Ich habe meiner Harnoncourt-Einspielung inzwischen eine weitere hinzufügen können, die allerdings nicht im Handel erhältlich ist:
IL RITORNO D'ULISSE IN PATRIA
In italienischer Sprache - Bearbeitung von Erich Kraack (1958)
Live-Aufnahme aus dem Funkhaus des NDR Hannover (1967), 2 CDs
Heinz Hoppe (Tenor) Ulisse
Anna Reynolds (Mezzosopran) Penelope
Theo Altmeyer (Tenor) Telemach, Eurimacos (Das Glück im Prolog)
Elizabeth Harwood (Sopran) Melantho, Pallas Athene (Die Liebe im Prolog)
Birgit Finnilä (Alt) Ericleia (Die menschliche Schwachheit im Prolog)
Peter Lagger (Bass) Antinoos, Poseidon, (Die Zeit im Prolog)
Hans-Otto Kloose (Bariton) Pisandros, Eumaios
Naan Pöld (Tenor) Anfinomos
Alber Weikenmeier (Tenor) Iros
Wolfgang Büttner (Sprecher)
Rundfunkorchester Hannover des NDR
Musikalische Leitung Hans Georg Ratjen
Puristen werden bei dieser NDR-Produktion von 1967 die Nase rümpfen und die Augenbrauen hochziehen, von HIP ist bei Kraack natürlich keine Spur! Allerdings war die Historische Aufführungspraxis damals nur wenigen Eingeweihten ein Begriff, steckte noch im Entwicklungsstadium.
Der Abendroth-Schüler Erich Kraack definierte seine Arbeit folgendermaßen:
„Ich habe mich in meiner Instrumentierung um eine gewisse Distanzierung vom üblichen Orchesterklang bemüht. Die heute nicht mehr gebräuchlichen Instrumente lasse ich unberücksichtigt. Dem Streicherensemble gebe ich den Hauptauftrag (…) Die Buntheit des Renaissance-Orchesters, das weithin auch von zufälligen Gegebenheiten abhing, und in dem der Kapellmeister weitgehende volle Arrangierfreiheit hatte, habe ich mit Blockflöten, Trompeten, Flügelhörnern, Englischhorn (für Zinken und Schalmeien), Posaunen und Pauken anzugleichen versucht, ohne damit antike Imitationen zu beabsichtigen. Die Zupfinstrumente, Cembalo und Harfe, müssen unausweichlich obligat bleiben - nicht nur wegen der Klangfarbe, sondern weil das improvisatorische Begleitelement von ihnen abhängt. Es sei aber hier vermerkt, dass die Spieler an diesen Fundament-Instrumenten ihre Continuo-Begleitung auch improvisatorisch entstehen lassen, dass sie in meiner Bearbeitung lediglich nach der von Monteverdi überlieferten Bassstimme und der Gesangslinie ihren Part Extempore spielen, ohne also eine von mir ausgearbeitete Stimme zu benutzen.“
Der damaligen Rundfunksendung ging eine Einführung voraus, in der es (auszugsweise zitiert) heißt: „Der nicht eingeweihte Hörer muss wissen, dass von einer Partitur Monteverdis nicht die Rede sein kann, dass uns nur die notdürftig, ohne Bezifferung oder Instrumenten-Angaben, aufgezeichnete Bassstimme als Begleitung der Gesangsstimme überliefert ist. Gerade in den Spätwerken Monteverdis fehlen noch mehr Anhaltspunkte als im „Orfeo“. Dagegen finden sich dynamische Zeichen und Vorschriften für den Vortrag häufiger. Jedenfalls fällt dem Bearbeiter und Klangregisseur ein wesentlicher und großer Teil der Arbeit zu, die man gemeinhin als Komposition bezeichnet. Vergessen dürfen wir nicht, dass die Welt Monteverdis, die Menschen, Kirchen, Paläste, Künstler, die Malerei der Renaissance, eine gänzlich andere ist, als beispielsweise die Johann Sebastian Bachs. Dass man also auch die in solch weit voneinander geschiedenen Welten geborenen Musikwerke nicht mit einem ideologischen Sammel-Begriff „Alte Musik“ etikettieren kann, um sie mit den gleichen Praktiken zu interpretieren (…) In der musikalischen Kunst vor allem, muss die lebendige Beziehung zu den großen Werken der Vergangenheit immer wieder durch ständige Bemühung jeder Generation neu und gewandelt zu erhalten versucht werden, damit die Musik ihre regeneratorische Kraft behält.“
Das alles berücksichtigt, ist die Kraack-Bearbeitung durchaus ein Ereignis - vor allem, wenn man sich dabei das beeindruckende Solistenensemble ansieht und -hört. Und das ist ohne Ausnahme fähig, große (alte) Oper lebendig werden zu lassen. Das fehlende Libretto fällt zunächst nicht ins Gewicht, denn der großartige Schauspieler Wolfgang Büttner rezitiert den Handlungsverlauf mit seiner eindringlichen Stimme aus dem Original-Text von Giacomo Badoaro. Schwierig ist es da schon eher, die häufig eingesetzten Tenöre zu unterscheiden, wenn man die Stimmen nicht mehr im Ohr hat. Ich beispielsweise habe keine Probleme, den Ulisse von Heinz Hoppe zu erkennen, muss aber bei den übrigen Tenören passen, weil ich nicht weiß, welche Rolle gerade Einsatz hat. Eine weitere CD, die einen Zusammenschnitt mit dem Tenor Theo Altmeyer als Telemach, Eurimacos und das Glück (im Prolog) enthält, bietet mir immerhin die Möglichkeit, diesen großartigen Sänger (den ich bisher nur als Oratoriensänger bewunderte) auch einmal als Opernsänger zu hören.
Beeindruckend für mich aber der Bassist Peter Lagger, der mir bisher unbekannt war, der hier einen großartigen Poseidon und einen verschlagenen Antinoos (einen der Bewerber um die Hand Penelopes) gibt. Stark in ihrer stimmlichen Präsenz sind für mich Anna Reynolds als Penelope, Elizabeth Harwood (in verschiedenen Rollen) und Birgit Finnilä (ebenfalls verschiedene Rollen übernehmend).
Über den Dirigenten dieser Aufnahme, Hans Georg Ratjen, mir bislang unbekannt, fand ich einen ZEIT-Artikel aus April 1962, in dem die Bemühungen der Wuppertaler Oper um das Werk Monteverdis (in den Bearbeitungen von Erich Kraack, einem Schüler des Dirigenten Hermann Abendroth) gewürdigt werden. Das damals in Wuppertal tätige Team wird mit Hans Georg Ratjen und Hans Drewanz (Dirigenten), Georg Reinhardt (Regie), Erich Walter (Choreographie) und Heinrich Wendel (Bühnenbilder) angegeben. Alle hier genannten Künstler waren später unter der Intendanz von Grischa Barfuss an der Rheinoper in Düsseldorf/Duisburg tätig. Außerdem bestätigte damals der Musikkritiker der „Stuttgarter Zeitung“ (Horst Koegler), dass die Wuppertaler Monteverdi-Aufführungen „erfreuliche Erkenntnisse“ und einen „ganz erstaunlichen Qualitätszuwachs“ durch eine „dramatisch-theatralische Überzeugungskraft, wie man sie (…) keineswegs für möglich gehalten hätte“, erbrachten.
Vielleicht gibt es Forenmitglieder, die hier ihre „Ulisse“-Aufnahmen besprechen möchten?