Gedanken über britische Komponisten ab 1850 - und wie sie wahrgenommen werden

  • Dies ist gewissermaßen ein Ergänzungsthread zu:
    Hörenswerte Britische Symphonien des 20. Jahrhunderts
    Dort werden hörenswerte britische Sinfonien des 20. Jahrhunderts vorgestellt - und kurz besprochen
    Ich sehe darin eine ideale Startrampe für Einzelthreads von einigermaßen bekannten Komponisten, dieses Landes und dieser Zeit.
    Unser Thraed hingegen sollte sich mit einem anderen Thema befassen, welches den anderen nur unruhig und unübersichtlich machen würde, weil er - bei aller Ähnlichkeit - doch eine Themenabweichung darstellen würde.
    Die Frage die ich mir stellte (und für mich bereits innerlich beantwortet habe),ist: Warum werden die britischen Komponisten in unserem unmittelbaren Kulturkreis so gar nicht geschätzt ?? Wer hier empört widerspricht, geht an der Realität vorbei. Auch den meisten Forianern sind nur wenige bekannt, die großen Konzertführer, wie beispielsweise Harenberg (welcher eigentlich Komponisten des 20 Jahrhunderts eher überbewertet) verschweigen die Existenz der meisten.
    In England - dem Herkunftsland werden sie indes bejubelt und oft sogar geadelt. Man kann das mit Chauvinismus zu erkären versuchen - aber es muß doch mehr dahinter stecken. Die Platten mit Werken moderner englicher Komponisten werden vorzugsweise von englischen Kleinlabels produziert - und die müssen schliesslsich auf von was leben. Ein Anzeichen dafür, daß diese Aufnahmen auch verkauft werden....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Der stärkeren Wahrnehmung britischer Symphonik auf dem Kontinent stehen ausgeprägte nationale Traditionen entgegen. Als die Briten mit ihrer Symphonik (ich nehme mal nur die bekanntesten Vertreter: Elgar und später Bax, Vaughan Williams u.a.) hervortraten, waren die anderen nationalen Schulen und auch die eingewurzelten Traditionen schon zu tief in Köpfen der Menschen eingeschrieben als das noch Platz für anderes gewesen wäre. Die Franzosen und Italiener waren eh' mehr der Oper zugewandt, was sich auch sehr stark darin ausdrückt, dass bei ihnen selbst sich erst sehr spät überhaupt so etwas wie eine symphonische Tradition entwickelte. Und in dem symphonischen Raum par exellence - dem deutsch-österreichischen - , da waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch aus politisch-nationalistischen Gründen die Weichen für eine positive Aufnahme 'fremder' Symphonik quasi falsch gestellt.


    Und dann klingt diese englische Musik auch noch so ganz anders, sie hat einen völlig anderen Ton als die deutsch-österreichische Symphonik oder auch einen völlig anderen als die Musik aus dem slawischen Bereich. Aber auch in Osteuropa stand der Aufnahme der englischen Symphonik im Verlauf des 20. Jahrhunderts die politik entgegen. Ich weiß nicht, aber ob in der stalinistischen UdSSR eine Aufführung einer Bax-Symphonie nicht auch deswegen hätte scheitern können, weil es sich um Musik des Klassenfeindes handelte? Weiß jemand etwas Genaueres darüber? Gab es Aufführungen von Werken englischer Symphoniker in der Sowjetunion? Spielten sie im Musikleben der DDR eine Rolle? Hier könnten sich Politik und Hörgewohnheiten/Traditionen negativ verstärkt haben.


    Grüße
    Garaguly

  • Da dreht sich das Ganze wohl im Kreise. Die britischen Komponisten wurden im deutschsprachigen Raum - aus welchen Grunde auch immer - vernachlässigt oder unterdrückt. Man findet in deutschen Konzertführern die wenigsten (allenthalben ist noch Britten etwas besser bekannt), daher beachtet sie der deutsche Hörer auch selten, und weil er sie selten beachtet, werden sie auch wenig bzw überhaupt nicht angeboten und so bleiben sie zunächst weiter unbekannt. Auch ich muß zu meiner Schande gestehen, dass ich nur die wenigsten kenne und mehr durch Zufall auf einige gestoßen bin, die ich dann lieb gewonnen habe. Und das verdanke ich in erster Linie der Firma Naxos, die inzwischen viele Werke britischer Komponisten zum Kennenlernpreis auf den deutschen Markt gebracht hat. Dadurch ist vielleicht mancher Komponist auch hier bekannt geworden, aber der Popularitätsgrad ist leider immer noch gering. Vielleicht können wir mit diesen beiden Themen dieses oder jenes Forumsmitglied anregen, sich auch einmal mit britischen Komponisten auseinander zu setzen. Ich selbst erwarte mir, wie ich auch schon in dem anderen Thema gesagt habe, durch die Mitglieder, die in dem Thema "Hörenswerte britische Sinfonien des 20 Jahrhundert Beiträge liefern auch durch Hinweise auf den musikalischen Charakter der einzelnen Sinfonien Anregungen für meine Sammlung


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Es ist ja das Verdienst von Lutgra das Thema Britische Komponisten und ihre Sinfonien in den Vordergrund geholt zu haben - Meine Liebe dorthin ist nicht so ausgeprägt. Dennoch - die Beschäftigung damit - auch wenn ich sie manchmal als nicht ganz einfach empfinde (dazu im weiteren Laufe des Threads mehr)- hat doch meinen Horizont erweitert. ich plane -unabhängig von meinen persönlichen Vorlieben - von diversen Britischen Komponisten Einzelthreads über ihre Sinfonien, Orchesterwerke und Konzerte anzulegen (Was natürlich auch jemand anderer machen kann - mein Auge schielt hier in der Tat auf Lutgra) obwohl das vermutlich eine undankbare Aufgabe ist und die Resonanz gering sein wird. Vielleicht werden es auch Monologe. Aber irgendwo in den Weiten des Internet, werden einige darüber glücklich sein. Vielleicht bringts auch ein oder das andere Mitglied.....
    Über die eigentliche Frage des Threads werde ich mich äussern, sobald der TRhread warmgelaufen ist....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred Schmidt
    Tamino Klassikforum

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ein ganz wesentlicher Grund dieser "Ignoranz" liegt sicher darin, dass es britische Komponisten zwischen 1914 und 1945 in Deutschland schon auf Grund der "Feindschaft" mit der britischen Insel nicht leicht hatten und dass nach 1945 die serielle Schule unter der geistigen Führung von Adorno diese Musik pauschal als reaktionäre Unterhaltungsmusik diffamiert bzw überhaupt nicht zur Kenntnis genommen haben. Mit so etwas beschäftigte man sich gar nicht, das war bestenfalls Filmmusik.

  • Von Chauvinismus seitens der Deutschen/Österreicher könnte man nur dann sprechen, wenn hier statt Tschaikowski, Grieg, Debussy, Dvorák, etc... Reinecke, Goetz, Volkmann und Goldmark gespielt würden. Das ist aber nicht der Fall - im Gegenteil.
    Wann hört man denn Zemlinsky, Schreker, Pfitzner und Schmidt im Konzert? Alle heiligen Zeiten - die vorher genannten deutschen/österreichischen Komponisten praktisch überhaupt nie. Ich denke nicht, dass Bax und Vaughan-Williams bedeutender sind als Schreker, Pfitzner oder Zemlinsky - aber schon wirklich nicht! Im Gegenteil: dass wir hier überhaupt über die britischen Komponisten reden, hat nur mit der Bewunderung, die man Großbritannien allgemeinhin gegenüberbringt, zu tun. Wo ich mir wesentlich mehr Sorgen mache, ist das französische Repertoire. Hier wird das meiste, obwohl auf höchstem Niveau, praktisch nie gespielt: Fauré, Chausson, d'Indy, Chabrier, Dukas, Roussell, Honegger, etc...Hier fände ich den Vorwurf eines etwaigen Ressentiments eher berechtigt.

  • Nun wir sind hier heute ja in der glücklichen Lage, das zumindest teilweise kompensieren zu können, indem wir nicht die 10. Aufnahme einer Beethoven-, Bruckner oder Mahler-Symphonie kaufen, sondern eine 1. der zahlreichen genannten Komponisten.


    Unsere Konzertprogramme werden wir nicht ändern können, wir können nur denen fernbleiben, bei denen immer die gleichen Schlachtrösser angeboten werden (was ich tue) und in die gehen, die etwas Interessantes bieten. Da sehe ich mich hier in Stuttgart im Augenblick in einer günstigen Position mit einem neue Chefdirigenten Stephane Deneve, der das französiche Repertoire pflegt.

  • Schon klar, aber diskographisch sieht es leider auch nicht so toll aus beim deutschen Repertoire. Gäbe es cpo nicht, dann wären weite Teile der deutschen Musik des 19. Jahrhunderts nicht auf Tonträger erhältlich. Da lobe ich mir die Briten und Skandinavier, die ihre Komponisten weitgehend dokumentieren. Die Franzosen sind ähnlich träge: von Dukas' Orchesterwerken gibt es weniger als eine Handvoll Einspielungen - und das bei einem Komponisten von diesem Format. Ähnlich düster sieht es mit Faurés Orchesterwerken aus. Auch hier hilft jpc (Gouvy, Widor, etc..).

  • ich kaufe auch praktisch nur noch CDs von cpo, naxos, chandos, hyperion, bis und ondine. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel.


    Und von Paul Dukas gibt es ja auch nicht so viel, ich denke ich habe weitgehend alles (vielleicht nicht alle Klavierstücke).


    Und ich fange gerade mit der d'Indy Serie bei Chandos an, die 1. Folge ist gerade reingekommen.


    Dann können wir ja mal einen französischen thread eröffnen.

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  • Von Chauvinismus seitens der Deutschen/Österreicher könnte man nur dann sprechen, wenn hier statt Tschaikowski, Grieg, Debussy, Dvorák, etc... Reinecke, Goetz, Volkmann und Goldmark gespielt würden. Das ist aber nicht der Fall - im Gegenteil.


    Zumindest in meinem Posting spreche ich nicht von Chauvismus der heutigen Deutschen und Österreicher. Aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als etwa Vaughan Williams oder Bax ihre Hauptwerke komponierten, stand im deutsch-österreichischen Kulturraum der Zeitgeist aufgrund der politischen Gegebenheiten jener Zeit einer freundlichen Auseinandersetzung mit aktueller Musik von den britischen Inseln im Wege. Diese Zeit wäre deshalb so wichtig für eine Verbreitung gewesen, weil diese Musik zu dem damaligen Zeitpunkt neu war. Da hätte sie zünden müssen. Das war ihr ganz sicher auch aufgrund der politischen Zeitläufte verwehrt.


    Und lutgra weist völlig zurecht auf die Dominanz der Avantgarde in Westeuropa in den Nachkriegsjahrzehnten hin. Diesen totalitären Kunstdiktatoren mit ihren perfiden Verdammungsurteilen fielen ja nicht nur die hier in Rede stehenden Briten zum Opfer. Auch viele deutsche Komponisten, die noch in der Zwischenkriegszeit an der Tonalität festgehalten hatten, wurden nun mit einem Bann belegt. So mancher, der - etwa wegen einer jüdischen Abstammung - Europa im Verlauf der Nazi-Herrschaft verlassen musste, galt nach 1945 plötzlich als völlig rückständig und konnte nicht an alte Erfolge anknüpfen.


    Grüße
    Garaguly

  • Meine Erwähnung des "Chauvinismus" bezog sich auf das Eingangsposting von Alfred. Bezüglich einer größeren Verbreitung der englischen Komponisten ohne Zwischenkriegszeit und Nazizeit bin ich eher skeptisch. Meines Wissens haben sich die englischen Komponisten nirgendwo außerhalb von GB durchgesetzt - nicht einmal in den USA und den NL. Wie bereits zuvor geschrieben, denke ich nicht, dass diese Komponisten in der internationalen Elite mitspielen, die da wäre: Schönberg, Bartók, Strawinsky, Strauss, Prokofjew, Schostakowitsch, Messiaen, Debussy, Ravel. Nicht einmal Nielsen, der zwar nicht mein Fall aber sicherlich ein sehr guter Komponist ist, wird viel gespielt. Martinu detto.



    Nachtrag: Britten hatte ich in meiner Aufzählnug vergessen. Der wird ja auch außerhalb des UK oft gespielt (vor allem seine Opern). Ich denke, es besteht weithin Einigkeit, dass Britten der größte englische Komponist nach Purcell ist.

  • Zitat

    Zitat von Lutgra: Nun wir sind hier heute ja in der glücklichen Lage, das zumindest teilweise kompensieren zu können, indem wir nicht die 10. Aufnahme einer Beethoven-, Bruckner oder Mahler-Symphonie kaufen, sondern eine 1. der zahlreichen genannten Komponisten.


    Und genau so gehe ich vor. Ich habe nur ganz selten eine zweite Aufnahme eines Werkes, sondern leiste mir stattdessen viele erste Aufnahmen, um neue Werke kennen zu lernen. Und ich kauf nur soviel, wie ich in der nächsten Zeit hören kann. Keine Aufnahme wandert in den Schrank, bevor ich sie nicht mindesten einmal eventuell sogar zweimal gehört habe. Nach einiger Zeit hole ich sie mir dann wieder einmal heraus. Aber - wie schon an anderer Stelle gesagt - beides hat seine Berechtigung, das vielseitige Interesse genauso wie die Spezialisierung auf bestimmte Komponisten, von deren werken dann einige eben mehrere Ausgaben haben.


    Liebe Grüße

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Wie bereits zuvor geschrieben, denke ich nicht, dass diese Komponisten in der internationalen Elite mitspielen, die da wäre: Schönberg, Bartók, Strawinsky, Strauss, Prokofjew, Schostakowitsch, Messiaen, Debussy, Ravel. Nicht einmal Nielsen, der zwar nicht mein Fall aber sicherlich ein sehr guter Komponist ist, wird viel gespielt. Martinu detto.


    Da ist selbstverständlich etwas dran. Ich will das historisch-politische Argument auch nicht verabsolutieren. Aber ist ist eines mehreren bedenkenswerten Argumenten.


    Grüße
    Garaguly

  • Da ist selbstverständlich etwas dran. Ich will das historisch-politische Argument auch nicht verabsolutieren. Aber ist ist eines mehreren bedenkenswerten Argumenten.


    Grüße
    Garaguly


    Ich denke, dass der grundsätzlich eher pastorale Ton der englischen Musik in Kontinentaleuropa nicht allzu gut ankommt. Iin Russland sehe ich auch nach dem Zusammenbruch der SU für Vaughan-Williams und Co. schwarz, denn die Russen lieben stark emotionale Ausdrucksmusik. Die Deutschen ebenso, und die Franzosen und Italiener rümpfen bei englischer Musik sowieso die Nase.

  • Wir werden uns zwar vermutlich nicht darüber einigen können ob Schönberg zu "internationalen Elite" gehört (wenn "Beliebtheit" hier ein Kriterium ist, dann ist er das vermutlich nicht - und das gilt vermutlich auch für einige weitere, deren Namen mit Respekt genannt wird, deren Musik aber dennoch nicht geliebt wird. Anders sieht es vermutlich aus, wenn Musikexperten übe diese Musik urteilen -


    Aber prinzipiell pflichte ich bei: Englische Musik hat sich in Wahrheit nirgends durchsetzen können - außer in England. Aber ich bezweifle auch - ob die Engländer sich darob kränken. Alledings sind "internationale Elite" und "gern gehört" zwei paar Schuhe.


    Ich möchte nun ein Manko der Englischen Musik beschreiben - wie ich es empfinde: nein eigentlich sind es gleich drei - wobei nicht jedes davon von mir persönlich als solches empfunden wird.


    Da wäre das Manko Nr 1, daß diese Musik niemals als "progressiv" oder "avantgardistisch" gelten konnte - zumindest nach Maßstäben der Zeit in der sie entstanden war. Manches war selbst für englische Begriffe schon zur Zeit der Entstehung veraltet.
    Damit kann ich persönlich jedoch leben


    Manko 2 ist hier schon heikler: Die Musik zündet nicht, ob sie in England geliebt wird oder nur respektiert wird (Der Komponist wird geadelt und das wars dann schon) das kann ich nicht verifizieren. Würde die Musik "zünden" - dann wäre Manko 1 relativ unbedeutend- ja vielleicht sogar ein Plus.


    Manko 3 - Das gilt nicht für alle Komponisten - vovon ich mich allerdings erst relativ spät überzeugen konnte, nämlich daß die meisten Sinfonien trübsinnig und melancholisch, bedrohlich oder destruktiv sind - und wenn nicht - dann am ehesten unverbindlich und belanglos. Glücklicherwesie bin ich aber im Laufe meiner Rechersche auch auf Kompositionen gestioßen, die diese Theorie zwar nicht ad absurdum führen - aber immerhin ins Wanken bringen.


    Ein wirkliches Manko aber - ausser Konkurrenz - es wäre die Nr 4 - ist die Ignoranz der deutschen "Fachliteratur, welche die Auseinandersetzung mit englischen Komponisten scheinbar völlig ablehnt und als nicht existent betrachtet.


    Hier springen - wie schon beschrieben - einige spezielle Labels in die Bresche - beispielsweise Hyperion, Chandos und Toccata, welche uns die Möglichkeit bieten englisches Repertoire - ungeachtet von seinem momentanen internationalen Stellenwert - in guter Qualität zu hören.


    Über anderes "vergessenes" Repertoire werden wir ebenso versuchen Threads in Gang zu bringen. Das ist ein schwieriges Unterfangen, welches von den Initiatoren viel Geduld verlangt, denn das Interesse hält sich aus den verschiedensten Gründen in Grenzen - aber das ist schon wieder ein Thema für einen weiteren neuen Thread


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred Schmidt
    Tamino Klassikforum

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  • Schönberg gehört schon deshalb zur internationaen Elite, weil er von vielen Musikern sehr geschätzt wird. Dementsprechend gibt es viele Aufnahmen von Schönbergs Werken. Das durchschnittliche Konzertpublikum schätzt natürlich von den Dodekaphonisten höchstens Alban Berg.


    Vaughan-Williams und Elgar sind in GB äußerst populär. Immer wieder lese ich klassische Hitparaden aus dem UK mit den beliebtesten Stücken und Vaughan-Williams liegt immer sehr weit oben, oder sogar an der Spitze. Weniger mit seinen Symphonien aber mit "The Lark Ascending" und den Tallis-Variationen.

  • Ich weiß nicht, ob das Nietzsches Schuld ist, aber ich finde es bestürzend, wie verbreitet der Ansatz ist, Ressentiments, Vorturteile schon zu vermuten, bevor man überhaupt überprüft hat, ob sich vielleicht in der Sphäre des Musikalischen bzw. Ästhetischen wohlbegründete Urteile finden lassen, die erklären, warum "britische" Komponisten zwischen 1750 und ca. 1900 nicht einmal auf den britischen Inseln eine Rolle spielen, die mit den bekannteren italienischen, deutsch-österreichischen, slawischen, französischen usw. vergleichbar wäre...


    Selbst ein Schüler Stanfords und konservativer Verteidiger von Elgar oder Vaughan Williams wie D.F. Tovey war voller Hohn über die Provinzialität und Borniertheit des britischen Musiklebens Ende des 19. Jhds.


    Ich halte es auch für extrem unplausibel, dass Apologeten einer bestimmten Richtung der Avantgarde (wie Adorno) hier eine wesentliche Rolle gespielt hätten. Adornos Polemik hat die Beliebtheit von Tschaikowsky nicht eingeschränkt und die von Strawinsky nicht verhindert. Wenn Elgar, Delius, Vaughan Williams u.a. bei kontinentalen Musikern und Publikum der ersten Hälfte des 20. Jhds. auch nur ansatzweise so beliebt gewesen wären wie Tschaikowsky oder Strauss hätte das kein einzelner Musikkritiker (oder eine ganze Schule) verhindert. (Mal abgesehen davon, dass in Frankreich oder Russland Adorno u.a. kaum eine Rolle für die Musikrezeption gespielt haben dürften. Selbst in den USA war Sibelius sicher immer populärer als Elgar und mir wäre neu, dass britische Komponisten dort auch nur annähernd so intensiv gepflegt würrden (oder worden wären) wie im Mutterland.)


    Das deutsche (Groß)bürgertum war, besonders in Norddeutschland mindestens bis zu den Spannungen, die zum ersten Weltkrieg führten, begeistert vom britischen Lebensstil (kann man zB bei Fontane nachlesen). Es ist kaum vorstellbar, dass aufgrund allgemeiner kultureller Vorurteile britische Musik hätte schlechter abschneiden sollen als slawische oder französische.
    Sie schnitt aus musikalischen Gründen schlechter ab.


    Wie das in der ersten Hälfte des 20. Jhds. aussieht, müsste man gesondert betrachten. Aber auch hier habe ich den sehr deutlichen Eindruck, dass international (und weitgehend auch auf den britischen Inseln) offensichtlich war, dass die musikalisch interessantesten Entwicklungen in/um Wien, Berlin, Paris stattfanden (wenn auch nicht selten durch russische Emigranten beflügelt). Selbst die Tatsache, dass zB Elgar, Holst, Vaughan Williams u.a. in Großbritannien durchweg angesehen waren und ihre Musik gepflegt wurde, heißt ja noch nicht, dass Debussy, Stravinsky, Prokofieff, 2. Wiener Schule usw. nicht doch noch häufiger gespielt würden.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Wie gesagt, ich halte es auch für wesentlich plausibler, dass es an der Musik selbst liegt. Man braucht sich ja nur Rachmaninow anzusehen. Es gibt praktisch keinen Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts, der gleichzeitig so beliebt und so angefeindet wäre (und keineswegs nur von der "Avantgarde").


  • Und lutgra weist völlig zurecht auf die Dominanz der Avantgarde in Westeuropa in den Nachkriegsjahrzehnten hin. Diesen totalitären Kunstdiktatoren mit ihren perfiden Verdammungsurteilen fielen ja nicht nur die hier in Rede stehenden Briten zum Opfer.


    Hier bin ich sehr skeptisch.
    In den 1950ern Jahren, vermutlich bis in die 1960er dürfte Hindemith in D weitaus häufiger gespielt worden sein als die von "totalitären Kunstdiktatoren" (geht's ein bißchen kleiner?) gepushte 2. Wiener Schule oder gar die "Avantgarde".
    Ebenso waren, nach dem, was ich aus älteren Opern/Konzertführern erschließe, inzwischen deutlich in den Hintergrund geratene Komponisten präsenter. Angefangen von Pfitzner und Reger bis zu damaligen kaum avantgardistisch zu nennenden Zeitgenossen wie Egk, von Einem, Orff, Höller, Liebermann, Honegger, Frank Martin u.a.


    Zudem muss man berücksichtigen, dass wohl bis weit in die 1960er Tonträger aufgrund ihrer hohen Preise noch nicht die Rolle spielen konnten wie Konzerte und Radio. Das orchestrale Repertoire dürfte insgesamt eher kleiner gewesen sein. Selbst die heute zum fraglosen Standard gewordenen klassische Moderne wie Stravinsky, Ravel, Bartok usw. hat sich ja erst in der Nachkriegszeit so richtig etabliert. Dass da Vaughan Williams in D oder A eher hinten runtergefallen ist, wundert mich jetzt nicht so, dass ich chauvinistische Vorurteile oder Kunstdiktatoren als Ursachen vermuten müsste.


    Und wie gesagt, müsste man halt auch mal sehen, wie intensiv Vaughan Williams und Co im Land of the Free und anderswo rezipiert worden sind. Mir scheint nämlich, wie Felix Meritis schon hervorgehoben hat, der Kontrast hier gar nicht zu sein Deutschland/Österreich vs. UK, sondern eher UK vs. Rest der Welt.

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  • Auch wenn das aus naheliegenden Gründen ein verzerrtes Bild ergeben dürfte, kann man sich ja auch mal ansehen, was für Musik berühmte Dirigenten in den 1950ern-70ern (oder so) eingespielt haben. Karajan soll auf die Frage, warum er keinen Elgar dirigiere, geantwortet haben, warum er zweitklassigen Brahms dirigieren solle, wenn er gleich Brahms dirigieren könne... Das ist natürlich polemisch und die Unterschiede dieser Komponisten sind nicht gering. (Immerhin hat Karajan Werke der 2. Wiener Schule, Strawinskys, Bartoks und, wenn auch nicht viel von Honegger, Nielsen, Prokofieff, Schostakowitsch eingespielt.)


    Elgar wurde ja durchaus von einigen nichtbritischen Dirigenten eingespielt und nicht nur die Enigmas. Aber auch eher "konservative" Musiker vom Kontinent und aus den USA haben mit wenigen Ausnahmen britische Komponisten nur sehr sporadisch dirigiert.
    Wie schon angedeutet wurde, ist es freilich vielen nichtbritischen Zeitgenossen eher noch schlechter ergangen. Zemlinsksy wurde erst ab den 70ern/80ern wiederentdeckt und wie sieht (oder sah) es mit Franz Schreker, Franz Schmidt, Krenek, Bloch, Toch, Korngold u.a. aus.
    Sehr viele Komponisten (die man durchaus höher einschätzen kann als Vaughan Williams, Bax u.a.) sind hauptsächlich präsent, wenn sich einzelne berühmte Dirigenten für sie einsetzen. So zB Ansermet für Honegger, Martin, Roussel u.a.


    Man braucht keine Vorurteils- und Verschwörungstheorien, um die vergleichsweise geringe Präsenz britischer Komponisten zu erklären. Aufgrund des außerordentlichen Einsatzes britischer Musiker ist die eher höher als bei vergleichbaren nichtbritischen Komponisten. Ob der Einsatz britischer und skandinavischer Künstler und Plattenlabels ausreicht, die gefühlte "Explosion" von Aufnahmen entsprechender Komponisten zu erklären, weiß ich freilich nicht.

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  • Zitat

    Ob der Einsatz britischer und skandinavischer Künstler und Plattenlabels ausreicht, die gefühlte "Explosion" von Aufnahmen entsprechender Komponisten zu erklären, weiß ich freilich nicht.


    Scheinbar schon - denn die Gesellschaft hat sich gewandelt. Vor etlichen Jahren wäre es nur wenigen eingefallen Musik zu hören, die einem nicht gefällt. Aus meiner Sicht hat sich das - zumindest in Ansätzen - gewandelt. Man ist interessiert an fremden Kulturen und ihrem Wertesystem, und vor allem an "neuem", im Sinne von Dingen, die man noch nicht kennt. Der ästhetische Anspruch spielt dabei scheinbar eine untergeordnete Rolle. Nur so lässt sich (meiner Meinung nach) die gesamte Kunst des 20. Jahrhunderts überhaupt verstehen. Statt der federführenden Orchester der Welt werden plötzlich mit Orchestern aus Winkeln der Welt Aufnahmen gemacht, die vorsichtig gesagt nicht mit dem Begriff "Klassische Musik" in Verbindung gebracht wurden.
    Aber mich interessiert in Bezug auf unser Hauptthema vor allem, was die Briten an ihrer Musik finden. Letztlich muss ein Komponist schon Erfolg gehabt haben, der zum Ritter geschlagen wurde. Persönlich habe ich die letzten Tage die Erfahrung gemacht - daß englische Musik interessanter wird, wenn man die Hintergrundinformationen hat, die einem leider deutsch Konzertführer vorenthalten.
    Ich werde bei Gelegenheit auch -in einem eignen Thread nach den britischen Komponisten des 18. und frühen 19 Jahrhunderts Ausschau halten....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred Schmidt
    Tamino Klassikforum

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich weiß nicht. Wer schon ein paar mal in Skandinavien war, weiß, dass die Leute dort sehr "patriotisch" sind. Es besteht dort einfach das Verlangen die eigenen kulturellen Leistungen zu zelebrieren - und man gibt dafür Geld aus. Ich halte das weitgehend für positiv, solange man nicht völlig die Perspektive verliert. In Norwegen scheint man z.B. wirklich der Meinung zu sein, Grieg gehöre zu den Allergrößten. Für die Briten gilt ähnliches, da sie mental schon sehr isolationistisch sind. In Gesprächen mit britischen Wissenschaftlern merke ich des öfteren, dass sie von der Welt praktisch Null Ahnung haben, wenn es keinen Bezug zu ihrem Land gibt. In der Hinsicht unterscheiden sie sich von den Amis kaum.

  • In Norwegen scheint man z.B. wirklich der Meinung zu sein, Grieg gehöre zu den Allergrößten. Für die Briten gilt ähnliches, da sie mental schon sehr isolationistisch sind.

    Na ja, die haben ja auch keinen Bach, Beethoven, Haydn, Mozart, Wagner usw. Dann ist es doch klar, dass sie ihre bekanntesten Komponisten zu den Größten zählen. Und ich stelle mich nicht hin und sage, dass ist gegen unsere Komponisten aber alles zweitklassig. Der Reiz liegt doch gerade in der großen Vielfalt.

  • Unabhängig davon wie wie sie bewerten, werden wir sie zur Diskussion stellen und ihre Werke , bzw deren Aufnahmen vorstellen. Das momentane System scheint sich zu bewähren: In Lutgras Thread werden die wichtigsten Komponisten mit einer Sinfonie kurz vorgestellt. Wo es sich mengenmäßig und interessemäßig rentiert werden dann Einzerlthreads zu den Sinfonischen Werken des Komponisten gestartet (einige gibt es schon) - In Einzelfällen auch Threaads über einzelne wichtige Werke. Ein ähnlicher Thread, zum Thema Englische Kompinisten und Kammermusik soll in ähnlicher Weise stattfinden. Ich sähe es gerne , wenn Lutgra hier die Initiative ergriffe - das Thema liegt ihm. Allmählich wird dann der Schwerpunkt England verblassen und wieder anderem Platz machen...


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Na ja, die haben ja auch keinen Bach, Beethoven, Haydn, Mozart, Wagner usw. Dann ist es doch klar, dass sie ihre bekanntesten Komponisten zu den Größten zählen. Und ich stelle mich nicht hin und sage, dass ist gegen unsere Komponisten aber alles zweitklassig. Der Reiz liegt doch gerade in der großen Vielfalt.


    Wieso? Ich bin halber Holländer und in NL kommt niemand auf die Idee Röntgen, van Gilse und Verhulst zu den Superbrummern zu erklären. Dass Vielfalt gut ist, ist keine Frage. Ich halte auch Grieg für einen bedeutenden Komponisten, aber im Norden wird mir einfach zu oft das Fähnlein geschwungen - im wahrsten Sinne des Wortes. Mir ist wurscht, wo jemand her kommt, ich finde man sollte das möglichst objektiv betrachten. Das kleine Volk der Finnen hatte "Glück" denn sie haben einen der ganz Großen hervorgebracht, die Ukrainer hatten hingegen "Pech". In Wahrheit gehört die Musik dieser Komponisten ja der ganzen Menschheit. Der Nationalismus von Janácek oder Debussy ist aus heutiger Sicht völlig irrelevant. Natürlich kann man aber gewisse Vorlieben für Nationalstile haben. Dier britischen Komponisten, beispielsweise, haben unbezweifelt einen eigenen Ton. Wenn man den schätzt, ist es für mich schon nachvollziehbar, dass man diese Komponisten anderen, die vielleicht allgemeinhin als bedeutender gesehen werden, vorzieht.

  • Das deutsche (Groß)bürgertum war, besonders in Norddeutschland mindestens bis zu den Spannungen, die zum ersten Weltkrieg führten, begeistert vom britischen Lebensstil (kann man zB bei Fontane nachlesen). Es ist kaum vorstellbar, dass aufgrund allgemeiner kultureller Vorurteile britische Musik hätte schlechter abschneiden sollen als slawische oder französische.
    Sie schnitt aus musikalischen Gründen schlechter ab.


    Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist das definitiv richtig. Das funktionierte übrigens auch in umgekehrter Richtung. Wohlhabende Engländer urlaubten gerne auch in Deutschland (Elgar komponierte "In the Bavarian Highlands" unter dem eindruck einer Bayern-Reise). Dass das britische Herrscherhaus den deutschen Namen Sachsen-Coburg-Gotha trug, daran störte sich kaum jemand wirklich (was sich dann im Krieg änderte: Windsor).


    Aber diese wechselseitigen Freundlichkeiten endeten ziemlich plötzlich im Sommer 1914. Die propagandistische Rede vom 'perfiden Albion' hatte durchaus Durchschlagskraft in Deutschland. Und auch nach dem Ersten WK behielten diese englandfeindlichen Einstellungen zumindest in den deutschnationalen Kreisen des Bürgertums die Oberhand. Naja, und die Gesellschaft, die Fontane beschreibt, ist die der 1880er und spätestens der frühen 1890er Jahre. Ihn noch für als Kronzeugen für spätere Jahre heranzuziehen, kann problematisch werden.


    Und noch zur Nachkriegsavantgarde: Der Ton, der in Veröffentlichungen und Verlautbarungen (Kunstprogramme etc.) in Donaueschingen oder Darmstadt in den 50ern gegenüber tonaler Musik im Allgemeinen angeschlagen wird, ist schon ein herrischer. Da wird auch (nicht nur, aber eben auch) von oben herab abqualifiziert. In der politischen Verlängerung wird die Tonalität dann irgendwann sogar weiter gedeutet als Musik, die reaktionäre Herrschaftsverhältnisse stabilisieren half (latenter Faschismusverdacht!!).


    Aber grundsätzlich wollte ich diese Dinge - wie bereits deutlich machte - nie verabsolutieren. Dass die Gründe gerade auch außerhalb der politischen Sphäre zu suchen seien, habe ich ebenfalls bereits angemerkt.


    Grüße
    Garaguly

  • Ich glaube, dass oft die internationale Bedeutung von Vaughan-Williams unterschätzt wird. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass gar nicht wenige Stücke der letzten Jahrzehnte stark nach Strawinskys Feuervogel oder nach Vaughan-Williams klingen. Das spielt sich nicht im deutschen Sprachraum ab und wird hier natürlich als vorgestrig abqualifiziert. Allerdings existiert es.
    :D

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