Mahlers Zehnte - Cooke und Barshai

  • Moin!


    Mahlers zehnte Symphonie kannte ich lange Zeit nur in einer Fassung von Deryl Cooke. Diese hat mich nie sonderlich begeistert, obwohl Cooke für die "Aufführungsversion" dicht am Notentext der hinterlassenen Skizzen von Mahler gearbeitet hat. Auch die Witwe von Mahler hat diese "Version" anerkannt (nicht jedoch die Mahler-Gesellschaft), und sollte daher eigentlich eine "richtige" Version sein.


    Nun habe ich vor wenigen Tagen die Gelegenheit gehabt, die Zehnte in der rekonstruierten Version von Barshai zu hören. Obwohl sie sich mir auch nícht so ohne weiteres erschliesst (das 20. Jahrhundert ist hier deutlich zu hören), hat sie mich wesentlich mehr angesprochen als die Cooke-Version.


    Nun hat Barshai sich zwar auch am Notentext der Skizzen orientiert, aber wesentlich mehr aus eigener Feder "hinzugefügt". Meiner Ansicht nach versuchte er das Idiom der Tonsprache des späten Mahlers zu treffen, aber es ist wohl doch irgendwie ein Barshai - also "unrichtiger" als die Cooke-Version.


    Was meint ihr dazu? Barshai ansprechender, aber nicht Mahler - Cooke spröder, aber echter Mahler?


    Gruss,


    Hendrik

  • Hallo,


    Nur ein paar allgemeine Betrachtungen.


    Die 10. Mahler ist ja nicht das einzige Werk, das uns unvollendet überliefert wurde.


    Rekonstruktionen und Ergänzungen bergen immer Konfliktpotential, und natürlich ist es klar, daß ein "Original" das es nicht gegeben hat, auch nicht rekonstruiert werden kann.


    Wir wissen nicht einmal ob Mahler eine Endfassung schon im Kopf hatte, und selbst wenn, inwieweit er sie ausgeführt hätte. Das gilt übrigens für alle unvollendeten Werke. Dank Dir habe ich mich ein wenig mit Puccini befasst, bzw mit Turandot, die ja auch unvollendet blieb, daß Puccini mit den Ideen für das Finale, wie er es im Kopf hatte , nicht zufrieden war, es wurde also nicht ein gehabter Gedanke nicht rekonstruiert, sondern der Einfall war noch gar nicht da.


    Was tun mit solchen Werken ?
    Puristen meinen, das beste wäre, sie zu vergessen.
    Ich finde das ist schade.
    Sinn jeder Komplettierung sollte IMO sein, das Werk als geschlossenes Ganzes aufführbar zu machen, ohne allzu große Stilbrüche.


    Das ist umso anstrebenswerter, desto mehr verwertbares Material zur Verfügung steht. Wenn dabei etwas völlig anderes rauskommt- na wenn schon. (solange es gut ist) Man sollte jedoch, was ja hier auch geschieht, die Ergänzung dokumentieren.


    Wahrscheinlich werden mehrere Fassungen ihren Platz in der Musikgeschichte finden, aber schlußendlich wird sich wahrscheinlich eine durchsetzen.


    Gruß aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo JoeBrösel,


    Ohne den endgültigen Aussagen anderer Forianer vorgreifen zu wollen, das glaube ich eher nicht, siehe Text:


    Zitat

    Während Hans Wollschläger 1962 die Arbeit an der Zehnten aufgegeben hatte – er hält ein solches Unternehmen heute für "Größenwahn" –, erstellte Wheeler noch eine vierte Version, die 1966 in New York unter dem rumänischen Dirigenten und Komponisten Ionel Perlea erstmals gegeben wurde. Auch Cooke revidierte weiter. Seine zweite Version, die heute im Druck vorliegt und fast überall als die "Zehnte Mahler" gilt, wurde 1972 in London unter Wyn Morris aufgeführt und für die Platte eingespielt


    Es ist sonst nicht meine Art auf andere Internetseiten hinzuweisen, mann nimmt ja dem eigenen Forum jede Existenzgrundlage :yes:,
    aber in Anbertracht der doch sehr komplexen , aber interessanten Materie, die nur wirklichen Spezialisten Satisfaction gibt:


    http://www.musikmph.de/rare_mu…on/m_r/mahler/2.html?nr=2


    Hier finden sich exakte Angaben zu den unterschiedlichen Versionen Mahlers 10. aller ihrer Bearbeiter, ihrer Entstehungsgeschichte und Hinweise auf entsprechende Aufnahmen davon.


    Sollte meine Recherche genaueres ergeben, werde ich mich nochmals zu dem Thema melden.


    Gruß aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !




  • Kann mir jemand etwas über die Qualität dieser Aufnahme sagen? Und sie evtl. sogar mit der Einspielung von Rattle mit den Berlinern vergleichen?

    Herzliche Grüße
    Uranus

  • Ormandy hat die erste Cooke-Version eingespielt. Sie ist in zahlreichen Facetten schwächer als die Letzte, die Rattle verwendet und die auch bei Faber & Faber als Partitur vorliegt.
    Ormandy ist IMO nicht unbedingt ein begnadeter Mahler-Interpret, was man dem ersten in extrem geglätteter Schönheit wiedergegebenen Satz anmerkt. Insoferne ist Rattle sicherlich vorzuziehen.

    ...

  • Hallo Edwin,
    habe ich mir fast gedacht, dass Ormandy (den ich bei anderer Musik durchaus schätze) und Mahler irgendwie nicht zusammenpassen.
    Danke für den Hinweis!

    Herzliche Grüße
    Uranus

  • Hindemith hat in seiner Prager Rede auf Gustav Mahler folgendes
    zur 10. Sinfonie gesagt:


    "Was seine Zehnte, zu der, wie auch bei Beethoven, Skizzen vorliegen, sagen sollte, dass werden wir so wenig erfahren wie bei Beethoven und Bruckner.
    Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muss fort. Es sieht aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden könnte, was wir noch nicht wissen sollen, wofür wir noch nicht reif sind. Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe. Vielleicht wären die Rätsel dieser Welt gelöst, wenn einer von denen, die sie wissen, die Zehnte schriebe. Und das soll wohl nicht so sein.
    Wir sollen noch weiter in einem Dunkel bleiben, das nur gelegentlich durch das Licht der Genies erleuchtet wird. Wir sollen noch weiter kämpfen und ringen, sehnen und wünschen."


    Diese Rede wurde am 25. März 1912 gehalten. Und irgendwie möchte ich - auch angesichts der Rekonstruklionsversuche jedenfalls zu dieser Sinfonie - dieser Äußerung noch heute zustimmen. Die Rekonstruktionen der 10. kann man anhören. Das wirkliche Gefühl, es handele sich um authentische Musik Gustav Mahlers, stellt sich jedenfalls bei mir nicht ein.



    Mit besten Grüßen


    Matthias


    P.S.:


    Die Rede Schönbergs ist ein erstrangiges Dokument. Inhaltlich und sprachlich ein Kunstwerk. Es gibt sie gerade für wenige Euros bei 2**1.

    Tobe Welt, und springe,
    Ich steh hier und singe.

  • Hallo Matthias!

    Zitat

    Hindemith hat in seiner Prager Rede auf Gustav Mahler folgendes


    Ich glaube, es war Schönberg, der das sagte - Du erwähnst ihn auch im P.S.


    LG

    ...

  • Zitat


    Die Rede Schönbergs ist ein erstrangiges Dokument. Inhaltlich und sprachlich ein Kunstwerk. Es gibt sie gerade für wenige Euros bei 2**1.


    Vielen Dank für den Tipp, ich habe sofort zugeschlagen!

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  • @Edwin


    Ja - Schreibfehler oben im Eingang meines Beitrags:


    Die Rede hat selbstverständlich S c h ö n b e r g gehalten.

    Tobe Welt, und springe,
    Ich steh hier und singe.

  • Liebe Forianer:
    hat zufällig jemand die Aufnahme der Cooke-Fassung unter Wyn Morris (Philharmonia Orchestra; urspr. bei Phillips) auf CD und könnte mir eine private Audio-CD-Kopie ziehen? Dafür wäre ich sehr dankbar!
    Liebe Grüße
    Ben

  • Hallo Ben,
    leider hab ich nur die LPs,
    es gab da mal die CD aber nicht auf Philips.
    War es Nimbus, Carlton oder eine andere englische Firma?
    Scribendum hatte die CD auch im Programm.


    Wunderhornlieder mit Morris sind jedenfalls auf Nimbus erschienen,
    grauenhafter Klang :(


    Gruß
    embe

  • Es ist ja wirklich verwunderlich, dass dieser Thread zur letzten Mahler-Sinfonie so wenig Resonanz über die Jahre gezeigt hat ?
    Ich möchte klar in Frage stellen, dass dieses Werk keinen interessiert. das kann definitiv nicht der Fall sein.



    Durch den Beitrag von Thomas Knöchel im HiFi-Teil bei Tamino (er hatte klangliche bedenken bei der 4 u.a.) habe ich dankenswerterweise den Anstoß erhalten, wiedereinmal nach langer Zeit die Mahler - Chailly - GA herauszuholen.
    *** Die Decca-Aufnahmen von 1988 bis 2004 gehören zu den klanglich ausgewogensten und besten, ja audiophilen Aufnahmen der Mahler - Sinfonien.
    :yes: Davon habe ich mich heute wiedereinmal überzeugt indem ich Mahlers Sinfonie Nr.4 und 10 gehört habe.


    Eigendlich liegt mir Chailly von der Interpretation nicht bei allen Mahler-Sinfonien, da er mir oftmals zu süßlich erscheint; da vermisse ich bei ihm die Emotionalität eines Bernstein und die Durchsetzungskraft eines Solti !
    Zu der Sinfone Nr.4 paßt sein Interpretationsansatz wunderbar, da in diesem Werk ohnehin nicht "so viel los ist".



    **** Ganz extreem hervorragend empfinde ich aber Chailly´s Interpretation der Sinfonie Nr.10 in der Deryck Cooke-Fassung.
    Die Sinfonie Nr.10 ist als einziges Werk in dieser GA mit dem hervoragenden RSO Berlin (Decca, 1988, DDD) eingespielt.


    Ich kenne auch nur die Cooke-Fassung in den Aufnahmen mit Ormandy (CBS), Rattle (EMI).
    Chailly ist den Vorgenannten IMO weit überlegen und das nicht nur von der fabelhaften Interpretion, sondern auch in der klanglich vollendeten Hinsicht.
    In der Vergangenheit kam zu Chailly und Mahler das Zitat "weder Fisch noch Fleisch" (von Thomas N.) ins Spiel, dem ich soweit zustimmen kann.
    Aber das gilt nicht für die herausragende Aufnahme der Sinfonie Nr.10.



    :hello: Ich möchte daher auch gleich die Frage an alle Mahler - Fans richten, wie Ihr die Chailly-Aufnahme bewertet ?



    Decca, 1988-2004, DDD

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Zitat

    Original von teleton
    Es ist ja wirklich verwunderlich, dass dieser Thread zur letzten Mahler-Sinfonie so wenig Resonanz über die Jahre gezeigt hat ?
    Ich möchte klar in Frage stellen, dass dieses Werk keinen interessiert. das kann definitiv nicht der Fall sein.


    Ist es auch nicht, denn es gibt einen weiteren Thread zu Mahlers X. Sinfonie:


    Gustav Mahler: Symphonie Nr. 10


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Hallo Ulli,


    Danke für den Hinweis auf den anderen Mahler 10 - Thread; da hätte mein Beitrag natürlich auch hingepasst.
    Mein Beitrag dort aus dem Jahre 2008 zeigt, dass ich bis dahin noch nicht erkannt hatte, wie außergewöhnlich die Chailly-Aufnahme der Sinfonie Nr.10 in jeder Hinsicht ist.


    Den Anstoß für mein neues Interesse an der Chailly-Decca-GA hatte ja ThomasKnöchel gegeben, der klangliche Bedenken geäußert hatte, die mir wirklich schleierhaft sind, weil es sich bei den Aufnahmen vorbildliche Aufnahmetechnik handelt.


    :hello: Mich hätte aber auch von Dir interessiert, welche Aufnahme(n) Du von der von Dir hochgeschätzeten Sinfonie Nr.10 favorisierst und wie Du und alle Anderen die Chailly-Aufnahme (Decca) einschätzen ?

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Zitat

    Original von teleton
    Danke für den Hinweis auf den anderen Mahler 10 - Thread; da hätte mein Beitrag natürlich auch hingepasst.


    So, wie mein folgender wohl auch eher dort zu placieren wäre:


    Zitat

    Mich hätte aber auch von Dir interessiert, welche Aufnahme(n) Du von der von Dir hochgeschätzeten Sinfonie Nr.10 favorisierst und wie Du und alle Anderen die Chailly-Aufnahme (Decca) einschätzen ?


    Denn: Die Chailly-Aufnahme kenne ich leider nicht. Ich besitze seit Urzeiten die Einspielung von Raphael Kubelik, mit welcher ich (seltsam, in Anbetracht der Tatsache, daß ich bei anderen Komponisten und deren Werken meist mehrere Einspielungen besitze) seither hochzufrieden bin.


    Aus Interesse an den anderen vier Sätzen der Fragment gebliebenen Sinfonie habe ich mir dann irgendwann vor zwei Jahren etwa die Komplettierung in der Interpretation von Noseda zugelegt. Der erste Satz ist hier vergleichsweise gut eingespielt, stellenweise etwas träger (zu Beginn), im Ergebnis geben sich die beiden von der Länge her die Klinke in die Hand: Kubelik: 23:56, Noseda 23:59.


    Mir fiel allerdings eine Abweichung (von vermutlich mehreren) im hörbaren Notentext auf: Bei Noseda klingt meine Lieblingspassage (beginnend ab 17:10) bei 17:24 völlig anders (verdurt würde ich unfachmännisch mal sagen). Die entsprechende Stelle ist bei Kubelik viel düsterer bei ca. 17:03. Bei Noseda klingen hier sehr deutlich durspielende Trompeten hervor. Das muß wohl ein Unterschied in den Rekonstruktionen sein. Leider habe ich das Booklet der Kubelik-Ausgabe verloren, so daß ich nicht weiß, welcher 'Fassung' Kubelik folgt. Soweit ich mich erinnere, war aber der erste Satz doch von Mahler vollkommen vollendet, weshalb mich dieser Unterschied doch eher wundert... die von Kubelik verwendete 'Fassung' gefällt mir hier wegen ihrer Düsternis (und wohl aus Gewohnheit) besser.


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)