Aufnahmen des 21. Jahrhunderts - Johannes BRAHMS: Sinfonie Nr. 1 c-moll op. 68

  • Meine Lieben
    Ich habe lange drüber nachgedacht, wie ich gewisse Schlüsselwerke und ebensolche Komponisten wieder in den Mittelpunkt des Interesses rücken könnte ohne dass man sich andauernd wiederholt. Aber auch das Aufwärmen alter Threads kann sehr unübersichtlich sein. Ich habe mich nun entschieden die Sinfonien von Johannes Brahms neu zu thematisieren - allerdings mit der Beschränkung auf Einspielungen ab dem Jahre 2000 (das streng genommen noch zum 20. Jahrhundert gehört - weniger streng genommen übrigens auch) Die Frage, ob es denn überhaupt genügend Aufnahmen aber diesem Zeitpunkt gibt ist schon von mir überprüft und beantwortet worden und zwar mit JA. Ich habe bei schneller Recherche sofort ZWÖLF Aufnahmen aus diesem Zeitraum gefunden - Vermutlich gibt es jedoch mehr (Eigentlich ganz beachtlich !!!)


    Wir beginnen mit der Sinfonie Sinfonie Nr. 1 c-moll op. 68. Kurze Vergleiche mit alten Aufnahmen sind erlaubt, jedoch sollte der Fokus jeweils auf der NEUEN, vorzustellenden Aufnahme liegen- ES ist zudem auch aussagekräftihg - in vielerlei Hinsicht - ob Tamino Mitglieder überhaupt irgend welche der neueren Aufnahmen in ihren Sammlungen haben - und wenn ja - WELCHE...


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred



    SINFAU21J

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    dass hier keiner antwortet habe ich kommen sehen. Wie bei der Oper, so auch hier: für die meisten ist beim gängigen Repertoire nach Soltis Tod Ruhe im Plattenschrank (sprich: alles was nach 1997 erschienen ist). Es herrscht Stillstand. Und das ist das Schlimmste, was überhaupt passieren kann: Die Mitstreiter eines Klassikforums kennen die neueren hit-verdächtigen Einspielungen nicht mehr (von Beethoven-Sinfonien-Zyklen mal abgesehen)!


    Gebetsmühlenartig wird gefurtwänglert, hier und da szellt es oder alles ist karajanisiert bzw. funkelt bernsteinmäßig, andernorts wird geböhmt oder es wird behauptet: das soltist du dir mal anhören usw ...


    Ich halte mich absichtlich mit meiner Empfehlung zurück, um nachdrücklich auf das Dilemma aufmerksam zu machen!


    :hello: LT


  • Na, dann will ich mal den ersten Stein in die (Un)tiefen des Lake Tamino werfen und diese Aufnahme nennen, von der ich zumindest die erste Symphonie empfehlen kann, wenn sie nur halb so gut aufgenommen wurde, wie ich sie im November 2008 live in der Berliner Philharmonie erlebt habe. Ich weiß wohl, dass sich heftiger Gegenwind erheben mag und an meinem Fenster ratteln wird.


    Liebe Grüße


    Willi :D

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Willi,


    hm, das ging aber sehr schnell...


    Aber kennst du auch die Aufnahmen von Dohnanyi (London), Zinman, Skrowaszewski, Gardiner, Berglund, I. Fischer, Belohlavek? Wenn ja, dann wüsste ich zu jeder dieser Aufnahmen deine Einwände ....



    :hello: LT

  • … dass hier keiner antwortet habe ich kommen sehen. Wie bei der Oper, so auch hier: für die meisten ist beim gängigen Repertoire nach Soltis Tod Ruhe im Plattenschrank …
    Es herrscht Stillstand …


    Liebestraum: Ausnahmen bestätigen die Regel …


    Dann sei es erlaubt, eine Aufnahme zu nennen:


    Noch nicht lange auf dem Markt, dazu von einem sogenannten »unbekannten« Dirigenten …


    Die Serie »Opening Doors« ist für manche doch zu einem Begriff geworden; wenn nicht, dann kann er das noch wohl werden – man höre sich doch einmal diese Einspielung an: Natürlich kein Vollklang-strotzendes Orchester, sondern – eine entschlackte Interpretation aufgrund transparenter Orchesterbesetzung. Und das Konzept geht m.E. voll auf – bei Schumann übrigens auch – ich liebe diesen Klang …


    Jedenfalls ein Alternativ-Brahms, den ich nicht mehr missen möchte … :hello:

    Einer der erhabensten Zwecke der Tonkunst ist die Ausbreitung der Religion und die Beförderung und Erbauung unsterblicher Seelen. (Carl Philipp Emanuel Bach)


  • dass hier keiner antwortet habe ich kommen sehen. Wie bei der Oper, so auch hier: für die meisten ist beim gängigen Repertoire nach Soltis Tod Ruhe im Plattenschrank (sprich: alles was nach 1997 erschienen ist). Es herrscht Stillstand.


    Ich bin erst jetzt auf dieses Thema aufmerksam geworden, dennoch ist wohl doch schon etwas Wahres an dieser Feststellung. Ich bin erstmal meine Aufnahmen durchgegangen und habe, wie schon fast vermutet, nach 2000 nur eine CD dieses Werkes gefunden, wohl aber 12 aus den Vorjahren.
    Da sind wirklich exzellente Einspielungen dabei, weshalb Neuanschaffungen kaum infrage kommen. Eine aus dem Jahre 2005, die aber wahrlich keine hippige Aufnahme ist, kann hier genannt werden:

    Die Thielemann-CD aus dem Jahre 2005 hatte ich mir eigentlich nur als Vergleich zugelegt, sie ist mit 51:35 von allen die längste Einspielung und nicht unbedingt mein Favorit. Dazu kommt noch eine DVD mit dem WEDO und Barenboim aus 2006, die habe ich lange nicht gehört, so dass ich keine Empfehlung abgeben will, in der Spieldauer kommt sie mit 50:26 gleich hinter Thielemann, wirkt aber nicht so schwerfällig.
    Trotz der von mir gemachten Einschränkung bin ich für TOP-Empfehlungen dennoch nicht ganz unzugänglich (bei Rattle habe ich meine Schwierigkeiten), vielleicht hat ja der Initiator dieses Threads eine Empfehlung parat...


    Mit besten Grüßen


    :hello:

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

  • Zitat

    Liebestraum: Aber kennst du auch die Aufnahmen von Dohnany (London).....

    Leider kenne ich sie nicht, lieber Liebestraum. Von Dohnany habe ich die GA aus Cleveland und auf DVD die GA aus der Hamburger Laeisz-Halle. Wenn die Londoner Aufnahmen auch so gut sind wie die aus Cleveland und Hamburg, habe ich nicht die geringsten Einwände. Von Zinman habe ich nur Beethoven und Strauss, von Scrowaczewski die Bruckner GA (ausgezeichnet) und von Gardiner eine ganze Menge, auch Brahms Deutsches Requiem, von den anderen gar nichts, wohl von Adam Fischer den ganzen Haydn.
    Ansonsten hätte es ja fast Günter Wand mit Brahms noch bis ins 21. Jahrhundert geschafft. Seine Großtaten aus 1997 in Hamburg und München sowie Kiel (SHMF) kamen für diesen Thread leider drei Jahre zu früh.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Seit 2 Tagen habe ich die wohl frischeste Neuaufnahme der Brahms Sinfonien vorliegen.


    Einige Kritiken und die positiven Worte von Chailly´s sehr zügige Interpretation; sowie über die angekündigte fabelhafte Klangqualität haben mich schwer neugierig gemacht - und dann ausserdem die Überlegung, dass man ja nicht unbedingt nur an den "alten Favoriten" "kleben" muss. Bei Brahms geht es mir wie bei Beethoven - da will ich immer wieder Neues erfahren.


    Ich wollte"meinen Senf" eigendlich im Brahms-Sinfonien-Thread posten, wenn ich alle intensiv gehört habe, aber dieser thread ist natürlich auch ein direkter Ansporn.


    Sinfonie Nr.1 mit Chailly (Decca, Oktober 2012)
    Den Anfang mit den Paukenschlägen hätte ich mir ja gerne etwas wuchtiger und prägnanter vorgestellt ( ;) wie bei Solti, bernstein, Szell oder Karajan), aber alles was danach folgt hat mich schon sehr gefesselt. Trotz des sehr zügigen Tempos, gibt das Gewandhausorchester eine tolle unglaublich detailreiche Hochleistung ab, die nichts verschluckt.
    Chailly ist IMO ein Dirigent der trotz seiner Herkunft nicht das Temprament mitbringt, dass ich mir wünschen würde. Solche Emotionen wie bei Bernstein, oder die rhythmische Feuer eines Solti fehlt mir bei ihm --- er lässt das Werk für sich selber sprechen und erreicht aber auch ohne Extras (Effekte und übertriebene Gesten) eine sehr passable Sicht, die den Brahms - Hörer sehr anspricht und eigendlich auch so sehr zufriedenstellen kann. Packend und mitreissend ist die Aufnahmen auf jeden Fall. Chailly biette dann auch im grossartigen 4.Satz das richtige Feuerwerk.
    :thumbup: Und nochmal - das Gewandhausorchester ist wirklich in TOP-Form und macht einen Spitzeneindruck !


    Das recht zügige Tempo liegt mir persönlich ja sehr. Ich kann mir gut vorstellen, dass es diesbezüglch noch einige Kritiken geben wird, die diesen Zug in der gesamten Neuaufnahme weniger schätzen werden --- ich find es so wirklich Klasse. Gehetzt wirkt es jedenfalls nie.
    :!: Chailly legt nämlich auf diese Art wirklich eine Neuaufnahme vor, die nicht konventionell oder altmodisch klingt - nein - er hat wirklich etwas neues zu sagen und macht keinen neuen Abklascht von Althergebrachtem. Insofern hat die Neuaufnahme bereits ihren Sinn erfüllt.
    Spielzeiten (alles mit Wdh): 15:26 - 8:22 - 4:25 - 15:40



    Decca, Mai 2012 - Mai 2013, Sinf.Nr.1 = Okt 2012, DDD


    Chailly bietet auf CD3 eine Ersteinspielung des 2.Satzes Andante in der Originalfassung der UA in der damaligen Originalbesetzung des Gewandhausorchesters. Hört sich interessant an; und man erkennt aber doch, dass die aktuelle Fassung schlüssiger ist.


    Die Klangqualität ist wie angekündigt sehr gut - nicht spektakulär audiphil - aber zeitgemäss TOP mit allen Details. Über die Boxen hatte ich den Eindruck, dass eine geringe Mittenbetonung (vom Stereopanorama her) vorhanden ist, die beim hören mit Kopfhörer nicht auffällt. Ein kleiner Rutsch vom Boxenhörplatz aus der Mitte heraus, konnte diesen Eindruck aber entschärfen.
    Eine Breitbandaufnahme mit Steropanorama a la Ormandy ist es jedenfalls nicht - eher auf absolute Natürlichkeit gebürstet.


    8-) Acho so, wenn ich mir einige Neuaufnahmen ansehe, die in diesem Thread bereits auftauchen. :thumbup: Chailly bietet ein "normales" Sinfonieorchester, wie es sich für die Brahms - Sinfonien IMO gehört und bietet keinen unterbesetzten HIP-Kram ... sonst hätte ich das auch nicht gekauft ... :P


    :thumbsup: Mir macht diese Neuaufnahme richtig Spass - ;):!: aber meine Favoriten (mit noch mehr Emotion) stösst sie dennoch nicht vom Thron.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Lieber Willi,


    wie kannst du den Rattle so einfach ins Rennen schicken, wenn du andere Aufnahmen gar nicht kennst?? Auch du hast scheinbar den Überblick verloren (zumindest was die Aufnahmen ab 2000 betrifft).


    Zum anderen weiß ich nicht, was es für einen Sinn machen soll, hier nur alle in Besitz befindliche Aufnahmen nach 2000 aufzulisten. Sollte es doch eher darum gehen, hier lohnenswerte Aufnahmen vorzustellen.


    Ich kann mit keiner hier vorgestellten Aufnahme etwas anfangen!


    Rattle kann das deutsche Repertoire (Mahler ausgeschlossen) nicht wirklich. Und schon gar nicht unter dem Philharmoniker-Druck-Dilemma.


    Thielemann? - Oh, bitte nicht! Dieses breitgelatschte Tempo von Krampf-Christian ist ja nur schwer zu ertragen...


    Und Dausgaard? - Ich mag ihn eigentlich sehr. Aber hier hat er stellenweise versagt. Gleich der Beginn des ersten Satzes klingt so synthesizer-computermäßig heruntergespult. Und sie klingt wirklich irgendwie saft- und kraftlos - Schade!


    Lieber Teleton,


    mit Chaillys schlappem Finale der 1. wirft er sich ja praktisch selbst aus dem Rennen. Da kann auch eine perfekte Klangtechnik dann nicht wirklich punkten!



    :hello: LT

  • Hallo l. Liebestraum,


    Du weist, dass ich in dem Punkt empfindlich bin: Schlappe Int von Sätzen würde ich nicht gelten lassen. Insofern kann ich deine Einlassung dazu in keiner Weise teilen. Chailly finde ich auch im letzten Satz absolut angemessen - und auch mit dem richtigen Feuer. Er bietet einen straffen und vorwärsschreitenden verdammt gut ausgehörten 4.Satz, der nie in Langatmigkeit verfällt.


    :thumbup: Zustimmen kann ich Dir bezüglich Thielemann - die Sinfonie Nr.1 in 51:35 ... für mich ebenfalls so ganz und gar nicht akzeptabel.
    :thumbup: Zustimmung auch bezüglich Rattle, bei dem mir das zu normal ohne Saft und Kraft daherkommt. Was ware das noch für Zeiten mit Karajan bei den Berliner PH - - - und seinem packenden Brahms !!!


    :no: Wieder nicht zustimmen kann ich bezüglich Deiner Worte zu Willi´s Beitrag.
    Wenn er Rattle als angemessene Int für das 21.Jhd empfindet, dann kann er diese mit seinen zahlreichen vorhandenen Int gut vergleichen. Willi plant ja seit langem Beiträge zu den Brahms - Sinfonien und den entsprechenden Aufnahmen - :thumbup: auf die ich schon sehr gespannt bin. ;) Ich bin dabei !
    Für einen Vergleich mit Rattle (oder Anderen) muss er keine weitere des 21.Jhd kennen oder haben.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

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  • Hallo Teleton,


    man kann sich eine Aufnahme auch "schönreden"...


    Mit schlappem Chailly-Finale meinte ich nicht, dass es "schlapp" ist, sondern eher, dass sich Chailly der Schlappe hingibt, ganz schön im Klangbrei zu versinken! Und das finde ich nicht wirklich angemessen!


    :hello: LT

  • Mich wundert nicht, dass sich hier kaum jemand zu Wort meldet. Die besten kommerziell auf CD erhältlichen Aufnahmen dieses Werkes wurden schlichtweg im 20. Jahrhundert gemacht. Wer würde es abstreiten? Das hat wenig mit Nostalgie zu tun, eher mit Fakten.


    Der Brahms von Rattle ist besser als sein Ruf, aber an die Aufnahmen der Vergangenheit reicht er m. M. n. nicht heran. Thielemanns Interpretation ist sicherlich beachtlich, aber wer langsam zelebrierten Brahms will, wird m. E. mit Barbirolli (!), Giulini oder Celibidache besser bedient. Dann gibt es natürlich noch Günter Wand, der dieses Werk mehrmals formidabel eingespielt hat. Besonders die Chicagoer Aufnahme sehe ich ganz vorne.


    Und im 21. Jahrhundert? Doch, da fiele mir sogar eine Aufnahme ein, aber die gibt es leider nicht auf CD: Lorin Maazel mit dem New York Philharmonic am 27. April 2007 live. Im selben Jahr entstand ein beeindruckender Live-Zyklus, der es aus unerfindlichen Gründen bisher nicht auf CD geschafft hat. Das wäre zumindest meine persönliche Referenz fürs 21. Jahrhundert. ;)

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Zitat

    teleton: Willi plant ja seit langem Beiträge zu den Brahms-Sinfonien und den entsprechenden Aufnahmen - :thumbup: , auf die ich schon sehr gespannt bin ;) ich bin dabei.

    Zunächst möchte ich mich bedanken, lieber Wolfgang, dass du mir in Beitrag Nr. 10 dankenswerterweise "in die Seite getreten" hast, aber dann möchte ich doch Einiges richtig stellen:
    Nicht ich plane seit langem Beiträge zu den Brahms-Sinfonien, sondern wir haben Ende 2012 / Anfang 2013 zumindest zu dritt, Du, Joseph und ich verabredet, eine Reihe mit Brahms-Aufnahmen aus unseren Beständen zu besprechen, und ich habe dann Anfang 2013 damit begonnen, zunächst lose eine Aufnahme von Günter Wand auf DVD zu besprechen, dann meine Aufnahmen in alphabetischer Reihenfolge vorzustellen, zunächst die Erste: 1. Leonard Bernstein, 2. Karl Böhm, 3. Sergiu Celibidache (Stuttgart), 4. Sergiu Celibidache (München), 5. Christoph von Dohnany (Cleveland), außerdem noch eine DVD von Karajan.
    Das war dann im März dieses Jahres. Seitdem steht dieser Thread still, weil ich nämlich merkte, dass ich der Einzige war, der adäquate Beiträge geschrieben hatte.
    Da lag es für mich doch näher, meine Beethoven-Berichte weiter zu schreiben, zumal ich neue Gesamtaufnahmen bekommen hatte. Selbst diese Reihe habe ich inzwischen unterbrochen, weil Alfred ein für mich weitaus reizvolleres Projekt ins Leben gerufen hat, nämlich sämtliche Beethoven-Sonaten aus unsserem Bestand zu rezensieren und zu vergleichen, und das möglichst unter Verwendung der Partituren, habe ich erfreut zugeschlagen, zumal das für mich ein ganz neues Feld ist, weil man mit den Noten einen viel tieferen Einblick in die Musik, in ihre Struktur und in die Umsetzung durch den Interpreten bekommt und auch Interpretationen besser und fundierter miteinander vergleichen kann. Das ist wie mit dem Sport: alles was man messen kann, ist reeller als das, was man (als Wettkampfrichter) beurteilen muss.
    Das Sonaten-Projekt wird Jahre dauern, und es macht mir einen Riesenspaß.
    Ich bin dennoch bereit, am Brahms-Projekt (obwohl es sehr arbeitsintensiv ist), auf einem zeitlich wesentlich niedrigeren Level weiter mitzuarbeiten, wenn ihr, du und Joseph, wirklich mitmacht.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Die besten kommerziell auf CD erhältlichen Aufnahmen dieses Werkes wurden schlichtweg im 20. Jahrhundert gemacht. Wer würde es abstreiten? Das hat wenig mit Nostalgie zu tun, eher mit Fakten.


    Das scheint aus derzeitiger Sicht tatsächlich so zu sein, lieber Joseph.


    :?: Aber warum soll nicht auch mal ein aktueller Dirigent eine Neuaufnahme des Brahms-Zyklus liefern, der mit der alten Garde nicht nur voll mithalten kann sondern sogar total vom Hocker haut ?
    * Chailly hat zumindest etwas Neues zu sagen, denn er besinnt sich nicht auf Gewohntes, denn so hat man Brahms noch nicht gehört. Mir gefällt seine Neuaufnahmen der Sinfonien Nr.1 - 4, die Ouvertüren, Haydn-Var wirklich sehr gut. :!: Und er liefert die bisher unbekannten Stücke = Liebeslieder-Walzer op.52&65 (orch.Brahms), sowie Intermezzo op.116 und op.117 (orch. Paul Klingel).



    :!: Denke mal an den Beethoven-Zyklus mit P.Järvi (SONY-DVD, 2010). Auch wenn nicht alle der Meinung sind, aber das war doch eine TOP-Neuaufnahme, die es locker mit der alten Garde aufnehmen kann - bzw. so manchen "breiten" Langeweiler deutlich in die Tasche steckt !



    PS.: :hello: Ich bin mal gespannt was Norbert und Accuphan schreiben - ich habe gesehen, dass die Brahms-Chailly-Neuaufnahme Mitte Oktober auch zu deren Neuzugängen gehört hatte !?

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

    Einmal editiert, zuletzt von teleton ()

  • PS.: :hello: Ich bin mal gespannt was Norbert und Accuphan schreiben - ich habe gesehen, dass die Brahms-Chailly-Neuaufnahme Mitte Oktober auch zu deren Neuzugängen gehört hatte !?


    Lieber Wolfgang,


    wenigstens einer... :D ;)


    Ich habe die Gesamtaufnahme bisher einmal durchgehört und kann Deiner positiven Einschätzung bedenkenlos folgen.
    Chailly gelingt es in meinen Ohren wie bei Beethoven, rasante Tempi mit italienischem Sinn für Gefühl und "Seele" zu verbinden und liefert einen sehr gelungenen Beitrag zur Interpretationsgeschichte der Brahms-Sinfonien. Dazu demnächst mehr im entsprechenden Thread.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Zitat

    Mich wundert nicht, dass sich hier kaum jemand zu Wort meldet. Die besten kommerziell auf CD erhältlichen Aufnahmen dieses Werkes wurden schlichtweg im 20. Jahrhundert gemacht. Wer würde es abstreiten? Das hat wenig mit Nostalgie zu tun, eher mit Fakten


    Aber DAS ist natürlich AUCH eine Aussage. Mann muss dann abwarten, wie jene reagieren, die immer wieder monieren, dass hier nicht über neue Aufnahmen geschrieben wird - sondern dass die Mehrheit der Tamino-Mitglieder fast ausschließlich über mindestens 30 Jahre alte Aufnahmen schreibt und sie präferiert. Wie gesagt, warten wir bis sich die "Gegenwarts-Fans" hier zu Worte melden - und OB sie sich zu Worte melden. Auch eine NEGATIVE Bewertung ist eine Bewertung - und auch (als Beispiel) das Statement: "Ich kaufe keine Aufnahmen von derzeit lebenden Interpreten" - ist aussagekräftig....


    Inzwischen haben sich ja doch schon einige zu Wort gemeldet. Ein Thread kann ja durchaus mehr bieten als eine Aufzählung aller derzeit verfügbaren Aufnahemen....
    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Nun, lieber Alfred, die Wahrscheinlichkeit, dass in den erst 13 Jahren des 21. Jahrhunderts mehr "Referenzaufnahmen" eines Werkes wie der 1. Symphonie von Brahms entstanden sind als in den etwa 80 Jahren davor (und selbst, wenn wir nur die Stereoära nehmen, sind es doch auch über 40 Jahre), ist relativ gering, was indes nicht ausschließt, dass es dennoch sehr gute oder gar referenzträchtige Aufnahmen gibt (was ich übrigens gar nicht bezweifeln will).


    Nach langem Überlegen fiel mir doch noch eine weitere Aufnahme ein, die zumindest genannt werden sollte:



    Simone Young legte mit den Hamburger Philharmonikern mittlerweile sogar einen kompletten Zyklus vor. Ich kenne allerdings nur die Erste daraus, und die ist nicht von schlechten Eltern. Die Klangqualität ist übrigens erstklassig.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões


  • Die Klangqualität ist wie angekündigt sehr gut - nicht spektakulär audiphil - aber zeitgemäss TOP mit allen Details. Über die Boxen hatte ich den Eindruck, dass eine geringe Mittenbetonung (vom Stereopanorama her) vorhanden ist, die beim hören mit Kopfhörer nicht auffällt. Ein kleiner Rutsch vom Boxenhörplatz aus der Mitte heraus, konnte diesen Eindruck aber entschärfen.
    Eine Breitbandaufnahme mit Steropanorama a la Ormandy ist es jedenfalls nicht - eher auf absolute Natürlichkeit gebürstet.


    Lieber Wolfgang,


    gestatte mir noch zwei Anmerkungen: Die Tonqualität ist insgesamt gut, aber technisch nicht ganz der Höhe der Zeit.
    Nicht nur Chaillys frühere Aufnahme mit dem Concertgebouworchester zeigt, daß im Tutti mehr räumliche Transparenz und klarere Abbildung der einzelnen Instrumente möglich ist.


    Zitat

    :thumbsup: Mir macht diese Neuaufnahme richtig Spass - ;):!: aber meine Favoriten (mit noch mehr Emotion) stösst sie dennoch nicht vom Thron.


    Ich frage mich gerade, wer meine Favoriten beider 1. Sinfonie sind. Ich denke, wenn ich niemand wesentliches vergessen habe, dürften es Chailly I, Gielen und Eduard van Beinum sein.
    An diese reicht Chailly II nicht ganz heran.
    Ja, das Orchesterspiel ist transparent und lässt mit einem sehr guten Zusammenspiel der einzelnen Orchestergruppen bei schnellen, aber nicht gehetzten Tempi aufwarten.
    Leider bietet Chailly zum Schluss des Finales mit zwei "Schlampigkeiten" auf, die er sich bei der ersten Gesamtaufnahme nicht leistete.
    Brahms schrieb vor, daß bei der Pauke ganz am Ende der Coda die letzten Schläge mit deutlich mehr Druck gespielt werden sollen (14'59'' bzw. 15'04'' in der neuen Aufnahme). Das ist bei Chailly leider nicht der Fall (Man höre zum Vergleich einmal seine erste Aufnahme oder Sir Georg Solti). Auch vermisse ich in den letzten Takten die Posaune. Sie geht im Tutti zu sehr unter. Auch hier war Chailly I präziser bzw. fing sie die Tontechnik präziser ein.


    Sicherlich, diese Kleinigkeiten stören nicht den sehr guten Gesamteindruck, aber wer eine glatte 1 haben möchte, der darf sich auch keine kleinen Nachlässigkeiten erlauben. ;)

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Sicherlich, diese Kleinigkeiten stören nicht den sehr guten Gesamteindruck, aber wer eine glatte 1 haben möchte, der darf sich auch keine kleinen Nachlässigkeiten erlauben.


    Lieber Norbert,
    an deinen Ausführungen gibt es nicht zu zweifeln. Mir war die Stelle in der Coda auch "unangenehm" aufgefallen - das ist neben weiteren solchen Auffälligkeiten mit ein Grund, dass trotz meines insgesamt positiven Eindruckes dieser Chailly-Neuaufnahme meine Favoriten nicht vom Thron gestürzt werden können.


    Ich habe die Stelle mal in meherern Aufnahmen überprüft - Solti und Dorati sind hier ganz besonders exakt und und zugleich mit Fastzination hervorgehoben; wie auch die tollen Aufnahmen von Swetlanow und Bernstein (SONY) (= meine Favoriten für die Sinfonie Nr.1) - sogar die wegen des breiten Tempos nicht so hoch geschätzte Bernstein (DG) ist da perfekt. Bei anderen sehr guten Aufnahmen (Szell, Karajan) sind die Paukenschläge deutlich da, aber nicht so aussergewöhnlich akzentuiert.


    Nochmal zu Chailly:
    Interesant von Dir zu lesen, dass Chailly in seiner Brahms-GA I mehr räumliche Transparenz und klarere Abbildung der einzelnen Instrumente zu bieten hat. Ich hatte gerade das Gegenteil angenommen und in diesen Punkten auf Chailly II-die Neuaufnahme mit dem Gewandhausorchester gesetzt ...

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Es gibt weitere moderne Kandidaten für diesen Thread:



    Zinman mit dem Tonhalle-Orchester Zürich (bewertete David Hurwitz sehr gut)



    Gergiev mit dem London Symphony Orchestra



    Mariss Jansons mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks



    Marin Alsop mit dem London Philharmonic Orchestra

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

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  • Nochmal zu Chailly:
    Interesant von Dir zu lesen, dass Chailly in seiner Brahms-GA I mehr räumliche Transparenz und klarere Abbildung der einzelnen Instrumente zu bieten hat. Ich hatte gerade das Gegenteil angenommen und in diesen Punkten auf Chailly II-die Neuaufnahme mit dem Gewandhausorchester gesetzt ...


    Lieber Wolfgang,


    man sollte zumindest meinen, daß ca. 25 Jahre später aufgenommene Einspielungen transparenter und "natürlicher" klingen sollten, aber dem ist nicht so.


    "Chailly I" ist ein Musterbeispiel an guter räumlicher Staffelung und Abbildung, während ich bei "Chailly II", zum Beispiel zum Schluss der Coda, einige leicht "verwaschene" Passagen wahrnehme.
    Es ist das, was Liebestraum charmant als "Klangbrei" bezeichnet (worin ich ihm allerdings nicht zustimme).


    Um mal Josephs fröhliches "Aufnahmen nennen"-Spiel mitzuspielen ;) :



    Für mich eine der schönsten Brahms-Zyklen der letzten beiden Jahrzehnte, vielleicht sogar der individuellste seit Kubelik (SO des Bayer. Rdfs. 1983) und vor Chailly mit einer auffallend liebevollen Detailarbeit.



    -"klassizistischer" Brahms ohne jegliche Mätzchen

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Anhand des offiziellen Werbevideos konnte ich nun auch ein wenig in den Brahms von Chailly reinhören. Sehr beschwingt, könnte man sagen, nicht negativ gemeint. ;) Die Finalcoda, die auch vorkam, wirkt leider tatsächlich unsauber und zu sehr nach undetailliertem Klangbrei. Da gefiel mir z. B. Simone Youngs Aufnahme (um mal im 21. Jahrhundert zu bleiben) doch besser. Bezüglich Coda könnte sich Chailly auch etwas vom fast 90jährigen Asahina abschauen, der 1996 (leider etwas zu früh fürs 21. Jahrhundert) eine maßgebliche Interpretation abgeliefert hat.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich versuche ja, weitestgehend alte Musik auf historischen Instrumenten zu hören. Mit Norrington hatte ich gemischte Erfahrungen gemacht, und so war ich sehr neugierig auf diese hier:

    da ich mich bei Norrington auf die Nr. 3 und 4 beschränkt habe. Tatsächlich gefallen mir die nun in meinem Regal befindlichen Nr. 1 und 2 mit Gardiner besser, als kleiner Pluspunkt sind auch die dezenten Schmierer zu nennen (weiß jetzt nicht, ob in 1 oder 2).


    Da ich die erste erste vor Jahrzehnten(?) in meinem Elternhaus zurückgelassen habe, habe ich also von Brahms 1. nur diese eine Aufnahme aus dem 21. Jahrhundert und bin somit hier wohl ein Exot.
    :P

  • Was hat eine rhythmisch straffe, zackig-rasante, die Strukturen freilegende Aufführung von Brahmsnoten mit Brahms zu tun? Die richtigen Noten aus der Partitur werden vom Rhythmus und der Tonhöhe her vorgetragen, aber bedeutet das schon, dass es Brahms ist? Ich finde nein.


    "Verschleierung" ist m.E. ein wichtiges Stichwort bei Brahms.
    Brahms versuchte oft, rhytmische Strukturen (etwa durch Polyrhytmik in den Begleitfiguren oder synkopische Verschiebungen in der Melodie ) zu verschleiern, so dass man zwar die Bewegung verspürt, aber nicht genau weiss, wo denn nun z.B. die Eins liegt. Ebenso verbirgt er zunächst oft das melodisch/harmonische Potential eines Einfalls.
    Es gibt natürlich diese warmen Ausbrüche, bei denen man wie von einem Strom aus tiefmenschlicher Liebe und Barmherzigkeit überspült wird, auch die Ausbrüche des Zorns, ebenso die weitschwingenden melodischen Phrasen mit langen Phrasierungsbögen etc.


    Sehr oft zieht sich durch sein Werk dieses "Sowohl- als auch", bei dem eine Figur, ein harmonischer oder melodischer Einfall in unterschiedlichen Zusammenhängen auch eine ganz unterschiedlichen Gestalt annehmen kann. Es könnte so sein, aber eben auch anders. Das Entwicklungspotential eines Motivs lässt da viel zu. Es könnte vielleicht auf eine Offenbarung der unter der rauhen Schale verborgenen Liebe hinauslaufen.....aber dann.....nein, jetzt doch lieber nicht.
    Die Musik offenbart den seelischen Charakter des in seinem Inneren m.E. eher weichen und scheuen Menschen Johannes Brahms, der nach aussen jedoch bisweilen schroff, beleidigend und verschlossen wirken konnte.
    Fachlich mitteilsam in Bezug auf seine Musik war er kaum. Man sprach ihn einmal auf seine Verschlossenheit im persönlichen Umgang an, worauf er den bekannten Satz antwortete " ich spreche durch meine Musik".


    Klarheit, Transparenz und informative Eindeutigkeit bedeutet im wirklichen Leben auch Nacktheit und damit Verletzlichkeit. Das weiss man, glaube ich, nicht erst nach den jüngsten Abhörenthüllungen eines Ex-NSA Mitarbeiters. So wie Kleidung im wirklichen Leben ein Schutz gegen körperliche und seelische Verletztungen ist, gibt es bei Brahms eben diese künstlerische Entsprechung im musikalisch-ästhetischen Bereich. Er verkleidete und verschleierte mit musikalischen Mitteln.


    Mit solchen Erkenntnissen im Hinterkopf komme ich zu folgender These:
    Bei Brahms jede kleinste Struktur (etwa rhythmische Begleitfiguren) im Sinne einer Straffheit und Klarheit offenlegen zu wollen, widerspricht ganz und gar dem ganzen Wesen der brahmschen Musik. Ich habe auch schon mit Leuten gesprochen, die bei Klavierliteratur von Brahms meinten, extrem sparsam mit dem Pedal umgehen zu müssen, damit man ja auch jeden Ton der "Faktur" ,wie es einer mir gegenüber ausdrückte, auch erkennen möge. Dem widerspricht ja die Aussage eines Zeitgenossen, der beschreibt, dass die Begleitfiguren bei Brahms "wie hingeworfen" klangen, wenn er selbst spielte, was ja auch auf eine flexible Agogik schliessen lässt.


    Röntgenbilder mögen ja für Mediziner interessant sein. Medizinstudenten werden es auch interessant finden, wenn ihr Professor eine Sezierung vornimmt.
    Ich persönlich schätze da eher den Anblick einer schönen und lebenden Frau. Ich mag die Wärme, die Austrahlung und die Liebe, die von ihr ausgeht. Das Betrachten eines Röntgenfotos derselben Dame hingegen lässt mich kalt.


    Damit sich bei Brahms die gewaltigen Energien aufstauen und wieder entladen können, braucht es Zeit.
    Um die Energien der ausdrucksvollen harmonischen Verläufe zu verspüren, braucht es Zeit.
    Um die Schönheit einer rund-bewegten Kantilene zu erfassen, braucht es Zeit.
    Zwar sind die Brahms-Symphonien keine Chormusik, aber dennoch sollte alles so geatmet werden, als wenn es durch die Instrumente gesungen würde. Dies ist eine humane Musik und entlang einer solchen Ästhetik sollte sie interpretiert werden.


    Von daher möchte ich mich hier einmal für eine der wenigen dem Schönklang und den warmen herbstlichen Tönen (bei denen es ja ums Aufblühen und ums Ersterben geht) verpflichtete Interpretation des 21. Jahrhunderts einsetzen, die aus meiner Sicht die von mir oben nur sehr leicht angerissenen Parameter einer angemessenen Brahmsinterpretation sehr vorbildlich umsetzt. In manchen Aspekten oder auch ganzen Sätzen wird es m.E. sogar unerreicht schön umgesetzt. Es handelt sich um die von Willi weiter oben schon nahezu schüchtern genannte Aufnahme mit dem BPO und Simon Rattle.




    Hier hört man den dunklen deutschen Traditionsklang dieses Orchesters in Reinkultur - so schön hat es m.E. noch nicht vorher geklungen, auch wenn so mancher es nicht glauben will. Ich habe vor einiger Zeit einmal einige identische Abschnitte aus den Symphonien mit Aufnahmen des BPO verglichen, und zwar Karajan (verschiedene Aufnahmedaten), Abbado und eben Rattle. Vom Orchesterklang her fand ich es bei Rattle oft am schönsten - warm und voll, doch ohne jedes herrische und im Vergleich etwas rohe und inhumane Drücken, wie ich es bei Karajan bei einigen Stellen empfand.
    Bei Abbado hörte ich etwas mehr die melodieführenden Stimmen hervorgehoben.
    Besonders gut finde ich bei Rattle, dass er eine für mich so noch nie gehörte kammermusikalisch- dialogische Ausarbeitung von Soloinstrumenten und Orchestergruppen in den Klang des Tuttis nahtlos integrierte.
    Hier hat man jene feinst ausgearbeitete Kleinode und gleichzeitig die Wucht des niemals grell erklingenden Tuttis.


    "Schön frisch", "rasant", "Strukturen offenlegend" ....ist das ein Weg für Brahms? Nein danke, für mich nicht.
    Ich finde einen vermeintlich historisch orientierten Brahms "mit ohne Vibrato" (ein Missverständnis, dass schon für die Barockmusik nicht stimmt) oder einen "streng klassischen" Brahms (auch bald ein Missverständnis, denn so "streng" ist die Klassik gar nicht) einfach nur furchtbar.
    Wenn ich eine Erste höre, bei dem der Pauker ganz schnell und heftig "peng peng peng" macht, anstelle dass sich hier ein gewaltiges Portal für ein gewichtiges Drama öffnet, wie es z.B. bei Abbado so schön hörbar wird, dann leide ich. Das sollte "Pooohm" auf den Schlägen klingen, nicht "pang".
    Romantisch sollte der Brahms klingen und aufblühen dürfen, allerdings nicht ständig schwer und massig, sondern eben auch atmend und liebevoll ausgearbeitet. Und diese Aspekte habe ich bei Rattle in einer in die Zukunft weisenden Synthese gefunden.


    Von den Aufnahmen des 21. Jahrhunderts sagen mir tatsächlich nur wenige zu. Wenn ich heute in ein Spitzenkonzert mit der Ersten von Brahms gerne ginge, dann fiele meine Wahl ausser auf Rattle noch auf Abbado, Barenboim (den ich mit der Ersten schon überzeugend live im TV sah) und Thielemann, dem ich es zutraue.


    Gruss
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Lieber Glockenton,


    ich möchte dir für diesen sprachlich wie inhaltlich beeindruckenden Beitrag danken.


    Herzliche Grüße


    Christian

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Wie gesagt, warten wir bis sich die "Gegenwarts-Fans" hier zu Worte melden - und OB sie sich zu Worte melden.

    Ich nehme ja an, dass weder Glockenton noch ich "Gegenwarts-Fans" in Deinem Sinne sind. Ich habe den Gardiner vor allem wegen des Klangs der historischen Instrumente und Glockenton lobt ja nun auch nicht das besonders Neuartige der Rattle-Einspielung. Trotzdem stellen wir die jeweilige Aufnahme nicht weit hinter irgendeine aus dem 20.Jahrhundert.


    Da Brahms ein Komponist des 19. Jahrhunderts war, ist mir nicht klar, warum das 20. Jahrhundert die guten Aufnahmen für sich reserviert haben sollte. "Die besten kommerziell auf CD erhältlichen Aufnahmen dieses Werkes wurden schlichtweg im 20. Jahrhundert gemacht" ist einfach nur eine Behauptung.

  • "Die besten kommerziell auf CD erhältlichen Aufnahmen dieses Werkes wurden schlichtweg im 20. Jahrhundert gemacht" ist einfach nur eine Behauptung.


    Das sehe ich auch so. Zumal einfach die zu beurteilenden Zeiträume auch schon von vornherein das Bild verzerren.
    Ich glaube, wenn man sich beliebige 13 Jahre des 20. Jhdts. herausnuimmt und da nach den wirklich großen Aufnahmen schaut, dürfte die Ausbeute auch nicht viel besser sein als im noch jungen 21. (Es sei denn, man trifft ausgerechnet auf eine Häufung großer Aufnahmen, weil etwa die drei großen konkurrierenden Plattenfirmen zeitgleich Einspielungen auf den Markt gebracht haben).
    Aber über den Gesamtzeitraum gesehen, denke ich ich nicht, dass die daraus folgende Erkenntnis Anlass gibt, sich voll Gegenwartspessimismus in die Vergangenheit zu sehnen.


    Ich gebe zu, keine einzige "frische" Brahms- Einspielung zu besitzen, was aber vor allem damit zu tun hat, dass ich lebende Dirigenten lieber live höre.
    Und wenn ich an Brahms's Dritte mit Jansons vor ein paar Jahren im Herkulessaal denke, so wird mir nicht bange, dass auch unsere Zeit Referenzen hervorzubringen vermag.


    So etwas wie Furtwängler-Aufnahme der Ersten mit dem NDR-Orchester fällt eben nicht alle Tage vom Himmel. Vielleicht muss man sich auch einfach noch ein wenig gedulden.


    P.S.: Andris Nelsons kann auch guten Brahms - auch wenn man hier über seine KK geteilter Meinung ist.

    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)

  • Eine sehr schöne Box, lieber Liebestraum, nur habe ich die Aufnahmen bis auf Tschaikowskys 5. alle schon, und leider habe ich von Wand aus diesem Jahrtausend nur noch Bruckner und Schubert. Brahms gibt es leider nicht mehr.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Willi,


    die Box enthält gar keine Tschaikowski 5! Ferner ist diese Box nicht identisch mit den RCA-Aufnahmen!


    Außerdem habe ich die Box hier eingestellt, weil weder Chailly und Rattle an das Ergebnis von Wand herankommen: weder künstlerisch noch klangtechnisch!


    :hello: LT

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