Über die Qualität der Tondichtungen von Jean Sibelius besteht im Allgemeinen kein Zweifel. Wer kennt nicht "En Saga", "Tapiolo", vielleicht auch "Luonnotar", "Die Okeaniden" und "Pohjolas Tochter"? In diese illustre Reihe reiht sich auch ein Werk ein, das mit zu den besten und gehaltvollsten zählt, was auf diesem Gebiet jemals komponiert worden ist: "Die Waldnymphe" op. 15 (Skogsrået, Metsänhaltijatar).
Beruhend auf der Textvorlage "Skogsrået" von Viktor Rydberg, wurde das Werk im Jahre 1894 komponiert und erfuhr seine Uraufführung am 17. April 1895 in Helsinki durch das Orchester der Philharmonischen Gesellschaft (heute Helsinkier Philharmoniker genannt). Niemand Geringerer als der Komponist selbst leitete diese.
Zur Handlung: Der Text von Rydberg erzählt von den Abenteuern des Helden Björn im Wald, wo sich nicht wohlgesonnene Zwerge eine Intrige ausdachten und ihn die Waldnymphe mit ihren Reizen zum Liebesspiel lockte. Doch der Zauber bleibt, denn Björn ist danach unfähig, seine Frau weiterhin zu lieben, und auch seine Arbeit kann ihn nicht mehr aufmuntern. Zuletzt geht er einsam und allein an seiner Sehnsucht zugrunde.
Diese bereits sehr dramatische und traurige Geschichte wird musikalisch formidabel umgesetzt. Die Orchestrierung gemahnt durchaus an Wagner, der Sibelius in dieser Zeit als Vorbild fungierte (was u. a. auch durch einen Bayreuth-Besuch zum Ausdruck kam). Der erotische Gehalt der Tondichtung wurde freilich erst dann voll ersichtlich, wenn man den Inhalt des Gedichts kannte. Das Publikum der Erstaufführung hatte diesen auf einem Handzettel zur Verfügung.
Die Kritiker waren ganz überwiegend begeistert. Man attestierte dem Werk "seltsame und bezaubernde Farben", es sei "leidenschaftlich" und beinhalte "verworrene Abtastungen" (Merikanto). Doch gab es auch kritischere Stimmen wie Tawaststjerna, dem die verschmelzende Einheit des Ganzen abging. Murtomäki schrieb hingegen: "Einer der schönsten Momente in dem Werk in diesem Sinne ist das modal-diatonische Klangfeld, das nach der majestätischen Eröffnung anfängt und minutenlang dauert und das einen zum Beispiel an die dritte Symphonie von Goreck erinnert!"
Jahrelang blieb "Die Waldnymphe" im Konzertrepetoire verankert. So erklang sie etwa auch bei dem Uraufführungskonzert der 1. Symphonie im Jahre 1899. Zuletzt gelangte sie im Jahre 1936 zur Aufführung, um dann in einen über ein halbes Jahrhundert andauernden Dornröschenschlaf zu verfallen. Erst im Jahre 1996 (!) wurde sie erstmals auf Tonträger festgehalten (Sinfonia Lahti/Vänskä), erfreut sich seither aber zunehmender Beliebtheit, was sich in einer weiteren Einspielung (Helsinki PO/Storgårds, 2008) und Aufführungen (etwa beim Sibelius Festival 2012 durch Okko Kamu) widerspiegelt. Der Grund für die Jahrzehnte des faktischen Vergessens liegen gerade auch darin begründet, dass das Werk niemals offiziell in Druck ging, da es Sibelius später umarbeiten wollte (wozu es nie kam), es zeitweise sogar aus seinem offiziellen Werkverzeichnis entfernte. Er befürchtete, es könnte als Werk seiner "Sturm-und-Drang-Zeit" abgewertet werden — eine Einschätzung, die sich wie im Falle von "Kullervo" als unbegründet herausstellte, die Werke aber de facto Jahrzehnte lang der Öffentlichkeit vorenthielt.
Anfangs erscheint ein prachtvolles, majestätisches Thema in C-Dur (Schilderung des Helden Björn). Diesem folgt eine fast minimalistische Phase, die mit der Rückkehr des Heldenthemas wieder triumphal ausklingt. Die dritte Episode behandelt Björns Treffen mit der namensgebenden Waldnymphe, wo besonders die Violoncelli einen höchst erotischen Ton hineinbringen. In der abschließenden Episode ändert sich dieser Tonfall mehr und mehr in Richtung Traurigkeit. Die Hoffnungslosigkeit des Helden wird musikalisch episch umgesetzt und lässt das Werk bezwingend ausklingen.
Persönliche Einschätzung: Für mich mit das nahegehendste Orchesterwerk von Sibelius, das viel mehr Aufmerksamkeit verdiente. Absolute Empfehlung von meiner Seite.
Aufnahmen: Es gibt m. W. zwei kommerziell erschienene Aufnahmen, die bereits im Text erwähnt wurden:
Während es Vänskä im Vergleich zügig angehen lässt (21:36), genehmigt sich Storgårds 24:05 Minuten. Dies tut dem Werk m. E. sehr gut. Insgesamt wirkt die Storgårds-Aufnahme auf mich noch atmosphärischer, geheimnisvoller und packender, doch auch die Ersteinspielung Vänskäs ist sehr gut. Letztlich vielleicht eine Geschmacksfrage.
Quellen: http://www.sibelius.fi/deutsch…uita_metsanhaltijatar.htm sowie das Booklet der Vänskä-Aufnahme.
P.S. Hier noch eine Hörprobe vom Sibelius Festival 2012: