Das neue, alte Konzertkonzept

  • hallo,


    nachdem ich den ganz unten angefügten beitrag am online portal der renommierten englischen zeitung
    the guardian gelesen habe, ist mir wieder eingefallen, dass ich einmal im english pub ein konzert erlebt
    habe. das trio hat irische instrumentalmusik aus dem 17. jhdt gespielt, während des regulären schankbetriebes.


    jetzt habe ich diesen artikel gelesen und bin eigentlich von dieser neuen und doch uralten konzertform
    begeistert und würde mich sehr freuen, wenn auch hier dieses konzept einzug finden würde; so wie es halt
    ursprünglich war. für mich hat es den vorteil, ein konzert nicht mehr in einem konzertsaal erleben zu müssen,
    wo man eingeengt sitzt, die wahl der bekleidung wird leichter, man kann sich mit dem anderen unterhalten
    und genießt neben bier / wein / mineralwasser wunderschöne musik. und, man zahlt nicht mehr unsummen
    an konzertveranstalter. :)


    was wären die nachteile? ich kann keine sehen, höchstens, dass die akkustik ab und zu nicht optimal ist.
    warum ist diese form der musikalischen treibens untergegangen. im barock war es doch noch ganz üblich.
    bach und co haben doch noch ihr bier getrunken und daneben öffentlich musiziert.


    der kurze beitrag:


    http://www.theguardian.com/mus…/classical-music-in-a-pub


    grüße!

  • Da ich den ganzen Tag " Lärm " um mich herum habe gepaart mit populärer Musik empfinde ich dieses Konzertkonzept als weniger angenehm.
    Ich empfind es zum Beispiel als außerordentlich störend, wenn ich mir neben einem Beitrag am Klavier auch noch permanentes Geschirrgeklapper anhören muß, wie einst im Alsterpavillion in Hamburg an der Binnenalster.
    Sorry aber von einem Konzet für Klavier und Geschirr habe ich bisher in einschlägiger Literatur noch nichts finden können, wäre aber vielleicht auch einmal eine interessante Idee.


    Anderes Beispiel, bei der Eugen Onegin Opening Night saßen wir wie schon erwähnt im Freien, neben mir saß eine sehr charmante Dame, obwohl ich das Anfangs nicht so empfand, denn sie schmatzte mir 90 Minuten lang die Ohren voll.
    Auch dieses empfand ich bei dem Hörgenuß der Opernaufführung als weniger angenehm, um es einmal vorsichtig auszudrücken.

  • da ist schon was wahres dran. hängt dann eben auch von der art der musik ab. ich glaube, dass es in diesem beitrag weniger um hochanspruchsvolle konzertante klassik und opern geht, sondern eher um die etwas "leichtere" kammermusik im bereich alte musik / barockmusik. für mich hätte es den vorteil, dass ich neben einem lokalbesuch meine bevorzugte musik hören kann und, dass die klassische musik, ich verwende jetzt den üblichen überbegriff, wieder einem breiten publikum zugänglich gemacht werden würde. es gäbe keinen eintritt, der wirt übernimmt die kosten für das publikum. das publikum kommt dann auf den geschmack und besucht künftig professionelle veranstaltungen, was wiederum den veranstaltern zugute kommen würde. aus näheren quellen weiß ich, dass die veranstalter klassischer musik ohnehin oft verluste machen und ohne staatliche subventionen und sponsoren gäbe es viele klassische veranstaltungen nicht. das interesse ist nicht da, die kosten teilweise zu hoch, das breite publikum kennt die schönheit der musik abseits der popularmusik nicht.

  • Ob derartige Konzepte angemessen sind, hängt ganz von der jweiligen Musik ab.


    Ich denke, bei einer Mahler-Symphonie erübrigt sich jeder Gedanke an eine Auffürhung außerhalb einer konzentrierten, nur auf die Musik gerrichteten Athmosphäre ebenso wie etwa bei einer Oper Wagners.
    Diese Werke wurden für die bewußte und auschließliche Rezeption geschaffen.


    Bei manchen Barock-Opern, die damals durchaus im Rahmen einer Festivität gegeben wurden, bei der gewandelt, gegessen und getrunken wurde, sieht das sicher schon wieder anders aus.


    Und etwa bei Telemanns Tafelmusiken würde ich sogar soweit gehen zu sagen, dass deren Aufführung in einem abgedunkelten Konzertsaal, während das Publikum schweigend und nur auf die Musik fixiert auf den Plätzen verharrt, ein Musterbeispiel an Fehlrezeption darstellt.
    Diese Musik ist in ihrer rationellen Kompositionsweise und ihrer inhaltlichen Dichte so sehr auf die Einbettung in einen Kontext angelegt, in dem die Musik zwar integraler Teil ist, jedoch nie die volle Aufmerksamkeit der Teilnehmer genießt, dass ein "bloßes" Anhöhren dieser Stücke, zumindest bei mir, immer den Eindruck hinterlässt, hier würde etwas fehlen - es erscheint mir, hart gesagt, einfach mitunter zu trivial, als dass ich mich ganz darauf konzentrieren möchte.


    Hier wäre die angesprochene Konzertform für mich eine klare Bereicherung - und eigentlich doch die conditio sine qua non für alle Verfechter der historischen Aufführungspraxis...


    P.S.: Ich sah gerade, dass sich die Hauptlinie meiner Argumentation mit Teilen des kurz vorher eingestellten Nachtrags von PeterP deckt. Aber ein wenig Redundanz kann nie schaden...)

    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)

  • Und etwa bei Telemanns Tafelmusiken würde ich sogar soweit gehen zu sagen, dass deren Aufführung in einem abgedunkelten Konzertsaal, während das Publikum schweigend und nur auf die Musik fixiert auf den Plätzen verharrt, ein Musterbeispiel an Fehlrezeption darstellt.
    Diese Musik ist in ihrer rationellen Kompositionsweise und ihrer inhaltlichen Dichte so sehr auf die Einbettung in einen Kontext angelegt, in dem die Musik zwar integraler Teil ist, jedoch nie die volle Aufmerksamkeit der Teilnehmer genießt, dass ein "bloßes" Anhöhren dieser Stücke, zumindest bei mir, immer den Eindruck hinterlässt, hier würde etwas fehlen - es erscheint mir, hart gesagt, einfach mitunter zu trivial, als dass ich mich ganz darauf konzentrieren möchte.

    Ich weiß nicht so recht, "Tafelmusik" heißt nicht, dass das immer nur simultan zur Nahrungsaufnahme präsentiert wurde. Ganz im Gegenteil: Die Tafelmusik war tendenziell die mit dem aufmerksamsten Publikum, daher auch durchaus kunstvoll, das als zu trivial anzusehen bedeutet eher mangelndes Verständnis für die Materie.

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  • Kunstvoll ja, und ich wollte damit auch nicht sagen, dass diese Stücke stets in lauten Gelagen untergingen.
    Aber dennoch ist schon kompositorisch ein grundsätzlich anderes Rezeptionsverständnis vorhanden, als es einem etwa später in Beethovens Symphonien begegnet.


    Aber es sind eher kompositionstechnische Finessen als Teil des seriellen Charakters, die man hier würdigen kann; weniger eine besondere inhaltliche Dichte.

    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)

  • jetzt habe ich diesen artikel gelesen und bin eigentlich von dieser neuen und doch uralten konzertform begeistert und würde mich sehr freuen, wenn auch hier dieses konzept einzug finden würde; so wie es halt ursprünglich war. für mich hat es den vorteil, ein konzert nicht mehr in einem konzertsaal erleben zu müssen, wo man eingeengt sitzt, die wahl der bekleidung wird leichter, man kann sich mit dem anderen unterhalten und genießt neben bier / wein / mineralwasser wunderschöne musik. und, man zahlt nicht mehr unsummen an konzertveranstalter.

    Naja, und wie war das ursprünglich mit der Tafelmusik? Da musst Du Dir ein Palais mieten, Dich ordentlich kleiden lassen (Perückenmacher sind heute sicher nicht billiger als im 17. Jahrhundert), ein paar Diener anstellen, etc.
    :D

  • Na gut, so betrachtet :whistling:


    Wie war das dann in den Kneippen und Spelunken, die diversen Collegia musica usw.
    Gemeinsames Musizieren, wo sich Musiker, Studenten und Amateure gemischt haben
    a la Jam Session wie man heute sagt und in der Mitte saß der alte Bach. Umringt vom
    einfachen Volk, manch runtergekommener Edelmann und die leichten Mädchen usw. :D

  • Meines Wissens ist "Tafelmusik" sehr häufig eher zwischen den Gängen eines Mahls erklungen. Wie in diversen threads des Lullisten nachzulesen ist, war zB am französischen Hofe das Essen (wie alles andere) streng ritualisiert. Und dass Bach Konzerte in einem Leipziger Kaffeehaus gab, bedeutet nicht, dass die als Begleitmusik gedacht gewesen wären.


    Natürlich gab es damals keine andere Möglichkeit, "Hintergrundmusik" zu erzeugen, wenn man welche haben wollte. Aber m.E. wird gerade das Publikum des 18. Jhds. von vielen heutigen Hörern unterschätzt. Sicher waren da auch welche dabei, für die das Hintergrundgedudel gewesen ist. Andererseits dürfte ein weitaus höherer Anteil als im frühen 21. Jhd. auch selbst musiziert und durchaus die Feinheiten der Musik verfolgt haben.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)


  • Nein, so was geht gar nicht! "Für solche Schweine spiele ich nicht!", rief Ludwig van Beethoven, als ein junger
    hochnäsiger Graf während eines Konzerts nicht aufhörte, sich mit seiner Schönen zu
    unterhalten, sprang auf und verließ den Salon. Das erzählt Ferdinand Ries, Komponist,
    Pianist und einer der besten Freunde Beethovens.


    Das würde ich hier auch so sagen. Musik beansprucht eine gewisse Aufmerksamkeit. Auch wenn der Begriff "Ernste Musik" heute so nicht mehr verwandt wird, ernst sollte man die Musik schon nehmen und zugleich gebührenden Respekt vor den/m Ausführenden.
    Ausnahmen sind gewisse Open-Air-Veranstaltungen, wie die Konzerte in der Berliner Waldbühne oder der Choriner Musiksommer. Aber auch dort wird es ziemlich still, wenn die Musik erklingt. Das hat sie auch wohl verdient!


    :hello:

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

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  • Und dass Bach Konzerte in einem Leipziger Kaffeehaus gab, bedeutet nicht, dass die als Begleitmusik gedacht gewesen wären.


    Allerdings! Wozu hätte die erste Zeile der Kaffeekantante dann " Schweigt stille, plaudert nicht und höret, was itzund geschicht!" lauten können?

    "Tatsachen sind die wilden Bestien im intellektuellen Gelände." (Oliver Wendell Holmes, 1809-94)

  • Kann man bei Mahler oder Bruckner herumquatschen? Soll der letzte Satz aus Mahlers Neunter mit Gelaber zerstört werden? Für die Musik ab der Mitte des 18. Jahrhunderts (aber auch Bach, Händel, Vivaldi oder Telemann möchte ich ungestört genießen) sind diese im Eingangsthread postulierten Konzertformen in der Regel nicht zu gebrauchen. Ausnahmen kann es natürlich geben, aber dann muss das vorher deutlich gemacht werden, so dass der potentielle Konzertbesucher weiß, dass ihm kein ungestörter Musikgenuss bevorsteht. Ich möchte weder bei einer Beethoven-Sonate noch bei einem Hindemith-Konzert irgend etwas anderes hören als die Musik.
    Kann denn der moderne Mensch nicht mal mehr für knapp zwei Stunden das eigene, dauermitteilungssüchtige Ego ausschalten, die Klappe halten und einfach nur zuhören? Auch, weil man erkennt, dass da etwas geschaffen wurde, zu dem man selbst nicht fähig ist. Man respektiert den genialen Komponisten, man respektiert die interpretatorische Leistung und erkennt still und demütig das Können anderer an.


    Grüße
    Garaguly

  • Hallo,


    selbst bei Freiluft-Serenaden in Parks, Schlossgärten oder Burghöfen sitzen/stehen die Zuhörer vor/um dem/n Chor und lauschen still und andächtig den Madrigalen oder Chorsätzen aus Klassik und Romantik. Bei den Schlossgartenkonzerten der Mozartfestspiele in Würzburg herrscht in den Stuhlreihen vor dem Orchester Konzertruhe und wer auf den Wegen des Schlossgartens "lustwandelt" verhält sich aus eigenem Interesse still um von der Musik nichts zu verpassen.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler