der Form, welche alle Zufälligkeiten und überflüssigen wirkungsrhetorischen Mittel ausmerzt. Sie durchdringt die musikalischen Gestalten auf ihren Wesenskern hin. Dabei wird eine Klarheit geschaffen, welche nicht nur Ungenauigkeiten im Sinne von Undeutlichkeiten vermeidet, sondern eine perfekte Balance herzustellen sucht: Michelangelis Spiel ist in höchstem Maße ausbalanciert, erschafft ein mit äußerster Sensibilität hervorgebrachtes labiles Gleichgewicht, welche vor allem eines vermeidet: die Verdeckung. Nichts noch so Geringes wird unterschlagen, was wesentlich wäre, zugleich aber keinem Detail ein größerer Raum eingeräumt, der ihm eigentlich zustände, so dass es anderem damit die Luft zum Atmen nähme. Alles „sitzt“ wie beim gelungenen Portraitbild, kann nur so und nicht anders sein.


    Niemand spielt das Largo con gran espressione auch nur annähernd so schön wie Arturo Benedetti Michelangeli. Was heißt hier aber „schön“? Der große Claudio Arrau ist ein „Wühler“, er kratzt die musikalischen Linien auf, um ihnen Expressivität abzuringen. Michelangeli dagegen bleibt stets klassisch „schlicht“, wahrt die „Linie“, was aber keineswegs mit Glätte zu verwechseln ist. Zur „schönen Seele“ gehört eine gewisse Scheu und Scham, seine innersten Regungen nicht zu verraten. Dazu passt ein Zug von
    Michelangelis Persönlichkeit, der unglaublich schüchtern war. So traute er sich als Knirps auf dem Podium nicht jemanden zu bitten, ihm den Klavierhocker so zurechtzustellen, dass er die Pedale erreichen konnte. Jede Art von schamloser Affektiertheit und Effekthascherei ist Michelangeli völlig fremd. Der Ausdruck ist vielmehr höchst sublim, hat Tiefe und Hintersinn, eine leise Trauer, die das Schöne durchzieht: Es gibt keinen Vordergrund ohne einen tieferen Hintergrund. Da öffnet sich der Raum für unendliche Zwischentöne – Sehnsucht, Wehmut, Ambivalenz – eine Art emotionales Versteckspiel, sich zugleich zu zeigen und nicht zu zeigen, dass die Melodien um so mehr leuchten lässt wie das goldene Herbstlaub, eine Farbenpracht, die der Vergänglichkeit geweiht ist. Diese klassische, reine Schönheit ist in ihrem Kern von dem Wissen um ihre Vergänglichkeit durchzogen. Das ganze Largo con gran espressione hat bei Michelangeli etwas Änigmatisches. So wird zur zentralen Passage dieses magische Ereignis rätselhafter Vorschlagsfiguren Takt 38 ff., die aus der Stille ertönen und wieder verschwinden – ein Symbolismus fast wie bei Ravel. Was ist das? Der Tod vielleicht? Ein Schimmer der Erlösung? Ein im Grunde unauflösliches Rätsel wie das der Sphinx.


    Darauf folgt ein Scherzo, das auf seine Weise wiederum einmalig ist: Piano lautet die Vortragsanweisung, und zwar dolce. Und im Minore-Mittelteil mit seinen dahinrauschenden Triolen lautet sie Pianissimo, von einzelnen Fortissimo-Schlägen durchbrochen. Die sachten, leisen Töne, die im Grunde überspannten, unwirklichen Extreme weisen darauf hin, dass es sich hier nicht um ein irdisches Menuett handelt, sondern ein Traum- und Idealbild, das beschworen wird: das eines überirdisch leichten Scherzos, eigentlich nur für Götter, aber nicht für Menschen. Nur einzelne Schläge reißen den Hörer aus dieser Traumwelt heraus und zeigen ihm, dass er eben doch noch auf der Erde ist. Michelangeli gelingt hier das Wunder, dieses klassische Ideal vorzuführen, ohne es romantisch-dämonisch zu einem Zauberspuk zu verklären, die Balance von Plastizität und idealistischer Transzendierung des Alltäglichen zu wahren. Dem schließt sich das finale Rondo an, was wie ein Reflex auf dieses Kunstparadies wirkt: Unvergleichlich die zarte und leise Melancholie, die bei Michelangeli das Hauptthema durchzieht: Verletzlichkeit, die sich hier ausspricht, eine leise Melancholie, die sich zum Ereignis steigert, zur schmerzlich-schönen, fast schon traumhaften Erinnerung in der Passage Takt 186 ff. Aber auch hier gestaltet der Meister den Gegensatz von überirdischer Schönheit und irdischer Selbstbehauptung mit aller Plastizität und Drastik aus: Der Fortissimo-Teil (Takt 82 ff.) hat Wucht und Klarheit, tritt aber in seiner Bewegung insistierend auf der Stelle: Die Welt des Ästhetikers ist ohne Ziel und Zweck, die Bewegungen führen nirgendwo hin, sondern affirmieren lediglich sich selbst.


    Die wohl größten Diskussionen und auch Irritationen hat das Allegro molto e con brio ausgelöst. Michelangeli wagt es, diesen Satz in einer bis dahin ungehörten Langsamkeit zu spielen. Nicht zuletzt hat ihm das den „Vorwurf“ des Klassizismus eingebracht, die Musik zu entdynamisieren und statt dessen eine statische Formarchitektur entstehen zu lassen. Selbst Michael Korstick meint: man müssen den Kopfsatz ja nicht so langsam spielen! Daraufhin habe ich mir Korsticks Aufnahme sofort gekauft, die mich nach dem Durchhören einmal mehr davon überzeugt hat: Michelangelis Tempo ist so wie es ist völlig richtig! Für meinen verehrten ehemaligen Klavierlehrer – der Michelangeli mit op. 7 im Konzert hörte und die Sonate im Konzertexamen spielte – gibt es nur eine maßgebliche Aufnahme, die von Michelangeli. Und er begründet mir die Tempowahl wie folgt: Notiert ist nicht ein ¾, sondern 6/8 Takt. Bezieht man die für ein Allegro con brio geltende Metronomzahl nicht auf Viertel, sondern die Achtel, dann landet man exakt bei Michelangelis Tempo. Weiter führt er mir aus, dass im üblichen zügigen Tempo die Tempoproportionen drohen verloren zu gehen: In der Coda sind nicht Achtel, sondern Sechzehntel notiert. Viele Interpreten nehmen deshalb hier das Tempo heraus oder führen die Sechzehntelbewegungen nicht mehr exakt aus. Abgesehen davon ist ein Allegro con brio bei Beethoven eine Satzbezeichnung, die sehr unterschiedliche Charaktere hat und keineswegs auf ein mitreißendes Stürmen und Drängen festgelegt werden kann. Diese Überschrift trägt etwa der dämonisch-verspielte Kopfsatz der Waldstein-Sonate op. 53 oder aber derjenige aus op. 22 mit seinem eher klassisch entspannten Charakter. Der Vergleich mit op. 22 ist zudem sprechend: Die Sonate op. 7 bewegt sich in Achteln, op. 22 in Sechzehntelfiguren vorwärts – der Duktus von op. 22 ist also im Grunde doppelt so schnell. Legt man das Allegro con brio-Maß von Guldas oder Schnabels zügiger Gangart bei op. 7 an, dann geriete op. 22 zur mechanisch überdrehten Spieluhrmusik.


    Musikalische Analyse kann zudem zu der Einsicht führen, dass ein gewisser „Klassizismus“ eine Grundeigenschaft dieses Sonatensatzes ist, dem überhaupt erst Michelangeli in seiner Formanlage wirklich gerecht zu werden versuchte. Dafür spricht einmal das erdrückende Übergewicht der Exposition 136 gegenüber 51 Takten – rechnet man die Expositionswiederholung mit, dann ist die Relation sogar 172 zu 51. Das exponierte „Sein“ dominiert hier also das durchgeführte „Werden“. Dazu kommt ein vom Großen bis ins Kleinste höchst kunstvoll verschachtelter Periodenaufbau. Nicht nur, dass man die Perioden in diesem Sonatensatz nach Takten abzählen kann, als stammten sie aus dem Lehrbuch von Hugo Riemann, die Durchstrukturierung aller Formteile nach dem einheitlichen Formprinzip symmetrischer Kontrastierung, dem dramatischen Gegensatz und seinem harmonischen Ausgleich, spricht dafür, dass es Beethoven hier um die Realisierung eines Ideals klassischer Formbildung ging. In einem Interview mit dem Kritiker Karlheinz Ruppel spricht Michelangeli von der „Angst vor der Konstanz der Tempi“ in diesem Satz. Möglicher Weise bezieht er sich hier auf Wilhelm Kempffs Aufnahme aus den 30iger Jahren: Kempff wechselt hier fast schon taktweise das Tempo und spart sich die Expositionswiederholung. Man könnte bei dieser frühen Kempff-Aufnahme auch von einer „Angst vor der Klassizität“ sprechen, das Architektonische dieses Satzes dynamisierend zu überspielen. (In seiner späten Studioaufnahme bei der DGG ist dann auch bei Kempff das Tempo konstant und er spielt die Expositionswiederholung!)


    Der Interpret steht bei der Interpretation des Kopfsatzes von op. 7 vor einer grundlegenden Entscheidung, was schon die Einleitung deutlich macht. Die Wahl des Tempos ist letztlich die einer alternativen Ästhetik – ein Aspekt, den die eher „positivistischen“ musikwissenschaftlichen Analysen von Mauser und Uhde leider gar nicht berücksichtigen, indem sie solche ästhetischen Fragen schlicht ausblenden. Der Vortrag von Friedrich Gulda und Arthur Schnabel ist in sehr geschwindem Tempo sicherlich ungemein mitreißend – bei Schnabel sogar so sehr, dass der Einsatz des Hauptthemas wie ein novellistischer Einbruch wirkt, so, als werde ein D-Zug abrupt abgestoppt. Was so dominiert, ist die durchlaufende Achtelbewegung. Dieser Ansatz entspricht im Grunde einer barocken Formanlage, wo die durchlaufende Faden der Bewegung eben nicht durch Periodeneinteilungen zerschnitten wird. Beethoven macht nun aber etwas, was bei Bach undenkbar wäre: Die Achtelbewegung wird in der Einleitung doppelt gespiegelt, nämlich wechselt von der linken in die rechte Hand und wieder zurück. Genau damit setzt sich das klassische Formprinzip, die „Gegenüberstellungs-Symmetrie“ (Ernst Kurth) durch gegenüber dem durchgehenden barocken Bewegungszug. Bezeichnend ist Gulda nicht in der Lage, in seinem Tempo die Bögen zu realisieren, wie sie bei Beethoven notiert sind. Beethoven notiert erst in Takt 5 einen Bogen – dazu bildet die B-Achtel in Takt 4 den Auftakt. Bei Gulda setzt der Bogen aber taktübergreifend schon mit dieser B-Achtel ein. Guldas dynamisch-mitreißender Vortrag nivelliert also tendentiell die durch den Periodenbau gegebenen Zäsuren, „barockisiert“ also diese klassische Formanlage, wogegen sie Michelangeli gerade herausspielt. Das wird auch noch dadurch unterstrichen, dass Michelangeli – wie er im Gespräch mit Karlheinz Ruppel ausführt – „symphonisch“ denkt. Er stellt sich diesen Satz instrumentiert vor. (Diese instrumentale, konzertante Seite gehört zur Rezeptionsgeschichte von Beethovens Sonaten.) Als Orchesterpartitur vorgestellt wären die Es-Achtel in Takt 1-4, monoton klopfend auf immer demselben Ton, leise Paukenschläge, während dann in Takt 5 eine melodische Linie entsteht, d.h. die Bewegung dann etwa von der Violine übernommen wird. Die symphonische Imagination unterstreicht damit die Zäsur – Form klassisch aufgefasst als Abfolge in sich abgeschlossener Formeinheiten und nicht als durchlaufender Bewegungszug.


    Das Missverständnis mancher Hörer, Michelangelis Vortrag als „statisch“ und klassizistisch-statuarisch zu empfinden, rührt letztlich genau daher: Das dynamische Prinzip einer klassischen, periodisch-geschlossenen Form beruht eben nicht wie beim Barock auf mitreißender Kontinuität, sondern der Sukzessivität. Spannung wird hier erzeugt durch die Antithesen und Kontraste, die aufhaltenden Einschübe und Einbrüche, die kleinen Stauungen und Hemmungen, welche die Bewegung von Moment zu Moment weitertreiben – aber auch die „formalen“ Gegenüberstellungen. Komplementaritäten können Takt übergreifend sein – etwa Takt 1 mit Takt 25 einen dramatischen Kontrast bilden – eine ganz und gar diskontinuierliche Spannung, welche um sie wahrzunehmen mit Jacques Handschin „architektonisches“ Hören erfordert. Bezeichnend meißelt Michelangeli die dynamischen Kontraste geradezu drastisch-plastisch heraus. Guldas und Schnabels Vortrag erscheinen zwar ungemein mitreißend, dafür aber auch völlig „undialektisch“: Die Binnendramen auf kleinstem Raum, die durch den Periodenbau begründeten komplementären Spannungen, die Michelangeli zum Leben erweckt, sie werden im mitreißenden Gestus großbogig überspielt, werden vom Bewegungszug, dem großen Strom, mitgerissen und gehen darin unter. Man kann – und muss – hier konstatieren, dass Beethovens Formanlage die Zweideutigkeit aufweist, eine barocke Anlage durch eine klassische Periodenarchitektur gewissermaßen zu überstülpen. Der Interpret hat deshalb die Wahl, sich für eine der beiden Möglichkeiten zu entscheiden nicht zuletzt durch die Wahl des Tempos.


    Joachim Kaiser hatte seine nicht unerheblichen Probleme mit einem Beethoven, der nicht aus einer „deutschen“ Tradition heraus interpretiert wird – nicht nur bei Michelangeli. In seinem Nachruf anlässlich des Todes von Michelangeli scheint es so, dass er seine „Vorurteile“ zumindest überdacht hat. Er spricht jetzt von dem „Mirakel“ bei Michelangeli, der Verwandlung von Beethoven in eine romanische Welt. Dieses „Wunder“ kann man sicher in der Studioeinspielung von 1971 wie auch dem Bonner Mitschnitt von 1970 nacherleben – im Konzert von 1982 in London dagegen zeigt sich ein vollständig gewandelter Michelangeli-Beethoven. Ging es ihm früher um die möglichst vollkommene Verwirklichung eines Klassizitätsideals – in seiner Lauterkeit ist das eigentlich nur vergleichbar mit dem Mozart von Clara Haskil – so wird der Vortragsstil des späten Michelangeli unruhig – man möchte fast sagen: unerfüllt statt ästhetisch erfüllt. Was sich hier meldet ist etwas, was der Ästhetiker früher nahezu vollständig unterdrückt hat: Subjektivität. Auch hier ist es allerdings nötig, die klassisch ästhetische Haltung angemessen zu würdigen, die allzu oft missverstanden wird, denn es ist schwierig, sie einzunehmen, weil sie das Alltägliche transzendiert. Zum Ästhetischen gehört eine gewisse Distanz, welche den Sinn hat, sowohl jegliche Art von Wirkungsrhetorik als auch selbstredender Subjektivität auszuschalten. Die Haltung des Ästheten als Interpreten gleicht der eines Schauspielers, der, statt sich selbst auszuspielen, vollkommen selbstvergessen in seiner Rolle aufgeht. Diese Selbstpreisgabe hat nun nichts mit Gleichgültigkeit und Indifferenz zu tun, sie ist vielmehr höchst engagiert: Es geht darum, einen Sinn nur zu repräsentieren, ihn sich selber aussprechen zu lassen. Die „Seele“ wird hier ganz und gar in die Töne verlegt und dabei transformiert in ein Überindividuelles und Allgemeines – der Ästhetiker spielt kein selbstredendes „Expressivo“, statt dessen typisiert er und charakterisiert. In Michelangelis früher Aufnahme spricht die Musik deshalb wie ein subjektlos anonymes „Es“ zu uns: es tönt, es klingt, es ist melancholisch und klagt. Das nun deutlich artikulierte Sforzato in Takt 3 der Londoner Aufnahme zerstört gleich zu Beginn ästhetische Distanz: Hier meldet sich mit einer flüchtigen Geste das Subjekt zu Wort, statt einem „Es“ zu lauschen wird die Musik gleichsam zur „Ich-Rede“. Subjektivität, die Michelangeli früher unterdrückt hatte, sie meldet sich schließlich zu Wort. Die apollinische Fassade zerbröckelt durch sprechende Phrasierungen sowie die Verwandlung von Charakteristik in selbstredende Ausdrucksgestik. Deutlich nachvollziehen kann man dies etwa in der Fortissimo-Passage des Rondo. Die alte Studioaufnahme bleibt rein gar nichts an charakteristischer Prägnanz schuldig. Aber man hört eben eine „Bewegung“ – sich quasi selber vorspielend mit neusachlicher Objektivität. Ganz anders die Subjektivität des Londoner Mitschnitts: Da spürt man so etwas wie Ungeduld, vielleicht sogar Überdruss und Ekel. Auch das freilich ist keine deutsche Derbheit, sondern bleibt der feine Ausdruck eines Ästheten: eine zutiefst verletzte Seele, die ihre Verletzungen nur nicht mehr verschweigt, sondern nach außen trägt. Die größte Verletzung für den Ästheten ist der Tod. Ihm begegnete Michelangeli einige Jahre später in Gestalt eines schweren Herzanfalls auf dem Podium in Bordeaux – ausgerechnet beim Vortrag von Ravels „Ondine“, dem Sinnbild ästhetischer Unnahbarkeit.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    vielen Dank für diese auch sonatenübergriefende Analyse und Rezension, die du in einen größeren Zusammenhang gestellt hast. Da ich gleich zu einem Karnvalsauftritt fahren muss, versuche ich, heute Abend noch auf einige Punkte deines Textes einzugehen, wenn es meine Verfassung dann noch erlaubt.


    Liebe Grüße


    Wili :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Und ich antworte KOKIKATE Helau!


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • So, nachdem ich einigermaßen unbeschadet aus dem Karnevalstrubel wieder zu Hause angelangt bin, noch einige kurze Gedanken zu deinem Beitrag, lieber Holger. In der Tat ist der Kopfsatz höchst ungewöhnlich, mit einer riesigen Exposition, die in dieser Form eigentlich keine mehr ist, und wenn sie wiederholt wird, misst sie 272 Takte, ist also fünfeinhalbmal so lang wie die Durchführung. Insofern finde ich den Text von Siegfried Mauser für mich als Laien äußerst hilfreich, der hier anschaulich erklärt, warum das so ist, und er bezieht sich hier auch auf die Reprise, indem er darlegt, dass in beiden Satzabschnitten quasi Themenverarbeitungen vorkommen, die normalerweise nur in der Durchführung vorkommen. Beethoven hat also schon in seiner vierten Sonaten experimenitert, und das geht ja in den Nummern 12, 13 und 14 so weiter.
    Du sprichst von Korstick, der Michelangeli wegen seiner Perfektion so bewundert habe. Dennoch hat er ihn m. E. nicht imitiert, sondern ist auf seine Weise seiner "Werktreue" gefolgt, indem er , wie ich das schon einmal an anderer Stelle gesagt habe, langsame Sätze langsam spielt und schnelle Sätze schnell. Insofern liegt Korstick mit seinem temporalen Konzept zumindest in den ersten drei Sätzen eher auf der Linie von Emil Gilels (1984):
    Emil Gilels 1984.........: 8:49-10:00.5:51-7:58 -- 32:38 min;
    Michael Korstick 2006:7:53-10:23-4:51-6:47 -- 29:53 min.;
    Allerdings liegt Gilels im finalen Rondo ganz nahe bei Michelangeli, während der ebenfalls von dir genannte Wilhelm Kempff (1964) tatsächlich komplett auf Michelangelis Linie liegt:
    Kempff 1964.......: 9:04-8:10-5:18-7:12 -- 29:34 min.;
    Michelangeli 1971: 9:59-8:40-5:28-7:46 --31:53 min.;
    Aber das sind alles "nur" temporale Vergleiche, die gleichwohl sehr wichtig sind. Wahrhaft große Pianisten gehen bei aller Partiturtreue aber auch mit ihrem Herzen an die Sache heran, und in der Art, wie sie das tun, berühren sie mein Herz und meine Seele, wie z. B. hier bisher Arrau und Michelangeli. Wer aber der Partitur so gar nicht folgt, ist in der Regel auch nicht mit seinem Gefühl dabei und erreicht den Hörer nicht.
    Du sagst am Anfang einen Satz, den ich so nicht ganz stehen lassen möchte:

    Zitat

    Dr. Holger Kaletha: Diese frühe Beethovensonate hat außer ihren ausufernden Dimensionen eigentlich nichts Spektakuläres, was sie über andere hinausheben würde.

    Ich würde es nicht "spektakulär" nennen, was sie über andere hinaushebt. Sondern ich sehe in der bereits in diesem frühen Stadium die Weiterentwicklung der Form, die ja besonders im Kopfsatz (Erweiterung der Exposition und der Reprise um Durchführungselemente) und im dritten Satz (starke Gewichtung des Minore, weit über die Bedeutung eines Trios hinausgehend) zu Buche schlägt, dergestalt im dritten Satz, dass Beethoven selbst ihn nach getaner Arbeit wohl nicht mehr als Scherzo bezeichnen wollte, diese Sonate in diesen Punkten also zumindest als außergewöhnlich an. Dieses neue, was Beethoven in dieser Sonate hervorbrachte, war ja auch letztlich für die Ausdehnung verantwortlich.


    Ich denke, dass ich dank deines Textes auch die weiteren Hörbeispiele auch auf ihre temporalen Konzepte hin betrachten werde, aber natürlich auch, in wieweit sich die Pianisten auf diese Musik einlassen.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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