Liebe Forianer,
in diesem Thread möchte ich alle nach ihrer Meinung fragen. Die Diskussion entstand in dem Thread "Der Tod in der Musik" zwischen mir und Zweiterbass um folgende Frage:
HAT BACH DIE RELIGIÖSEN TEXTE VERWENDET, weil er MUSSTE, ohne wirklich hinter deren Inhalten zu stehen bzw. erlebte selbst die Texte nur aus seiner zeitgebunden frommen Einstellung ?
Dies ist die Meinung von Zweiterbass.
ODER
HAT BACH DIE TEXTE IN EINER TIEFEREN, MÖGLICHERWEISE SYMBOLISCHEN DEUTUNG
VERSTANDEN und somit allgemein menschliche Aussagen getätigt, die über
die zeitgenössische Frömmigkeit hinaus gehen ?
Dies ist meine Meinung.
Dies ist die herrlich pointierte Meinung von Zweiterbass:
ZitatAlles anzeigenZur Bachschen Textvertonung: Selbstverständlich war er im damaligen
religiösen Zeitgeist gefangen (das habe ich auch ähnlich gepostet), auch
von seinen kirchlichen Brotgebern abhängig. Anders ausgedrückt: Ich
meine sehr wohl, dass Bach an den von ihm ausgewählten und vertonten
Texten i. d. R. keine großen Beanstandungen hatte und sie in dem
Textsinn auch vertont hat. Es mag auch durchaus sein, dass in manchen
(vielen?) kirchlich-religiösen Kreisen auch jetzt noch dieses
Textverständnis hoch gehalten wird (für mich
ist z. B. die Jungfrauengeburt - was landläufig darunter verstanden
wird - ein Mittel der sexuellen Unterdrückung der Frau und biblisch
nicht belegt). Ich habe aber kein Problem, die überragende Musik von
Bach ohne Textbezug (die Texte sind entbehrlich, weil überholt,
entspringen nur einem Religionsverständnis und haben mit biblischem
Glauben meist wenig zu tun) genauso überragend zu hören.
Zugegeben, da ich diesen Thread eröffne, bin ich natürlich parteiisch für meine Position, und erlaube mir daher, meine Ansicht ein wenig zu erläutern. Interessieren tut mich natürlich wertfrei die Ansicht und Meinung von euch allen.
Also meine Erklärung:
Bach ist für mich ein geistiges Genie wie es wenige auf der Welt gibt. Ich habe eine Zeit lang Kontrapunktunterricht (mit viel Freude) genossen. Wir mussten dort zwei- und im höchsten Falle dreistimmige Kontrapunkte im Palestrina Stil schreiben. Dies ist für einen mittelmäßig intelligenten Menschen etwas Musikverständnis schon eine große Herausforderung, vor allem mathematisch, da sich die Anzahl der Möglichkeiten, die man hat, um Töne einfach HINZUSCHREIBEN, sehr schnell auf ein Minimum (oder null) reduziert, will man musikalisch sinnvoll bleiben. Man stelle sich nun vor, dass dieser GIGANT SECHSstimmige Fugen schreibt, die noch dazu WUNDERSCHÖN sind !!! Betrachtet man diese, so fällt auf, dass er nicht nur die einzelnen Stimme sinnvoll führt, sondern auch noch Kunstgriffe einbaut wie das Thema in verschiedenen Gestalten, in Umkehrung, Krebs, mit verkürzten oder verlängerten Notenwerten in enggeführter Verflechtung oder anderen Gleichzeitigkeiten zu verwenden. Seine Ergebnisse sind so wahrscheinlich wie ein Lottogewinn!!!
Und dies ist nur ein Beispiel eines Aspektes seiner Musik, es ließen sich viele viele andere anführen, die zeigen, dass Bach alles was er tut VOLL BEWUSST durchdenkt und kaum ein Spielraum bleibt für bloße belanglose "Hübschigkeiten".
Aus diesen Überlegungen scheint es mir in hohem Maße unwahrscheinlich, dass Bach seine Texte (wo er sogar im Gegensatz zu katholischen Komponisten) ein gewisses Mitspracherecht bei der Auswahl hatte, einfach nur verwendet, um dem Bedarf nach Text Genüge zu tun !
Was nun meine ich mit "tieferer Bedeutungsebene"?
Um nun meine Behauptungen zu untermauern, habe ich (ich habe alle meine Bachkantaten am Computer digitalisert) praktisch zufällig einen Satz angwählt. Es kam dieser:
BWV 313 Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir
2. Teil, Arioso Bass mit Choral
So du willst, Herr, Sünde zurechnen, Herr, wer wird bestehen?
Erbarm dich mein in solcher Last,
Nimm sie aus meinem Herzen,
Dieweil du sie gebüßet hast
Am Holz mit Todesschmerzen,
Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.
Auf dass ich nicht mit großem Weh
In meinen Sünden untergeh,
Noch ewiglich verzage.
http://www.youtube.com/watch?v=vqqFQGV-H54
der Satz beginnt ca. bei 04:30
Ist nicht jedem Menschen das, was er nicht gut oder zu seiner Zufriedenheit tun kann, wo er nicht so handeln kann, wie er eigentlich möchte oder wollen würde, das, was uns oftmals am meisten verletzt? Das was uns oft am zutiefst kränkt und belastet, sind wir selbst (unsere "Sünden"), wodurch wir uns selbst und folglich auch andere nicht genügend schätzen können.
Wenn man nun aber Jesus nicht nur als "christlichen Erlöser" sieht, sondern allgemein als jemand, der mit aller Konsequenz bis hin zum Tode das Richtige tut in Hinblick darauf, die Menschen von diesem Leiden zu erlösen, indem er zeigt, wie man mit sich und mit anderen umgehen sollte, er also gleichsam DAS GUTE an sich verkörpert, so ist der einzige echte Ausweg aus dem, was wir uns selbst (und somit gegenseitig) antun jeder, auf das GUTE zu vertrauen und sich in jedem Moment wieder darauf zu konzentrieren, es einfach DAS NÄCHSTE MAL BESSER ZU MACHEN. Dann können wir uns selbst vergeben.
Dies wird in diesem Satz wunderbar ausgedrückt, indem der Bass sein Leid klagt und der Choral ganz sanft tröstend und beruhigend wirkt. Der Choraltext erinnert daran, dass Jesus unsere Sünden am Kreuz auf sich nimmt. Doch wie ? Jesus hat gelehrt, WIE man ein friedliches, soziales, liebevolles Leben führen kann. Dafür wurde er mit dem Tod bestraft. Auch ohne daran zu glauben kann man sagen: er zeigte den für Menschen richtigen Weg auf.
So ist dieser herrliche Satz nicht nur von tröstlichem Gefühl getragen, wenn man den Text ausblendet, sondern auch wenn man ihn einfach vom Wesen des Menschen ausgehend beleuchtet.
Verzeiht mir dieses sehr ausführliche Beispiel. Anders konnte ich nicht ausdrücken, was ich meine.
Und dieses noch: Ich denke, dass wirklich nicht zu 100% alle Bachtext so deutbar sind. Er musste sich sicher auch gelegentlich "nach der Decke strecken".
Und: Ich meine dass diese sowie viele andere und natürlich auch die Texte der Bibel viele Bedeutungsebenen tragen können, und nicht nur eine, GÜLTIGE. Das macht die Genialität großer Texte wie auch die Genialität großer Musik aus, dass sie vielschichtig ist und den Menschen anregt, weiter zu gehen und weiter zu denken.
Und eigentlich haben meine Ausführungen mit Religion kaum etwas zu tun ! Zugegeben, ich lehne mich hier sehr weit aus dem Fenster und muss wohl
mit allen möglichen Reaktionen rechnen ! Jedoch: dazu sind wir ja hier im Forum, um uns gegenseitg anzuregen und zun Denken zu animieren, oder ???
Nun bin ich wirklich hochgespannt auf eure Reaktionen !
Bachiania