Schumann, Robert: Gesänge der Frühe, op. 133

  • Hallo, Freunde der deutschen Romantik,


    die „Gesänge der Frühe“ versprechen beides: Schumann und Hölderlin. Und – sie leiten über zu Bruckner (besonders das 3. und 5. Stück). Auch wenn ich die abschließende Schlussfolgerung nicht mehr teilen kann, sei aus der schönen Schumann-Seite auf der Homepage des Pianisten Franz Vorraber zitiert:


    „Die Gesänge der Frühe haben eine ganz eigene Färbung. Getreu Schumanns Motto, das in jeder Musik ein bißchen Frühling sein sollte, spürt man in seinem letzten veröffentlichtem Werk, das Herannahen des Morgens, die rufende Quint, die Hoffnung auf Licht, eine Harmonik, die eine Schlußwirkung oft ausspart erinnernd an Brucknersche Choräle, eine Verwandtschaft zu Beethovens letzter Sonate op.111 in den Trillerfiguren des letzten Stückes. Sein Lebenswerk ist vollbracht. Diese befreiende Ruhe machen die Gesänge der Frühe zu einem außergewöhnlichen Zeugnis seines Wirkens gegenüber seinem Schicksal. “



    Anfang des 1. Stücks mit dem Kernmotiv Diotima - Hyperion


    Entstehung, Widmung an Bettina von Arnim


    "Diotima, Gesänge der Frühe" ist wie das Violinkonzert bereits 1849-50 im Projektenbuch aufgeführt. Schumann schrieb das Stück vom 15. - 18. Okt. 1853, also unmittelbar unter dem Eindruck des ersten Besuchs von Brahms. Das hat zu ausführlichen Analysen möglicher Einflüsse geführt, so im Nachwort zur Herausgabe des Urtextes (Link )


    Clara Schumann schrieb am 18.10.1853 in ihr Tagebuch: "Robert hat 5 Frühgesänge komponiert, - ganz originelle Stücke wieder, aber schwer aufzufassen, es ist so eine ganz eigne Stimmung darin."


    Ende Oktober 1853 besuchte Bettina von Arnim mit ihrer Tochter Gisela die Schumanns, als Joachim dort war. Joachim war mit Gisela befreundet, und Schumann beglückwünschte ihn bald - missverstehend – zur Verlobung. Umgekehrt wird Bettina deutlich gesehen haben, was dort geschah. Brahms war auch noch in Düsseldorf. Schumann änderte die unbestimmte Widmung an Diotima, womit idealisierend Clara gemeint sein konnte, "an die hohe Dichterin Bettina".


    Bettina von Arnim hatte Jahrzehnte früher Gedichte von Hölderlin vertont und ihn in seinem Turm in Tübingen besucht. Es muss für sie ein Schock gewesen sein, dann wenig später im Mai 1855 Schumann in einem Irrenhaus zu besuchen - und nach ihrem Eindruck gesund vorzufinden.


    Brahms und Joachim wussten nicht, wer mit Diotima gemeint war. Da Joachim kurz darauf eine Hyperion-Sinfonie komponieren wollte, hat Hölderlin offenbar den Roman von Hölderlin als Quelle genannt. Aber auch die Gedichte an Diotima können gemeint sind. Dessen letzte Version beginnt „Du schweigst und duldest, denn sie verstehn dich nicht“, endet aber hoffnungsfroh.


    Die Veröffentlichung war ihm wichtiger als bei anderen Werken. Er hatte bereits am 17. Feb. 1854 die Eingebung des choral-artigen Engels-Themas gehabt, aus dem dann die Geister-Variationen entstanden, als er am 24. Feb. 1854 wenige Tage vor seinem Selbstmordversuch in einem Brief seinem Verleger schrieb: „Ich möchte die Fughetten [op. 126] wegen ihres meist melancholischen Charakters nicht erscheinen lassen und biete Ihnen ein Anderes, vor Kurzem beendigtes Werk: ‚Gesänge der Frühe’. ... Es sind Musikstücke, die die Empfindungen beim Herannahen und Wachsen des Morgens schildern, aber mehr aus Gefühlsausdruck als Malerei."


    Hier nimmt er deutlich auf Beethovens "Pastorale" Bezug, ihrem "Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande" (Überschrift des 1. Satzes) und ihrer Kennzeichnung "Mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey".


    An diese Stücke war die Hoffnung auf einen Ausweg aus seiner tiefen persönlichen Krise gebunden. Als Nachweis der Nähe des Wahnsinns wurde später vor allem der melancholische Charakter der Werke von 1853 genannt. Aber gerade davon wollte er sich lösen. Mit der Frühe ist sicher auch die eigene Frühe gemeint, die Jugendzeit, als er zum erstenmal Hölderlin las und voller Ideale war. Ihm kamen immer mehr Zweifel, ob Clara das hielt, was er als Ideal in ihr zu sehen wünschte.


    „O trinke Morgenlüfte“


    „Empfindungen beim Herannahen und Wachsen des Morgens“ trifft eher die Sprache von Hölderlin als der Titel „Gesänge der Frühe“. Dieser bezieht sich vielmehr auf dessen „Nachtgesänge“, die Schumann sicher kannte. Mit den „Nachtgesängen“ hatte Hölderlin eine kleine Auswahl seiner Gedichte veröffentlicht, und Schumann möchte dies – so verstehe ich ihn – fortführen, indem er eine andere Seite in den Gedichten Hölderlins aufgreift, die nicht in den Nachtgesängen enthalten sind.


    „O trinke Morgenlüfte“ ist eine Zeile aus „Germanien“. Hölderlin entwirft eine völlig anderes Bild der Germania, als es dann im 19. Jahrhundert populär wurde. Sie ist „im Wald verstekt und blühendem Mohn voll süßen Schlummers“. Hölderlin wünscht ihr, dass sie die Morgenlüfte trinkend offen wird, das Ungesprochene so zu umschreiben, dass es nicht länger Geheimnis bleibt. – Hier möchte ich nur anregen, diese Gedichte zu lesen.


    Wenige Jahre vorher hatte Hölderlin ein Gedicht „Deutscher Gesang“ entworfen.


    Wenn der Morgen trunken begeisternd heraufgeht
    Und der Vogel sein Lied beginnt,
    und Stralen der Strom wirft, und rascher hinab
    die rauhe Bahn geht über den Fels,
    weil ihn die Sonne gewärmet
    ...
    Dann sitzt im tiefen Schatten,
    wenn über dem Haupt die Ulme säuselt,
    am kühlathmenden Bache der deutsche Dichter
    und singt, wenn er des heiligen nüchternen Wassers
    genug getrunken, fernhin lauschend in die Stille.


    Ich glaube, dass dies sehr gut Schumanns Selbstverständnis beschreibt. - Aus den vorhandenen Aufnahmen habe ich mir die mit Andras Schiff ausgesucht, weil ich mir gut vorstellen konnte, dass ein Pianist mit Bartok-Erfahrung den Klang Schumanns treffen kann. Das war keine Enttäuschung.


    Viele Grüße,
    Walter

  • hallo,


    ich habe die 'gesänge der frühe' in einer aktuellen interpretation durch maurizio pollini (gekoppelt mit der kreisleriana). ich kenne sie damit erst seit gut 2 jahren. ich gebe zu, dass ich sie erst nach mehrmaligem hören 'gespeichert' habe. sie sind sehr karg und meditativ in ihrer formalen und klanglichen aussage. sie unterscheiden sich in ihrer sprache deutlich von früheren werken.



    gruß, siamak

    Siamak

  • Kennengelernt habe ich die "Gesänge der Frühe" in der Interpretation von Antonin Kubalek (Dorian 90116).
    Das 1. Stück nimmt er mit 3 min 15 sec sehr getragen und für mich völlig schlüssig.


    Kürzlich habe ich mir oben genannte CD von Pollini angeschafft und war bei diesem Stück doch sehr enttäuscht.
    Pollini spult das "tranquillo" in gerade einmal 2.10 herunter und erreicht m.E. nicht annähernd die resignative Tiefe dieser wunderschönen Komposition.


    Völlig deplatziert ist Pollinis subito forte, das er roh und ohne jeden Sinn für die Stimmung des Stücks herausknallt. Damit zerstört er diese traumhafte Musik! Entsetzlich!

    "Muss es sein? - Es muss sein!" Grave man non troppo tratto.

  • So schön diese Gesänge nach mehrmaligem hören auch sind. Ich bin mir allerdings nicht so sicher, ob dies in ein Klavierabendprogramm hineinpasst. Diese Musik ist nicht so eingängig, und nicht so "schumannsch", wie - ich behaupte mal: - alle anderen Werke. Wäre allerdings mal interessant, ob jemand schon mal eine Hörerfahrung in einem Livekonzert erlebt hatte und erzählen könnte, wie es das Publikum aufgenommen hatte.
    Grüße

    Die Dame des Hauses erhebt sich vom Klaviersessel: "Das war Siegfrieds Tod." Ein Zuhörer zu seinem Nachbarn: "Kann ich verstehen."

  • Zitat

    Original von AlexScria
    So schön diese Gesänge nach mehrmaligem hören auch sind. Ich bin mir allerdings nicht so sicher, ob dies in ein Klavierabendprogramm hineinpasst. Diese Musik ist nicht so eingängig, und nicht so "schumannsch", wie - ich behaupte mal: - alle anderen Werke. Wäre allerdings mal interessant, ob jemand schon mal eine Hörerfahrung in einem Livekonzert erlebt hatte und erzählen könnte, wie es das Publikum aufgenommen hatte.


    ... anscheinend wohne ich in einer Gegend, in der sich diese Stücke einiger Beliebtheit erfreuen. Ich durfte im Oktober die Stücke im Abstand von sieben Tagen in zwei unterschiedlichen Aufführungen erleben, und in beiden Fällen wurden sie in den Vorankündigungen der Konzerte nicht erwähnt.


    Konzert Nr. 1 fand am 7. Oktober im Ratgymnasium Minden statt, 60 Kilometer östlich von Hannover.


    Der junge Mindener Nachwuchkomponist Wendelin Bitzan, zur Zeit Student in den Studiengängen des Tonmeisters und des Pianisten an der "Universität der Künste Berlin" führte konzertant seine Kammeroper "Die Nachtigall und die Rose" nach dem Märchen von Oscar Wilde zum ersten Mal auf und hatte für ein Vorprogramm zwei Pianistenfreunde gewinnen können.


    Die zur Zeit vorwiegend im Hamburger Kultur- und Medienmanagementstudiengang aktive Marlena Schroeder spielte Präludium und Fuge es-moll aus dem ersten Buch des Wohltemperierten Klaviers und die Étude Opus 10 Nr. 7 von Chopin, und danach bot der in Hannover studierende und auch als Jazzmusiker aktive Roman Rofalski die "Gesänge der Frühe" und danach die "Danse macabre" von Saint-Saens in Vladimir Horowitz Nachbearbeitung des Arrrangements von Franz Liszt. :untertauch:


    Danach gab es eine Pause und dann 60 Minuten lang die Kammeroper.


    Roman Rofalski spielte den Liszt-Horowitz rasant und auch mit eindrucksvollem Klangvolumen. Die "Gesänge der Frühe" ging er dagegen sehr vorsichtig an, insbesondere spielte er das erste und das letzte Stück zurückhaltend, molto cantabile, teilweise wie improvisiert (aber natürlich in Wirklichkeit streng gemäß dem Notentext) und die 16tel Kaskaden am Ende als sich impressionistisch auflösend. Alles in allem sehr schön.


    Auch Nachtigall und Rose waren hörenswert. Der Komponist schrieb seine kleine Oper in einem mehr romantischen, rückwärtsgewandten Idiom als die Stücke, die er 2002 in Nürnberg im Bundeswettbewerb "Jugend Musiziert" als Pianist vortrug. Dort gab er immerhin Skriabins zweite Sonata (Fantaisie, gis-moll) und die Passacaglia von Aaron Copland. In seiner Oper dagegen schrieb er in neoromantischer Tonalität, sehr überschaubar, mit wenig Chromatik, fast einfach, aber trotzdem mit einem eigenen Charakter. Ich war verblüfft und beeindruckt, obwohl ich normalerweise nichts dagegen habe, wenn ein heutiger Komponist so schreibt wie Xenakis oder Hanspeter Kyburz oder Bernd Alois Zimmermann.


    Wendelin Bitzan hat übrigens seine musikalischen und sonstigen Aktivitäten überaus umfangreich in einer Website dokumentiert, welche man über google ganz schnell findet. (Man findet eine Klavierlehrer-Website und dort den Link zu der eigentlichen Seite.) Auch dies sehr lesenswert.


    Konzert Nr. 2 gab es am 14. Oktober in der Marktkirche Hannover. Die Mitwirkenden waren der Norddeutsche Figuralchor unter Leitung von Jörg Straube und der Pianist Markus Becker (welcher ja vor allem durch seine Gesamtaufnahme des Regerschen Soloklavierwerks bekannt wurde.)


    Das Programm:


    Francis Poulenc: Figure Humaine Nr. 1 - 5 für Chor. (Text Paul Eluard)
    Robert Schumann: Der Rose Pilgerfahrt, Teil 1 für Chor und Klavierbegleitung.
    Schumann: Gesänge der Frühe.
    Der Rose Pilgerfahrt, Teil 2.
    Figure Humaine Nr. 6 - 8.


    Applaus gab es natürlich erst ganz am Ende des Konzertes. Markus Becker spielte noch zurückhaltender und meditativer als Herr Rofalski eine Woche vorher.


    Vielleicht war die Grundidee des Konzertes: Wie kann man Schumanns "Der Rose Pilgerfahrt" so aufführen, dass sie nicht kitschig wirkt? In der Aufführung in der Marktkirche ergänzten sich die dargebotenen Werke durch Kontrastwirkungen: Bei Poulenc herbe Strenge und leuchtender Schwung in den Gesängen von Existienzialismus, Auswegslosigkeit und Freiheit, bei Schumann das Nebeneinander von friedlicher Idylle und pathetischer Größe (bei dem Begräbnis der Müllerstochter) und mit fünf Klavierstücken von rätselhafter Stimmung als "Zwischenaktmusik". Der Pianist traf genau den richtigen Tonfall, und der Chor war phantastisch.


    Jetzt wären eigentlich noch Bemerkungen zu den Chorwerken notwendig, aber diese gehörten dann in andere Treads - hoffentlich bald.


    Übrigens hat auch Maurizio Pollini die "Gesänge der Frühe" öffentlich gespielt. Ich war jedoch leider nie dabei. Eines der dafür typischen Programme habe ich einmal in der Neuen Musikzeitung gelesen, und glaube mich an folgende Zusammenstellung zu erinnern:


    Schumann: Konzert-Allegro Opus 8.
    Gesänge der Frühe.
    Schönberg: Klavierstücke (Opus 11 oder Opus 19, vielleicht auch etwas anderes).
    Stockhausen: Klavierstück X.


    Diese Angaben jedoch ohne Gewähr.


    Zu der Pilgerfahrt von Schumann vielleicht abschließend noch ein Zitat von Franz Liszt, hier wiedergegeben gemäß dem Booklet der Aufnahme des RIAS-Kammerchores. Liszt charakterisiert das scheinbar naive Stück hintergründig und sieht darin Bilder, welche man Visionen des poetischen Mystizismus nennen möchte. Da verwandeln sich Wolken in Düfte, Wellen in wogende Töne; da ist alles Allegorie eines unaussprechlichen Gefühls, und das Symbol entzückt uns, wie jene naiven Ideenverbindungen, deren Rätsel wir oft in sinnreichen Fragen der Kindheit erlauschen. :pfeif:

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  • Herzlichen Dank für die wohlwollende Konzertkritik, Kulturvermittler :)


    Ich halte die 'Gesänge der Frühe' für eins der interessantesten Klavierwerke Schumanns, gerade im Kontrast zu den frühen und mittleren Zyklen. Und dass der späte Schumann nicht immer die Achtung bekommt, die er verdient (zB im Fall des Violinkonzerts, das von Joseph Joachim und seinen Erben jahrzehntelang zurück gehalten wurde), ist ein Problem, das vermutlich nach wie vor Einfluss auf die Gestaltung der Konzertprogramme hat. Wann hört man schon einmal die beiden Violinsonaten, das wunderbare 3. Klaviertrio oder die Fantasie für Violine und Orchester?


    Die 'Gesänge' habe ich bisher immer nur live gehört. Meines Erachtens sind sie ein Werk, was es dem Pianisten im Studio viel schwerer macht als auf der Konzertbühne - wie wohl auch Herr Pollini spüren musste (ich kenne seine Aufnahme nicht, halte aber die Einschätzung von CRC für durchaus plausibel). Hier gibt es Grade von Subtilität und pianistischer Poetik, die man auch unter den Schumann-Klavierwerken selten findet. Am meisten beeindruckt hat mich bisher die Deutung von Benedikt Kämpfelbach, dem Gewinner des Kleinen Schumann-Wettbewerbs Ziwckau 2002, den ich im Preisträgerkonzert gehört habe und gleichzeitig diese wunderbaren Stücke kennen lernte.

  • Ich denke, ein "geeignetes" Programm, in dem man die Gesänge der Frühe spielen könnte, ist sehr schwer zu finden. Ein befreundeter Pianist hat sie am Ende eines Programms mit Haydn, Brahms, Berg, Schönberg und ANSCHLIESSEND die Gesänge der Frühe. Das klingt durchaus interessant. Als erstes kam mir die Idee, sie mit Brahms op. 117 und 119 zu verbinden, aber das wäre ein Overkill

    Das Frühstück ist ihm viel zuviel Zeremonie. Die ganze Lächerlichkeit kommt zum Ausdruck, wenn ich den Löffel in die Hand nehme. Die ganze Sinnlosigkeit. Das Zuckerstück ist ja ein Anschlag gegen mich. Das Brot. Die Milch. Eine Katastrophe. So fängt der Tag mit hinterhältiger Süßigkeit an.

  • [zitat]Original von bubba:
    Ich denke, ein "geeignetes" Programm, in dem man die Gesänge der Frühe spielen könnte, ist sehr schwer zu finden.[/zitat]
    Glaube ich auch. Ich erinnere mich allerdings an ein eindrückliches Konzert aus dem Heidelberger Frühling 2005. Unter dem Motto "Dialoge" wurden Werke der Romantik solchen der Moderne gegenübergestellt, in diesem Fall:

    • Schumann: Gesänge der Frühe, op. 133
    • Nono: Fragmente - Stille, An Diotima, für Streichquartett
    • Schumann: Variationen über ein Thema in Es: "Geistervariationen", WoO 24

    Dénes Várjon, Klavier; Minguet Quartett


    Ein stimmiges Programm, wie ich fand, nicht nur wegen des Hölderlin-Diotima-Bezugs bei Nono wie bei Schumann (vgl. Themenstarter-Beitrag). Alle Künstler waren die ganze Zeit auf dem Podium, Beifall erst am Ende, also Schumann - Nono als Zyklus, wie EIN Werk.

  • Auf dieser CD von Tobias Koch im Kontext anderer "später" Klavierwerke Schumanns machen sich die Gesänge der Frühe sehr gut, sie sind der absolute Höhepunkt der CD. Der Flügel von Johann Bernhard Klems, einem mit den Schumanns bekannten Düsseldorfer Klavierbauer, dessen Instrumente Clara Schumann noch viele Jahre spielte, trägt mit seinem spezifischen Klangcharakter sehr zum Gelingen bei - die Stücke wurden auf einem solchen Flügel komponiert und passen "wie angegossen". Für jeden Liebhaber dieser Stücke ein Pflichtkauf, meine ich.
    Koch hat in Düsseldorf den kompletten Schumann für Klavier solo aufgeführt.
    Tobias Koch



    Genuin

  • miguel54
    Danke für den Hinweis - für mich von besonderem Interesse, da das Schumann'sche Spätwerk eine ganz eigene Faszination auf mich ausübt! Allerdings bin ich mir bei den genannten Klavierwerken (Gesänge der Frühe, Geistervariationen) nicht so ganz klar, ob ich in der Schlichtheit eine Verarmung oder gerade eine neue qualitative Stufe sehen soll, es ist halt doch eine recht karge Musik... Beim Violinkonzert fällt mir die Bewunderung leichter.


    Im Konzert damals - als Umrahmung des Nono-Streichquartetts - war die Wirkung immerhin ganz besonders.

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  • Ich persönlich liebe den knochigen, kargen Klang der meisten Original-Hammerflügel. Ich denke das passt hervorragend (eine Tautologie, ich glaube nicht, dass ich mich trauen würde, Schuman ins Gesicht zu sagen, es brauche für sein Stück einen süffigen zweimeterachtzig-Flügel :D;
    oder auch: ja, Herr Beethoven, tut mir leid, aber op.131 sollte man mit großem Sinfonieorchester spielen, sie haben einfach keine Ahnung von den Klangfarben eines Streichquartetts...)
    Ich kenne zumindest KEINE Aufnahme, wo der Hammerflügel oder auch ein historisches Streich (Blas-) Instrument GESTÖRT hätte.
    Danke für den Tipp dieser interessanten Aufnahme.

    Das Frühstück ist ihm viel zuviel Zeremonie. Die ganze Lächerlichkeit kommt zum Ausdruck, wenn ich den Löffel in die Hand nehme. Die ganze Sinnlosigkeit. Das Zuckerstück ist ja ein Anschlag gegen mich. Das Brot. Die Milch. Eine Katastrophe. So fängt der Tag mit hinterhältiger Süßigkeit an.

  • Zitat

    Original von Gurnemanz
    miguel54
    Danke für den Hinweis - für mich von besonderem Interesse, da das Schumann'sche Spätwerk eine ganz eigene Faszination auf mich ausübt! Allerdings bin ich mir bei den genannten Klavierwerken (Gesänge der Frühe, Geistervariationen) nicht so ganz klar, ob ich in der Schlichtheit eine Verarmung oder gerade eine neue qualitative Stufe sehen soll, es ist halt doch eine recht karge Musik... Beim Violinkonzert fällt mir die Bewunderung leichter.


    Tobias Koch hat zu Schumanns letzten Werken und ihrer allgemeinen Einschätzung einiges zu sagen - auch anläßlich der Aufnahme der Kammermusik mit Violine (auch bei Genuin und sehr zu empfehlen!) - in den Begleittexten und auf seiner Website ist da einiges zu finden. Da wurde, auch durch die Fehleinschätzung seiner Krankheit aufgrund mangelhafter Überlieferung usw. einiges mißdeutet, denke ich. Die letzten Publikationen zu diesem Thema bringen da viel Licht ins Dunkel, scheinen aber der Öffentlichkeit noch nicht ins Bewußtsein gedrungen zu sein. Ich finde da viel Interessantes und Experimentelles in seinem Spätwerk, auch wenn man merkt, daß er mit sich gekämpft haben muß. Es so abzuwerten, wie das schon Clara und Joseph Joachim getan haben (sie hat ja sogar ein Kammermusikwerk für Violoncello vernichtet) ist sicherlich eine sehr überzogene Reaktion.


    Soo schlicht finde ich die Gesänge der Frühe eigentlich nicht - eher wie eine Destillation des Wesentlichen, um zu Neuem vorzustoßen - so sieht Koch es auch. Manche Passagen klingen als ob Florestan und Eusebius sich auf eine neue Art endlich die Hand reichen und beginnen zu verschmelzen. "R. hat 5 Frühgesänge komponiert, - ganz originelle Stücke wieder, aber schwer aufzufassen, es ist so eine ganz eigne Stimmung darin." So schrieb Clara Schumann - wenn schon sie Probleme hatte, dieser Musik näherzukommen .....

  • Zitat

    Original von AlexScria
    So schön diese Gesänge nach mehrmaligem hören auch sind. Ich bin mir allerdings nicht so sicher, ob dies in ein Klavierabendprogramm hineinpasst. Diese Musik ist nicht so eingängig, und nicht so "schumannsch", wie - ich behaupte mal: - alle anderen Werke. Wäre allerdings mal interessant, ob jemand schon mal eine Hörerfahrung in einem Livekonzert erlebt hatte und erzählen könnte, wie es das Publikum aufgenommen hatte.
    Grüße


    Sie entbehren eben jeder oberflächlichen Effekte und Virtuosität - und das ist leider die Ebene, auf der die meisten erst mal Musik wahrnehmen. So etwas gehört in die Kammer und den Salon, nicht die großen Konzertsäle.


    Ich könnte mir diese Stücke und die "Geister-Variationen" gut in einem Programm mit Brahms' Intermezzi op.117, einigen der Lieder ohne Worte Mendelssohns und Richard Strauss' Stimmungsbilder op.9 vorstellen, oder ähnlichen Stücken anderer Zeitgenossen wie Kirchner, Bennett oder auch Clara Schumann, die auch eher auf der kontemplativen Seite angesiedelt sind. Und auf einem historischen Klavier, der moderne Flügel versüsst das alles viel zu sehr, die herbe Lyrik ist da schwerer rüberzubringen, wenn auch nicht unmöglich.

  • ... warum nicht auch mit Brahms Opus 118, dem vielleicht vielfältigsten, kühnsten und gelungensten der vier späten Zyklen?


    Ein Programm könnte den Weg von der frühen Romantik zur frühen Moderne darstellen, z.B.


    1. Beethoven Sonate Opus 101, 109, 110 oder 111, oder Schubert, a-moll-Sonate D 784 oder 845 oder A-Dur D 664 oder 959


    2. Brahms, Klavierstücke Opus 118


    3. Gesänge der Frühe


    4. Alban Berg, Sonate


    5. Optional Skriabin, eine der Sonaten Nr. 6 - 10 (oder auch Nr. 4 oder 5)


    Eine andere Programmidee wäre ein Querschnitt durch Schumanns Klavierwerk, wobei die Aspekte der frühromantischen Virtuosität, des Phantastischen, des Naiven und der seelischen Grenzbereiche vorkommen sollten.


    Möglich wären z.B.


    1. Abegg-Variationen, Toccata oder Paganini-Etüden Opus 10


    2. Kreisleriana, Carnaval oder Sonate Opus 14


    3. Kinderszenen, Waldszenen oder eine Auswahl aus dem Album für die Jugend


    4. Gesänge der Frühe


    5. Optional: Geistervariationen


    Ein Programm mit Nachtmusiken wäre ebenfalls vorstellbar:


    1. Ravel, Gaspard de la nuit


    2. Debussy, Et la lune... aus Images zweites Buch


    3. Schumann, Gesänge der Frühe


    4. Heinz Holliger, Elis (Drei Nachtstücke)


    5. Chopin, Nocturnes Opus 62


    6. Chopin, Polonaise-Fantaisie Opus 61 oder Eliott Carter, Night Fantasies

  • [zitat]Original von miguel54:
    Soo schlicht finde ich die Gesänge der Frühe eigentlich nicht - eher wie eine Destillation des Wesentlichen, um zu Neuem vorzustoßen - so sieht Koch es auch.[/zitat]
    Werd's demnächst gern überprüfen - nachdem ich gerade noch einmal die mir zugängliche Einspielung durch András Schiff gehört habe: Er spielt "schlicht" (oder besser: "zurückgenommen"?), d. h. unprätentiös, unaufdringlich, ernsthaft, klar - wenn da nicht der voluminöse Konzertflügelklang wäre, wie ein zu großer Anzug, der nicht recht passen will.


    Was ich bei den "Gesängen" vermisse, ist der erzählerische Gestus, das "Horcht zu, ich weiß von einer besonderen Begebenheit!" - eine Haltung, die ich bei Schumann, gerade in seiner Kammermusik so oft heraushöre und die mich in ihren Bann zieht. Daß er sich virtuosem Glanz verweigert, das nimmt mich ja eher für Schumann ein.


    Nun bin ich gespannt auf den mir bislang noch unbekannten Tobias Koch - was ich über ihn im Netz gefunden habe, macht mich neugierig auf Hören.


    [zitat][...] in einem Programm mit Brahms' Intermezzi op.117, einigen der Lieder ohne Worte Mendelssohns [...][/zitat]


    ... weiß nicht, ob die "Gesänge" bzw. die "Geistervariationen" hier nicht erdrückt würden? Im Kontrast empfinde ich sogar die "Lieder ohne Worte" und die "Intermezzi" als deutlich extrovertierter. Müßte man halt mal ausprobieren...

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  • Dazu würde ich gern auch Hindemiths "In einer Nacht ... Träume und Erlebnisse" op. 15 stellen - ein sehr reizvolles Programm!

  • [zitat]Original von miguel54:
    Auf dieser CD von Tobias Koch im Kontext anderer "später" Klavierwerke Schumanns machen sich die Gesänge der Frühe sehr gut [...]
    [/zitat]
    Soeben eingetroffen - nach erstem Hören: Eine Entdeckung, wirklich überzeugend - neben den "Gesängen", "Geistervariationen" auch die anderen Stücke, nicht zuletzt die packenden Melodramen! Und auch ein schönes, sorgfältig gestaltetes und informatives Booklet.

  • Über Schumanns letzte Jahre und Werke ist in den letzten Jahren erfreulich viel und gute Literatur erschienen. In dem Sammelband Robert Schumanns "Welten" im Dresdner Sandstein Verlag findet sich ein Aufsatz von Michael Heinemann zum Spätwerk, der die im ersten Beitrag erwähnte Parallele zu Hölderlin erörtert und die besondere Faktur der Werke erklärt - zu detailliert, um es hier zusammenzufassen, aber ich finde Heinemanns Ausführungen sehr plausibel und passend zur Diskussion hier. Das Buch ist für jeden Schumann-Liebhaber zu empfehlen.


    Robert Schumanns "Welten"


  • Zitat

    Original von CRC
    ...Interpretation von Antonin Kubalek (Dorian 90116).
    Das 1. Stück nimmt er mit 3 min 15 sec sehr getragen und für mich völlig schlüssig.


    Kürzlich habe ich mir oben genannte CD von Pollini angeschafft und war bei diesem Stück doch sehr enttäuscht.
    Pollini spult das "tranquillo" in gerade einmal 2.10 herunter und erreicht m.E. nicht annähernd die resignative Tiefe dieser wunderschönen Komposition.


    Völlig deplatziert ist Pollinis subito forte, das er roh und ohne jeden Sinn für die Stimmung des Stücks herausknallt. Damit zerstört er diese traumhafte Musik! Entsetzlich!



    Hallo zusammen,


    ich habe mich der obigen Beschreibung angenommen, um zu schauen, ob ich die Kritik nachvollziehen kann.
    Kurz: Ich kann es nicht.
    Pollini spielt das erste Stück fast exakt im Tempo "76" - der Notentext sieht "73" vor. Somit ist Pollini "zu schnell", fraglich ist aber, wieviel zu langsam dann Kubalek ist, wenn er für die 39 Takte immerhin 65 Sekunden länger braucht...


    Dass das Forte bei Pollini die schwelgende Gefühlsduselei derjenigen, die das so erwarten, rabiat beendet, ist nachvollziehbar.
    Aber auch das steht in den Noten. Takte 26-30.
    Die elegische Stimmung gleichförmigen Träumens ist möglicherweise gerne gehört, aber nicht das, was ein dem Wahnsinn naher, bald gescheiterter Selbstmörder geschrieben hat.
    Vielleicht ist das der Teil musikalischer Tiefe, die es anzuerkennen, anzunehmen gilt, um alle vorhandenen Dimensionen der Musik wahrnehmen zu können.
    Wer das nicht möchte (einverstanden!) oder kann, der wird Pollini wahrscheinlich nicht viel abgewinnen können. Der Musik allerdings auch nicht allzu viel...


    Zum Schluss noch eine Empfehlung: Eric le Sage habe ich kürzlich im Laden entdeckt, mit einer fast vollständigen Gesamteinspielung des Schumannschen Klaverwerks. Sehr schön gemacht. Auch ihm fehlen hie und da ein paar Ecken und Kanten, ich mag sein Spiel und die Qualität der Aufnahmen sehr.
    Viel Spaß beim Ausprobieren und beste Grüße
    Accuphan

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

  • Lange vergessen, dieser Thread, wie es scheint.


    Gerade höre ich sie wieder, diese "Gesänge der Frühe", in der Aufnahme mit Eric Le Sage.


    Das klingt so wie Musik nur für sich selber. Es ist nichts mehr zu beweisen. Es ist alles gelebt, alles erlitten. Was bleibt, ist letztes Nachspiel.


    Hölderlins späte Gedichte fallen einem ein:


    "Das Angenehme dieser Welt hab' ich genossen,
    Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen,
    April und Mai und Julius sind ferne,
    Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!"


    Berührend.

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



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  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Ich habe die Gesänge der Frühe (dank des Entdecker-Label Naxos zum günstigen Preis) anhand dieser CD kennengelernt. Der koreanische Pianist Jinsang Lee erweckt diese eigenwillige, gedämpfte, meditativ-spröde Musik einfühlsam und sachkundig zum Leben. Bei "In ruhigem Tempo" schichtet er behutsam die Klänge auf, tupft sie nebeneinander, gibt ihnen den notwendigen Raum zur Entfaltung. Auch die anderen Gesänge werden äußerst plastisch dargeboten. Wobei zum Beispiel Nr. 3 "lebhaft" so gar nicht karg und sperrig ist, sondern durchaus kraftvoll, poetisch und dynamisch in seiner Anmutung. Auch Nr. 4 "Bewegt" zeigt noch einmal eine große Palette an Eindrücken, man findet einen blühenden, empfindungsreichen, ebenso überschäumenden wie nachdenklichen Tonfall vor, der sehr berührend ist. Nr. 5 ist ein würdiger Ausklang, der in eine verträumte, wunderschöne Welt entführt, die sich zu noch intensiverem, ungemein sanglichem Ausdruck steigert, um dann langsam und sachte auszuklingen und zu verhallen. Eine sehr ergreifende, intensive, zauberhafte Musik. Nicht nur interpretatorisch eine sehr schöne Einspielung, auch das Klangbild dieser Aufnahme aus dem Jahr 2014 ist äußerst erfreulich und transparent.

  • Ich habe die Gesänge der Frühe mit einer Pianistin kennengelernt, bei der man wohl eher an Johann Sebastian Bach als an Robert Schumann denkt, Edith Picht-Axenfeld (1914-2001):

    Die Künstlerin nimmt die Stücke wesentlicher langsamer als Mauricio Pollini und kommt damit dieser Musik IMO deutlich näher als ihr berühmterer italienischer Kollege.
    Mich haben dieses praktisch letzte Klavierwerk Robert Schumanns immer tief berührt, und es ist irgendwie erstaunlich, daß so wenige Pianisten von Weltrang sich dieser Musik angenommen haben. Selbst anerkannte Schumann-Spezialisten wie Artur Rubinstein, Wilhelm Kempff oder Claudio Arrau hatten sie m.W. nicht in ihrem Repertoire. Zumindest sind keine Aufnahmen überliefert.


    "Es sind Stücke", schreibt Schumann in Anlehnung an Beethovens Worte zu seiner Pastoral-Sinfonie, seinem Verleger, "die die Empfindungen beim Herannahen und Wachsen des Morgens schildern, aber mehr aus Gefühlsausdruck als Malerei". Schumann widmete sie "der sehr hohen Dichterin Bettina" (v. Arnim).
    Der französische Autor André Boucourechliev schreibt dazu in seiner Schumann-Biographie: " .... aber Schumann, auf der Schwelle des Wahnsinns und in seinem innersten Gefühl schon über sie hinaus, hat ihnen noch eine andere Überschrift gegeben: An Diotima - heimliche Widmung an die Heldin des wahnsinnigen Hölderlin.
    Die schweren, ruhigen Akkorde des die reine Linie der Melodie tragenden fünfstimmigen Kontrapunktes entfalten sich wie eine Legende. Man denkt bei diesem Abschied von der Musik an Bachs letzten, auf dem Sterbebett diktierten Choral und an den letzten Orgelchoral von Brahms. Über alle Inspiration hinweg erleben wir, von einem Stück zum anderen sich steigernd, die Befreiung des zur Vollendung hinaufgeläuterten Genies zu einer letzten Heiterkeit und Gelassenheit."


    LG, Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Auch ich,


    lieber Don Gaiferos und lieber nemorino,


    habe mich mit diesen Stücken beschäftigt. Überlegt, wie ich dieses und jenes auf dem Klavier gestalten könnte. Die Noten weggelegt, später wieder hergenommen und die rätselhaften Melodiefortgänge mit den unterlegten Harmonien bzw. Klavierakkorden in Szene gesetzt. Nach einigen Jahrzehnten des Liegenlassens bringen mich euere Beiträge dazu, nochmals dem allem nachzugehen. Inklusive in die Noten reinzuschauen und auch die Finger auf der Klaviatur zu bewegen. Es hat mich sehr bewegt, nur: ich weiss nicht so recht...


    Unzweifelhaft gibt es gute Gründe für Pianisten, Werke eines Komponisten, auf dem der Makel einer chronischen psychischen Erkrankung lastet, sowohl gar nicht mit der spitzesten Zange anzufassen, aber auch gerade die Kompositionen zu benutzen, um mit diesen Stücken eine Marktlücke zu füllen für eine CD- Produktion. Das gilt besonders für Schumann, dem man eine zunehmende Schwere seiner Erkrankung mit dem Lebensalter nachsagt, welche in seinem Selbsttötungsversuch offenbar gipfelt. Vor meinem Post dachte ich - diese Musik hörend - an die Harmonieentwicklungen beim viel später geborenen Max Reger. Wie wäre Schumanns Musik geworden, wenn er weiter in die zweite Jahrhunderthälfte hineinkomponiert hätte...?


    Trotz obiger Posts aus vergangenen Jahren bezweifle ich allerdings die Konzerttauglichkeit der Gesänge d. F., deren Darbietung man auch als Rahmenprogramm für moderne Werke von Nono u.a. verstehen kann.


    Ja, einige Passagen der G.d.F. sind seeehr schön.


    MlG
    D.

  • Lieber Damiro


    Ich kenne Gesänge der Frühe aus verschiedenen Gesamt- bzw. Teileinspielungen. (Demus, Le Sage auf modernen Flügeln, Staier auf einem historischen Instrument, einem Erard-Flügel)


    Eine schöne Einspielung ist 2013 von Mitsuki Uchida erschienen.



    Deine Bemerkung, dass eine Kopplung mit Kompositionen zeitgenössischer Komponisten Sinn mache, zielt darauf, dass Schumann mit den Gesängen der Frühe op. 133 weit in die Moderne weist.


    Am 15. und 18. Oktober 1853 hatte er an den Gesängen der Frühe gearbeitet. Es stimmt nicht, dass Gesänge der Frühe das letzte vollendete Werk ist, es folgten noch kammermusikalische Werke. Sie schrieb Schumann noch an der Violinsonate Nr. 3, einem Gemeinschaftswerk mit Joachim und Brahms. Am 10. Februar 1854 begannen psychische Leiden. Schumann hörte Töne und "Gehöraffektionen". Am 27. Februar stürzte er sich in den Rhein und wurde gerettet. In die Anstalt in Endenich, in die er sich am 4. März auf eigenen Wunsch hatte einweisen lassen, liess sich Schumann die Partitur der Gesänge der Frühe schicken.


    Dass sich Anzeichen der geistigen Erkrankung oder ein Nachlassen der schöpferischen Kräfte in diesem Werk abzeichnen, diese Meinung teile ich nicht. Wenn man die Abfolge der Ereignisse kennt, lässt sich kein Zusammenhang herstellen. Ein Komponist entwickelt sich und stösst in neue Regionen vor. Dass die Tonsprache von anderen Klavier-Zyklen sich unterscheidet, das denke ich sehr wohl.
    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Ich liebe sie,
    diese „Gesänge der Frühe“, seitdem ich ihnen in der kongenialen, weil dieser Musik in ihrer strukturellen Anlage und in ihrem künstlerisch-kompositorischen Geist auf vollkommene Weise gerecht werdenden Interpretation durch Maurizio Pollini erstmals als bewusster Hörer begegnete.


    Zit: „Dass sich Anzeichen der geistigen Erkrankung in diesem Werk abzeichnen, diese Meinung teile ich nicht.“
    Ich auch nicht, lieber moderato. Und es gibt gute Gründe für dieses Verständnis der „Gesänge der Frühe“. Die Analyse dieses Werks, die Michael Struck 1984 vorgelegt hat, liefert dafür eine ganze Reihe von soliden, sachlich fundierten Argumenten.


    Was Deine Bemerkung betrifft „Dass die Tonsprache von anderen Klavier-Zyklen sich unterscheidet, das denke ich sehr wohl.“…
    … so denke ich, dass es tatsächlich solche Unterschiede gibt und dass sie klaviersprachlich „in neue Regionen“ vorstoßen, wie Du sagst. Allerdings gibt es durchaus auch Kontinuitäten zu Schumanns vorangehendem Klavierwerk.
    Struck verweist darauf mit den Worten:
    „Fomale und instrumentalistische Merkmale des Zyklus stehen in engem Zusammenhang mit seiner poetischen Konzeption.“
    Es lassen sich ja verschiedene Formen des „Gesanges“ erkennen. Und ich meine: Die Tatsache, dass diesbezüglich eine zyklische Struktur auszumachen ist, die das Werk zu einem in sich geschlossenen werden lässt, spricht ganz entschieden gegen ein krankheitsbedingtes Defizit in den kompositorischen Fähigkeiten.
    Und was den Aspekt „Kontinuität“ anbelangt:
    Ich vernehme und sehe sie in der zeilenartigen Reihung der musikalischen Figuren, bzw. Themen. Das ist ein strukturelles musikalisches Element, das auf ein grundlegendes Wesensmerkmal von Schumanns Klaviermusik verweist: Ihre literarisch-verbale Konditionierung.
    Ich begegne ihr zurzeit immer wieder, wenn ich neben den Heine-Vertonungen Schumanns seine gleichzeitig entstandene Klaviermusik höre und die große Versuchung verspüre, mich parallel zu meinen liedanalytische Betrachtungen darauf näher einzulassen. Schumann ist ja zurzeit taminomäßig geradezu „in“.


    Aber ich kann nicht anders. Ich muss hier, zum Thema „Gesänge der Frühe“, im Nachtrag gleichsam die – tiefgründiges Verständnis bekundenden - Worte meines hochgeschätzten, nicht nur geographisch-räumlichen, sondern auch menschlich-künstlerischen Nachbarn Peter Härtling zitieren, der zu meinem großen Leidwesen gerade erst verstorben ist.
    Sie lauten:
    „Die >Gesänge der Frühe< sind nicht seine letzte Komposition; aber sie sind sein Testament auf dem Klavier. Sie summieren sein Leben in scheinbar einfachen Sätzen, und trotzdem kommt es einem vor, als hätten sie die Sprache, aus der sie kommen und denken, schon wieder vergessen. Wer diese fünf Stücke hört, folgt einer Bewegung, die ständig beunruhigt, weil sie Gesetze ausschlägt.
    Wie fing er an? Wo wollte er hin?
    Seit ich die Gesänge höre, lese ich gleichzeitig Hölderlin: den >Hyperion<, die Gedichte an Diotima und die späten Turmgedichte. (…)
    Schumann kann, als er sich dem so angestrengt wie überlegen in den fünft Stücken der >Frühe< zu überlassen versucht, Hölderlins Turmgedichte nicht kennen. Doch die >Gesänge< sind den Gedichten tief verwandt. Auf einem anarchischen Grund wiederholen sich schön und nach eigenen, neuen Regeln die Signale des Aufbruchs, die zugleich die des Abschieds sind.“
    (aus: Peter Härtling, "Schumanns Schatten", Köln 1996)

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  • Peter Härtling, "Schumanns Schatten", Köln 1996


    Das Buch ist übrigens momentan für sage und schreibe 91 Cent (!) + Versandkosten bei Amazon zu erwerben (allerdings gebraucht). Wenn das kein Angebot ist!


    LG, Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Hallo Holger,


    die Pollini-CD ziert auch meine Sammlung. Aber ich muß gestehen, daß mir die Version von Edith Picht-Axenfeld mehr zusagt. Bei Pollini habe ich das Gefühl, daß er zu dieser Musik nicht den richtigen Draht hat, er spielt mir einfach zu "obenhin". Das ist jedenfalls mein Eindruck.
    Ich habe noch aus der alten Telefunken-GA mit dem Pianisten Karl Engel, die m.W. sämtliche Klavierwerke Schumanns enthält, die Gesänge der Frühe. Aber die habe ich eine Ewigkeit nicht mehr gehört, ich kann dazu deshalb jetzt nichts sagen. Die Kassetten existieren noch, sind aber aus Platzgründen ausgelagert (an einem kühlen, trockenen Ort). Ich erinnere mich aber gut, daß sie von der Kritik recht verhalten, z.T. ablehnend beurteilt wurden. Ulrich Schreiber verglich sie mit Arraus PHILIPS-Aufnahmen und sprach, was Engels Arbeit betrifft, von Mittelmaß, zusammengesetzt aus "Mühsal, Not, Beschwerde". Ich habe mir die Aufnahmen seinerzeit angeschafft, weil ich eine vollständige Sammlung von Schumanns Klavierwerk haben wollte.


    LG, Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • die Pollini-CD ziert auch meine Sammlung. Aber ich muß gestehen, daß mir die Version von Edith Picht-Axenfeld mehr zusagt. Bei Pollini habe ich das Gefühl, daß er zu dieser Musik nicht den richtigen Draht hat, er spielt mir einfach zu "obenhin". Das ist jedenfalls mein Eindruck.

    Lieber Nemorino,


    ich habe mich mit dieser Schumann-Komposition einfach zu wenig beschäftigt! Dazu müsste ich Pollini mit Jörg Demus vergleichen. Von ihm habe ich seine - wirklich sehr gute - Schumann-Gesamtaufnahme. Picht-Axernfeld und Karl Engel kenne ich gar nicht! :hello:


    Demus gibt es inzwischen unglaublich billig: 13 CDs für 17.99 Euro!



    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich möchte noch ein wichtiges Phänomen beim Hören vieler Werke der (deutschen ?) Romantik erwähnen, nämlich die Tempowahl. Auch mir gefällt E. Picht- Axenfeld deshalb sehr gut, weil sie langsam spielt ! (hier: ihre Schnipsel).


    Ich möchte kurz abschweifen: M. Argerich nimmt Tschaikowski 1 etwas langsamer als viele andere Pianisten (ich habe einige schnellere Versionen dieses Konzerts) und sofort entsteht eine regelrecht lyrische Atmosphäre.


    MlG
    D.

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