Lassen sich künstlerische Leistungen überhaupt objektiv beurteilen?

  • Vermutlich fehlen eben einfach vielen Opernfreunden (auch hier im Forum) die Kriterien und die Erfahrung, um die Leistungen von Sängern, Dirigenten und Orchestern wirklich einschätzen und beurteilen zu können.

    Vermutlich gibt es im Forum aber auch Taminos, die mehr über Sängerstimmen wissen als so mancher Experte, oder wer sich dafür hält. Denn unter diesen gibt es auch manchmal Ansichten, die einen nur den Kopf schütteln lassen!

    Die Diskussion zwischen Caruso41 und 9079Wolfgang hat mich bewogen, diese Frage etwas zu verallgemeinern. Gibt es bezüglich künstlerischer Leistungen wirklich objektive Kriterien, die man sich als "Experte" aneignen kann und die einen befähigen "etwas wirklich einschätzen und beurteilen" zu können. Oder ist nicht ALLES auch ein Geschmacksurteil.


    Meine These ist, diese objektiven Kriterien künstlerische Leistungen zu beurteilen, gibt es NICHT. Alles ist auch subjektiv. Es geht jetzt bitte nicht um die triviale Frage, ob ein Geiger richtig intoniert, der Sänger das hohe C trifft oder der Pianist die richtige Taste drückt, das kann jeder halbwegs erfahrene Hörer hören. Sondern es geht um künstlerische Leistungen insgesamt.

  • Es lassen sich alle möglichen Aspekte recht objektiv beschreiben, subjektiv bleibt dann, wie man das Gewonnene in einen allgemein akzeptierten Rahmen von Wertungsrichtlinien einbettet, um die erkannten Merkmale für eine Beurteilung nutzbar zu machen.


    So kann eine Zusammenführung verschiedener Stile als Synthese positiv oder als Eklektizismus negativ gewertet werden. Wobei die jeweilige Zuordnung schon auch wieder durch Argumentation teilobjektiviert werden kann. Je größer die künstlerische Freiheit, umso schwieriger wird das aber.

  • Die Diskussion zwischen Caruso41 und 9079Wolfgang hat mich bewogen, diese Frage etwas zu verallgemeinern. Gibt es bezüglich künstlerischer Leistungen wirklich objektive Kriterien, die man sich als "Experte" aneignen kann und die einen befähigen "etwas wirklich einschätzen und beurteilen" zu können. Oder ist nicht ALLES auch ein Geschmacksurteil.


    Meine These ist, diese objektiven Kriterien künstlerische Leistungen zu beurteilen, gibt es NICHT. Alles ist auch subjektiv. Es geht jetzt bitte nicht um die triviale Frage, ob ein Geiger richtig intoniert, der Sänger das hohe C trifft oder der Pianist die richtige Taste drückt, das kann jeder halbwegs erfahrene Hörer hören. Sondern es geht um künstlerische Leistungen insgesamt.


    Es ist natürlich richtig, daß ein ästhetisches Urteil nicht in der Weise "objektiv" ist wie ein logisches Urteil: 2 plus 2 gleich 4. Was aber nicht heißt, es sei völlig dem Belieben und Gutdünken des Einzelnen überlassen. Kant sagte bekanntlich, über guten Geschmack kann man nicht streiten. Es gibt da sehr wohl Normen, die allgemeinverbindlich sind (der Philosoph sagt, das sind die "ästhetischen Ideen"). Anders als ein logischer Sachverhalt unterliegt die Beurteilung von ästhetischen Gegenständen dem historischen Wandel. So hat man z.B. lange den Barockstil abgewertet oder den Wert des Jugenstil nicht richtig erkannt. Aber man kann eben doch den ästhetischen Wert jeweils erkennen - jedenfalls ist das möglich, auch wenn es faktisch nicht immer geschieht. Weil es da viele verschiedene Kriterien gibt, die zusammenkommen und das in oft schwer durchschaubarer Weise, ist hier das "Subjektive" am Zustandekommen des Urteils weit mehr beteiligt als in der Logik. Deswegen ist das ästhetische Urteil auch im höheren Sinne "fehlbar" als vergleichbar das über einen einfachen logischen Sachverhalt. Was aber nicht heißt, es sei deswegen subjektiv-beliebig. Wie es richtige und falsche Aussagen gibt, gibt es auch gute und schlechte ästhetische Urteile.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Es lässt sich objektiv beurteilen, ob ein Sänger die Töne trifft, wie verständlich der Text artikuliert ist und für Leute, die sich auskennen, auch ziemlich viele Details der Gesangstechnik, Tonproduktion usw. Die Frage ist nur, ob man aus solchen Einzelheiten letztlich einfach so eine Summe bilden kann. Ohne viel von Gesangstechnik zu verstehen, scheint mir zB, dass die Bartoli ihre Koloraturen in Barockmusik alles andere als mühelos und souverän darbietet. Aber sie hat dafür auch erheblich mehr Verve und Ausdruck als manch andere Sängerin, die technisch für diese Musik vielleicht besser ist.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich bringe mal ein bekanntes Beispiel: Arturo Toscanini. Die einen (vor allem amerikanische Kritiker) verehren ihn als den Sachwalter der Partitur, der (angeblich) unerbittlich auf der Umsetzung der Noten in der Partitur bestand. Die anderen, vertreten mal durch seinen Antipoden Furtwängler, sagen: Bloody time beater. Das wichtige steht nicht in den Noten, sondern dazwischen.


    Zweites Beispiel Glenn Gould. Die einen verehren ihn, weil er als erster die Bach'sche Klaviermusik aus jahrhundertelangen Schlaf erweckt und für heutige Ohren anhörbar gemacht hat (ich weiß, da gab es schon Fischer, Lipatti, Gieseking, Tureck und andere, aber deren Bachspiel hat diese Musik nicht ins Bewußtsein der Öffenlichkeit zurückgebracht). Und die anderen lehnen ihn als historisch völlig unkorrekt ab, falsches Instrument, falsche Phrasierung, alles falsch, kein Bach.

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  • "Wir sind keine Klempner, wir haben es hier mit Lyrik Musik zu tun.


    Man kann doch nicht Gedichte Sinfonien bemessen wie amerikanische Charts..."



    Herzliche Grüße


    Christian

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Wenn man ganz geanu definiert, was "gemessen" werden soll, dann lassen sich objektive Urteile wohl fällen. Allerdings allgemeine Fragestellungen, wie "Wer ist der bessere Sänger: Schreier oder Wunderlich" sind nicht wirklich zielführend und laufen auf die Frage hinaus: "Was ist schöner: ein Elefant oder ein Auto?".

  • Ich bringe mal ein bekanntes Beispiel: Arturo Toscanini. Die einen (vor allem amerikanische Kritiker) verehren ihn als den Sachwalter der Partitur, der (angeblich) unerbittlich auf der Umsetzung der Noten in der Partitur bestand. Die anderen, vertreten mal durch seinen Antipoden Furtwängler, sagen: Bloody time beater. Das wichtige steht nicht in den Noten, sondern dazwischen.


    Die Bedeutung von Toscanini liegt doch eigentlich darin - so haben sich z.B. Karajan oder Celibidache oder auch Ricardo Muti geäußert - daß er mit der herrschenden Wagner-Tradition des Dirigierens, die Furtwängler exemplarisch vertrat, gebrochen hat. Er hat damit interpretationsgeschichtlich eine neue Epoche eingeleitet. Die folgenden Generationen von Dirigenten mußten sich da also positionieren - z.B. wollte Karajan so eine Art Synthese von Furtwängler und Toscanini vollbringen, wie er sich mal geäußert hat. Bestimmte Dinge, die Toscanini erstmals "gewagt" hat, haben sich später durchgesetzt. Muti hat mal schön demonstriert, daß Furtwängler in den ersten 3 Takten von Beethovens 5. schon x mal das Tempo wechselt - Toscanini hält das dagegen konstant durch. Boulez fordert später genau das: ein absolut einheitliches Grundtempo. All das fließt in das ästhetische Urteil ein, wenn man sich mit Toscanini auseinandersetzt. Da geht es letztlich nicht um subjektiv oder objektiv, sondern eine Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Ästhetik.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Muti hat mal schön demonstriert, daß Furtwängler in den ersten 3 Takten von Beethovens 5. schon x mal das Tempo wechselt - Toscanini hält das dagegen konstant durch. Boulez fordert später genau das: ein absolut einheitliches Grundtempo.

    Deshalb kennt fast jeder eine der Aufnahmen der 5. von Furtwängler und die von Toscanini kennt fast niemand. :)

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  • Deshalb kennt fast jeder eine der Aufnahmen der 5. von Furtwängler und die von Toscanini kennt fast niemand. :)


    Vielleicht deshalb, weil sich Toscanini mit seiner Art durchgesetzt hat, wir ihn also durch viele andere kennen und Furtwängler dagegen "ganz anders" ist. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger


  • Vielleicht deshalb, weil sich Toscanini mit seiner Art durchgesetzt hat, wir ihn also durch viele andere kennen und Furtwängler dagegen "ganz anders" ist. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

    Ja. da ist was dran. Szell, Karajan und Chailly habe ich nämlich.
    :hello:

  • Deshalb kennt fast jeder eine der Aufnahmen der 5. von Furtwängler und die von Toscanini kennt fast niemand. :)


    Ich wage mal die Vermutung, dass international über die letzten 70 Jahre integriert Toscaninis Beethoven-Platten erheblich weiter verbreitet sind als Furtwänglers. Das hängt aber auch mit allen möglichen nichtmusikalischen Dingen zusammen.


    M.E. sind objektiv und subjektiv in diesem Kontext Schlagworte, die letztlich nicht so viel sagen. Kälteempfinden ist keine objektive Temperaturmessung, aber vielleicht ein besserer (objektiver) Anzeiger dafür, ob meine Gesundheit gefährdet ist, wenn ich mich zu lange einer bestimmten Temperatur aussetze.
    Man muss Meinungen wie "Taktschläger" oder "das hinter den Noten" nicht immer unbegründet stehen lassen, sondern kann rational argumentieren, was beim angeblichen Taktschläger vielleicht deutlicher oder weniger deutlich wird als bei einer Interpretation, die kaum je ein stabiles Grundtempo erkennen lässt. Es hat mal jemand an Beethovens erster Sinfonie nachgewiesen, dass sich auch bei den meisten geradlinigen Interpreten oft an denselben Stellen Tempoänderungen feststellen lassen, nur sind die viel geringer als bei jemandem wie Furtwängler, meist seltener und mit einem zügigeren Grundtempo. So mag in einem Satz Furtwänglers Tempo vielleicht zwischen 90 und 120 schwanken, während Toscaninis zwischen 104 und 116 liegt (erfundene Zahlen, aber so in etwa können die Größenordnungen sein).
    Wie man das letztlich bewertet, ist dann noch eine andere Sache. Aber auch das lässt sich, in gewissen Grenzen, erläutern, verteidigen, revidieren usw.

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  • Ich gehe mal weg vom konkreten Beispiel zurück zur allgemeinen Fragestellung


    Zitat

    Gibt es bezüglich künstlerischer Leistungen wirklich objektive Kriterien, die man sich als "Experte" aneignen kann und die einen befähigen "etwas wirklich einschätzen und beurteilen" zu können.


    An sich - weitgehend - ja. Allerdings mit recht bedeutenden Einschränkungen.


    So ist die Frage was eine "künstlerische Leistung" ist doch sehr zeit- orts- und kulturgebunden.
    Wir können das gut betrachten, wenn wir die oft abstrus anmutenden Statements in alten Lexika oder Zeitschriften aus heutiger Sicht betrachten. Natürlich waren das keine Ahnungslosen, aber ihr Expertentum war vom Zeitgeist bestimmt.


    Nun ist der Zeitgeist nicht nur eine Auseinandersetzung mit der jeweils eigenen Gegenwart, sondern auch mit der Vergangenheit und ihren Kulturen. Diese Parameter geben vor was eine bestimmte Kultur, bzw Epoche als "Kunstwerk" bestimmt - und welche Aufgabe ein Kunstwerk an sich hat.


    Innerhalb dieser Grenzen ist es selbstverständlich möglich Expertisen abzugeben ob ein "handwerkliches Objekt" (auch eine Komposition kann als solches betrachtet werden)den jeweiligen Anforderungen entspricht um als "Kunstwerk" gelten zu dürfen. Geschmackliche Freiräume sind natürlich immer vorhanden.....


    Strawinskys "Sacre du Printemps" und die Bilder des Hyronimus Bosch stellten beispielsweise jeweils einen Tabubruch dar - und mich wundert immer wieder, daß H.van Aaken nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Sorry, liebe Freunde, aber ein bisschen fühle ich mich überfordert.
    Ich würde gern etwas zur Auseinandersetzung mit dieser Frage von Lutgra beisteuern, aber die Zeit reicht nicht mehr dafür, da ich heute abend noch nach Berlin aufbrechen will.
    Man kann nicht überall mitmachen.
    Aber: das Thema interessiert mich!
    Und: in gewisser Hinsicht würde hier in diesen Thread viel eher passen, was ich gerade in den "Komische Oper"-Thread eingestellt habe.


    Deshalb nur der Verweis auf den Beitrag:


    Komische Oper Berlin wieder zum Opernhaus des Jahres gewählt (!!??!!)


    Vielleicht kann ich ja den Faden hier noch aufnehmen, wenn ich nächste Woche wieder nach Hause komme. Immerhin denke ich, dass die in meinem Beitrag entwickelte Argumentation auch Konsequenzen für die Frage der Möglichkeit eines objektiven Urteils über künstlerische Leistungen hätte. Da ich nicht über die Gabe verfüge, soetwas in einem Satz - wie das der Kurzstreckebmeister so vorzüglich kann - einsichtig zu machen, werde ich also mich - angesichts mangelder Zeit - erst mal zurückziehen!


    Beste Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

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  • Vieles in der Kunst ob es nun die Malerei, oder wie in diesem Falle die Musik ist, ist natürlich bei jedem einzelnen in erster Linie eine Frage des persönlichen Geschmackes.
    Aber man sollte auch in der Lage sein eine künstlerische Leistung, sofern sie denn wirklich erbracht worden ist, anzuerkennen, auch wenn sie vielleicht dem persönlichen Geschmack etwas zuwieder läuft.
    Hierzu ein Beispiel:
    Als ich letztes Jahr in San Francisco war, kam ich nicht umhin, in die Castingshow X-Faktor hereinzuschalten.
    In dieser Episode trat ein - ich glaube er war maximal 17 - junger Mann auf, der auf Zuruf eines einzelnen Wortes ein freestyle Rap auf die Beine stellte, der mich wirklich verblüffte.
    Ich kann mit dieser Art Kunst auszudrücken offengestanden nicht soviel Anfangen, was dieser junge Mann aber innerhalb von zwei Minuten fertigbrachte verdiente wirklich meine absolute Hochachtung.
    In dieser Geschwindigkeit und mit soviel Wortwitz habe ich das bisher noch nicht gehört.
    Es erübrigt sich glaube ich zu sagen, dass er selbstverstädlich weiter kam.


  • Meine These ist, diese objektiven Kriterien künstlerische Leistungen zu beurteilen, gibt es NICHT. Alles ist auch subjektiv. Es geht jetzt bitte nicht um die triviale Frage, ob ein Geiger richtig intoniert, der Sänger das hohe C trifft oder der Pianist die richtige Taste drückt, das kann jeder halbwegs erfahrene Hörer hören. Sondern es geht um künstlerische Leistungen insgesamt.


    Aber da fängt es doch schon an!! Ich spreche wieder mal für die Oper. In einer Oper wo man selbst fast jede Note kennt kann man sich nur allzu oft wundern, wie viele Noten (auch von großen Namen) da nicht oder falsch meistens nur ungenau und mehr als approximativ wiedergegeben werden!!!


    Für mich gilt: wenn jemand das HANDWERK (die Ausübung von Kunst ist ja keine schwarze Magie) beherrscht und die Vorgaben des Komponisten erfüllt kann man beginnen über Geschmack zu streiten.


    Nur wo eine absolut solide technische Basis vorhanden ist kann sich ein Interpret frei und nach seinen Vorstellungen entfalten.