Dieser Thread versteht sich als Fortführung und Erweiterung des Threads „Wodurch ist Schuberts Ausnahmerang als Liedkomponist begründet?“. Fortführung insofern, als er wie dieser der Frage nach der spezifischen Eigenart der Liedsprache Schuberts nachgeht, - nun aber mit einem thematischen Schwerpunkt: Den Goethe-Liedern Schuberts, also seiner kompositorischen Auseinandersetzung mit dessen Lyrik. Allein die schiere Anzahl der hierbei rein potentiell anstehenden Lieder und der mit der analytischen Betrachtung derselben aufgeworfenen Fragen lässt es – selbst wenn man sich, was unvermeidlich sein dürfte, auf eine Auswahl beschränkt – sinnvoll erscheinen, einen eigenständigen Thread zu starten und nicht in dem schon vorliegenden fortzufahren. Dieser müsste zwangsläufig überborden und unübersichtlich werden. Es versteht sich freilich, dass all das, was unter dieser Fragestellung dort schon ausgeführt wurde, hier eine angemessene Berücksichtigung findet und – nicht immer explizit – in die einschlägige Reflexion einbezogen wird.
Der Konzentration und Beschränkung auf Goethe als Textautor liegt folgende, durch die historische Faktenlage gut begründete These zugrunde: In der Begegnung mit der Lyrik Goethes fand Schubert als Liedkomponist zu sich selbst. Sie war der gleichsam zündende Funke zur Entwicklung der für ihn so typischen und ihn liedhistorisch auszeichnenden Liedsprache. Alles, was Schubert vor „Gretchen am Spinnrade“ an Liedern komponierte, erscheint aus der Retrospektive wie ein langer (Um-)Weg zu dieser Selbstfindung, - vor allem die Vertonungen von Schillers umfänglichen balladenhaften Gedankenkonstrukten, aber auch jene der Lyrik Matthissons. Wobei es eigentlich kurios ist, angesichts der drei Jahre hin zu einem Siebzehnjährigen das Adjektiv „lang“ in den Mund zu nehmen.
Um die der Fragestellung dieses Threads zugrundliegende These zu fachlich abzusichern und auf solide Füße zu stellen, seien ein Schubert-Zeitgenosse und –Freund und zwei kompetente Schubert-Kenner aus heutiger Zeit bemüht.
Eduard von Bauernfeld kommentiert Schuberts-Liedschaffen wie folgt:
„Vorzüglich (waren) es Goethes Gedichte, welche die frische, jugendliche, noch ganz unbefangene Seele Schuberts wie Feuerfunken befielen, aber auch darin etwas antrafen, was Feuer fing“. (Besser kann man das eigentlich gar nicht sagen).
Thrasybulos G. Georgiades stellt fest:
„>Gretchen am Spinnrade< ist Schuberts erstes Goethe-Lied. Vor diesem begegnete uns der reine Schubert-Ton nur in >Andenken< (Matthisson), das aber weder an Gehalt noch an Ausstrahlungskraft mit der uns unwiderstehlich mitreißenden Vertonung des >Gretchen< verglichen werden kann. Erst an diesem Text hat sich Schuberts Schaffen entzündet. Goethe hat Schuberts Liedkraft geweckt, durch Goethe hat er erfahren, was >Lied< ist, Lied als eine Dichtungsgattung: ein durch Singen mitzuteilendes, >musikables< Gedicht.“ (Schubert, Musik und Lyrik. Göttingen 1967). Nebenbei: In dieser Äußerung verbirgt sich das Grundverständnis des Thr. Georgiades hinsichtlich der Eigenart von Schuberts Liedkomposition, auf die später noch einzugehen sein wird.
Und D. Fischer-Dieskau merkt an:
„Kein zweiter wirkte so anregend auf die kreative Phantasie des Musikers wie Goethe. Alles, was Schubert zum Klingen bringen wollte, Klarheit der Gedanken, Ausdruckseindeutigkeit, tiefe Empfindungskraft, bildhafte Sprache, all das fand er in Goethe-Gedichten vor. Der Einheit von Kunst und Natur, wie sie seinem Wesen entsprach, begegnete er hier.“ (Franz Schubert und seine Lieder, 1999).
In den Jahren 1814 bis 1816, nach jener wie eine Initialzündung wirkenden Begegnung mit „Gretchen am Spinnrade, entstanden vierzig weitere Lieder auf Gedichte von Goethe. Später kamen noch etwa dreißig hinzu, so dass man auf die Zahl von siebzig Goethe-Vertonungen kommt. Die Mehrfach-Vertonungen von zehn Gedichten sind dabei nicht mitgezählt, aber sie sind ein schöner Beleg für die kompositorische Intensität der Auseinandersetzung Schuberts mit Goethe, und deshalb wird bei Gelegenheit darauf einzugehen sein.
Es kann wohl nicht sinnvoll und auch nicht machbar sein, alle Goethe-Lieder hier einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Es bietet sich an, eine Auswahl zu treffen, wobei das leitende Prinzip dabei die Ergiebigkeit und Repräsentativität unter dem Aspekt der Fragestellung des Threads sein wird. Die Chronologie muss dabei eigentlich ebenfalls als Leitprinzip eine Rolle spielen, weil es sich ja bei der Ausbildung von Schuberts Liedsprache in der Auseinandersetzung mit Goethe Lyrik um einen historischen Prozess handelt, - der freilich – wie für Schubert typisch – keineswegs linear verlief.
Derjenige, der diese Sache hier in Angriff nimmt, wünscht sich natürlich nichts mehr, als dass er dabei nicht allein bleibt und kräftige Unterstützung, Hilfe, Anregung und kritische Korrektur erfährt, - in welcher Form und Gestalt auch immer. Vielleicht bleibt dieser Wunsch ja kein vergeblicher und leerer. Und der Name Schubert weckt diesbezüglich natürlich auch Hoffnung.