Das deutsche Musikleben in der Romantik - Vol.III - Panorama

  • Dieser Thread soll sich mit verschiedensten Aspekten des deutschen Musiklebens im 19.ten Jahrhundert befassen: Komponistennetzwerke, Musikstreit, Institutionen, Einflüsse anderer Länder und Auswirkungen auf andere Länder, um nur einige wenige mögliche Themen zu nennen. Im Laufe der Zeit (falls Diskussionen zustande kommen :S ) , wird sich, denke ich, in diesem Thread herauskristallisieren, dass wir von dieser Epoche ein verzerrtes Bild haben und viele unserer Auffassungen einem genauerern Blick vielleicht gar nicht standhalten.

  • Wenn wir uns mit der deutschen Musik im 19. Jahrhundert beschäftigen stoßen wir nach kürzester Zeit immer wieder auf die berühmt-berüchtigte Dichotomie Klassizisten - Neudeutsche, zwei Lager, die sich spinnefeind sind und einander bekriegen. Nach dem Tode Brahms', der Lichtgestalt der Klassizisten, übernehmen die Neudeutschen unter Strauss und Mahler endgültig das Ruder und läuten die Modern ein. Nur - stimmt das eigentlich? Grob lassen sich die Komponisten aus jener Zeit wohl eher in drei Gruppen einteilen: Konservative, Neudeutsche und "Vermittler", die augenscheinlich Äquidistanz halten. Wenn man sich die Biographien dereinflussreichen deutschen Komponisten aus dieser Zeit etwas genauer ansieht, muss man allerdings zum Schluss kommen, dass die heute verbreitete Darstellung die Rolle der Neudeutschen über weite Strecken des 19. Jahrhunderts deutlich überbetont, denn die Vertreter der konservativen Strömung waren tatsächlich in der überwältigenden Überzahl und kontrollierten zudem praktisch alle Musikzentren bis in die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts.
    Die wichtigsten Vertreter des dt. Musiklebens seien hier angeführt:


    Konservative: Johannes Brahms, Joseph Joachim, Max Bruch, Carl Reinecke, Albert Dietrich Ferdinand Hiller, Robert Fuchs, Robert Volkmann, Josef Rheinberger, die Lachnerbrüder, Salomon Jadassohn, Friedrich Kiel, Heinrich von Herzogenberg, Clara Schumann, Felix Otto Dessoff, Friedrich Gernsheim, Woldemar Bargiel.


    Neudeutsche: Franz Liszt, Richard Wagner, Anton Bruckner - und erst sehr spät Richard Strauss und Gustav Mahler.


    Vermittler: Hans von Bülow, Felix Draeseke, Joachim Raff, Karl Goldmark, August Klughardt.



    Bei den "Vermittlern" Draeseke und Raff fällt auf, dass sie nur zu Beginn ihrer Karriere den Neudeutschen nahe standen. Später lösten sie sich von den ästhetischen Idealen Liszts fast vollständig und wurden de facto Konservative. Auch Klughardt und Goldmark komponierten überwiegend konservativ. Da zudem die Konservativen bei weitem die Mehrheit der musikalischen Hochschulen und Orchester doiminierten, waren die Neudeutschen fast vollständig an den Rand gedrängt. Der Musikstreit tobte daher wahrscheinlich am ehesten im Feuilleton, denn im Konzert gabe es von Liszt und Bruckner nicht viel oder fast gar nichts zu hören. Im Gegensatz zu Goldmark, Reinecke, etc.., welche sehr präsent waren. Liszt hatte aufgrund seines noblen Wesens zunächst einen großen persönlichen Einfluss auf viele Vertreter der Nachfolgegeneration (unter anderem auf Joachim, Volkmann, Draeseke und Raff), allerdings setzten sich seine Ideen praktisch ausschließlich außerhalb Deutschlands durch, nämlich in Frankreich (Saint-Saens), Böhmen (Dvorák, Smetana) und Russland (Mächtiges Häuflein).

  • Ich fürchte, daß dieser Thread ein sehr komplexer, schwieriger wird, weil sich nur sehr wenige heute mit dieser Materie auseinandergesetzt haben. Was mir auf den ersten Blick auffällt, daß die "Konservativen" - trotz zahlenmäßiger Übermacht - sieht man von Brahms ab - heute zwar nicht unbedingt vergessen sind - aber dennoch im Bewusstsein der Mehrheit heutiger Hören weit weniger verwurzelt sind als ihre Kontrahenten. Es ist schwierig - Wo beginnen ?
    Inwieweit ging es hier nur um künstlerische Auseinandersetzungen, inwieweit war persönliche Feindschaft im Spiel. Wie war das persönliche Verhältnis von Brahms und Bruckner, wodurch wurden die beiden zu den jeweiligen Gallionsfiguren, bzw waren sie das überhaupt - oder ist das nur stark vereinfachend ?
    mir freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Was mir auf den ersten Blick auffällt, daß die "Konservativen" - trotz zahlenmäßiger Übermacht - sieht man von Brahms ab - heute zwar nicht unbedingt vergessen sind - aber dennoch im Bewusstsein der Mehrheit heutiger Hören weit weniger verwurzelt sind als ihre Kontrahenten.


    Das ist sicherlich so, dennoch sah das gerade im 19 Jhd völlig anders aus. Es wird ja gerne behauptet die Mendelssohn/Schumann-Richtung sei eine "Sackgasse" gewesen. Über den Begriff könnte man ohnehin lange debattieren, aber wenn man bedenkt, dass bis in die 1910er Jahre der sogenannte "Klassizismus" die Hauptströmung in der deutschen Musik war, dann relativiert sich diese Betrachtungsweise auf jeden Fall. Ich behaupte - wie bereits im zuvor im Thread Was bedeutet "Romantik"? - dass der Durchbruch der neudeutschen Richtung erst durch Richard Strauss ermöglicht wurde - und zwar fast ausschließlich, denn Mahler war als Komponist zu seinen Lebzeiten nicht annähernd so erfolgreich wie Strauss.

  • Wie war das persönliche Verhältnis von Brahms und Bruckner, wodurch wurden die beiden zu den jeweiligen Gallionsfiguren, bzw waren sie das überhaupt - oder ist das nur stark vereinfachend ?


    Ich denke, Bruckner wird erst seit relativ kurzer Zeit - und das hauptsächlich im deutschen Raum - als gleichwertiger Konkurrent Brahms' angesehen. Nach Bruckners Tod gab es nicht viele führende Musiker, die sich für seine Musik eingesetzt hätten. Weder Mahler noch Strauss, und Pfitzner erst recht nicht.

  • Ich habe gerade keine Zeit den alten Thread nochmal nachzulesen, aber m.E. war die Auseinandersetzung Ende des 19. Jhds. weitgehend obsolet geworden. Wenn man von einer "Durchsetzung" der Neudeutschen durch Strauss sinf. Dichtungen der 1890er Jahre sprechen will, meinetwegen, aber das war ja nicht einmal 20 Jahre lang relevant, weil schon im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts ganz andere Musik "neu" war. Jemand wie Schönberg steht sowohl Brahms als auch Wagner nahe und komponierte ja anfangs die sinf. Dichtung "Pelleas & Melisande" und "Gurre-Lieder" (die wohl auch dem Gigantismus von Berlioz, Liszt, Strauss näher stehen als Brahms).


    Als "Durchsetzung" der Neudeutschen würde ich eher den zunehmenden Einfluss Wagners spätestens in den 1870ern sehen. Das war kein später, aber bedeutungsloser "Sieg" wie der Erfolg der Tondichtungen von Strauss, sondern ein ungeheurer Eindruck, nicht nur in der Musik.


    Hugo Wolf fehlt noch als prominenter (später) Vertreter der "Neudeutschen" und man müsste natürlich sehen, wie es in Ländern aussah, deren Komponisten sich oft eng an den deutschen Traditionslinien orientierten.


    Bruckner eignete sich als "Gallionsfigur" natürlich noch weniger als Brahms; aber Wolf und andere (Kritiker/Journalisten) versuchten ihn wohl schon als Sinfoniker der Wagner-Fraktion zu propagieren. Freilich war das genaugenommen ein Zugeständnis. Denn Bruckners Sinfonien sind von den Tondichtungen der Neudeutschen oder Wagners Musikdramen ungefähr ebenso weit weg wie die von Brahms.


    Wie gesagt, müsste ich da noch etwas mehr nachlesen, aber einmal ist es plausibel, dass in der ebenfalls ja erst in diesem Jahrhundert entstehenden Infrastruktur von Konservatorien, Konzertorchestern usw. die eher Konservativen dominieren. Zum anderen waren Liszt und später Wagner freilich in ihrem Einfluss, auch organisatorischer und publizistischer Art ganz andere Kaliber als Volkmann u.a. Insofern erhält man auch ein verzerrtes Bild, wenn man Namen abzählt.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich habe den Beitrag 2 absichtlich einfach gehalten, da zu viele Details am Anfang, eine Diskussion gar nicht erst aufkommen lassen. Es mag schon sein, dass Volkmann kein großes Kaliber in der Musikpublizistik war, allerdings schlugen Leute wie Hanslick oder omnipräsente Praktiker wie Reinecke oder die Lachners auf konservativer Seite doch sehr zu Buche. Die großen Musikzentren waren jedenfalls fest in konservativer Hand (Wien, Berlin, Leipzig, Köln, München, etc...), und wenn überhaupt konnte man Überläufer vom neudeutschen ins konservative Lager finden: von Herzogenberg, Raff, Draeseke und, mit Einschränkungen, von Bülow. Liszt war jedenfalls alles andere als darin erfolgreich, seine Adepten bei der Stange zu halten. Zur Zeit seines Todes war der Einfluss Liszts Ästhetik jedenfalls recht klein, auch weil von Bülow nicht mehr so recht von Liszts Orchesterwerken überzeugt war. Wagner ist ein anderes Kapitel. Trotzdem beschränkte er sich eben auf die Oper, wobei seine goßen Musikdramen ja überhaupt nur in Bayern aufgeführt wurden. Seine früheren Werke wie der Tannhäuser waren wesentlich erfolgreicher (und noch nicht von Hanslick beanstandet). Bruckner, Wolf oder gar Rott waren im Vergleich mit Brahms, Dvorák, Tschaikowsky, Saint-Saens, Grieg, etc.. völlig unbedeutend in der öffentlichen Wahrnehmung. Man sollte auch nicht vergessen, dass Beethoven in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen immer prominenteren Platz im Musikleben einnahm. Und als logische Nachfolger Beethovens wurden doch eher die Konservativen, v.a. Brahms, gesehen. Das geht jedenfalls aus Bemerkungen von Bülows und anderer ganz klar hervor.

  • Man sollte nicht vergessen, dass die Romantik mindestens bis 1950 dauerte, und wenn sie in Deutschland um 1820 begann, wäre 1885 gerade die Halbzeit. Insofern kommen Strauss und Mahler nicht erst ganz am Schluss sondern ab der Hälfte der Epochendauer, Strauss dann bis zum "Ende" - jedenfalls bis zum allmählichen Marginalisieren der Strömung ab 1950.


    Im 20. Jahrhundert dürfte auch bei den Generationen nach Strauss und Pfitzner der Einfluss von Brahms der größte gewesen sein - aber vielleicht nur vordergründig, die Wagnersche Harmonik hat sich schon ziemlich durchgesetzt.


    Die Zuordnung folgender Namen wird jedenfalls nicht so einfach sein:
    * ab 1870
    Paul Graener, Siegmund von Hausegger, Heinrich Kaspar Schmid, Franz Schmidt, Richard Wetz, Sigfried Karg-Elert, Julius Weismann, Hermann Zilcher, Joseph Marx, Walter Braunfels, Hans Gál, Egon Kornauth, Erich Wolfgang Korngold, etc.


    Ich kenne sie auch zu schlecht (Graener und Kornauth noch gar nicht) und wahrscheinlich sind nicht alle so homogen wie der Sinfonienzyklus von Wetz, der in ihnen eine vorsichtig modernisierte Brucknernachfolge betrieb. Hauseggers Natursinfonie ist klar Strauss/Mahler. Von Schmid, Weismann und Zilcher kenne ich Brahmsisches in Wagner-Harmonik. Wohin mit Schmidt, Marx, Braunfels und Korngold? Ich würde sie eher in die Bruckner/Strauss-Richtung geben. Man sollte nicht vergessen, dass die Genannten zum Großteil äußerst erfolgreiche Komponisten waren.

  • Man entschuldige, daß ich hier so (mehr odere weniger unqualifiziert) in diese doch sehr spezifische Thema platze - aber, wie sah es denn in der Tat mit den Kritikern aus ? Hanslick ist ja bis heute bekannt, wie sah es aber mit der Gegenseite aus, also "neudeutschfreundliche Kritiker ? Und dann sind da natürlich auch die Leiter der Konzerthäuser und das Publikum - Wie war hier die "allgemeine Stimmung "? Es wundert mich immer wieder daß im Internet so relativ wenige Kritiken aus dieser Zeit zu finden sind, man muß sie mühsam - wenn überhaupt - aus diversen Booklets zitieren.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Da kenne ich mich nicht aus - bin aber kürzlich auf Friedrich von Hausegger (1837 - 1899), den Vater des Natursinfoniekomponisten gestoßen. Der war in Graz einflussreicher Kritiker und Theoretiker und Wagnerianer.

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  • Aus der Generation vorher sind natürlich von Schumann zahlreiche Rezensionen überliefert. Er war ja auch ein Pionier des Musikjournalismus. Zwar gab es schon am Beginn des 19. Jhds. teils recht ausführliche Rezensionen in Zeitschriften (am berühmtesten Hoffmanns zu Beethovens 5.), aber ich glaube, dass die von Schumann mitbegründete Neue Zeitschrift für Musik eine der ersten spezialisierten periodischen Publikationen gewesen ist. Witzigerweise war die Zeitschrift dann unter Schumanns Nachfolger Brendel um 1860 Sprachrohr der "Neudeutschen".
    Diese Auseinandersetzung in den 1860ern fand meinem Eindruck nach hauptsächlich auf der Ebene der Kritiker statt. Dabei waren natürlich Wagners Schriften relevant, weil der mit der Propagierung des "Kunstwerks der Zukunft" mehr oder weniger den ideologischen Rahmen lieferte. Nach dem, was ich schnell in der englischen wikipedia u.a. überflogen habe, hatte Wagner, sobald er einmal etabliert war, kein großes Interesse mehr an den Auseinandersetzungen, zumal er ja eh keine Instrumentalmusik komponiert hat.


    Dass in der Instrumentalmusik die "Klassizisten" (wobei noch die Frage wäre, ob man die überhaupt so zusammenfassen kann!) dominieren mussten, ist doch kaum verwunderlich. Kammer- und Klaviermusik spielten für die Neudeutschen kaum eine Rolle. In der Kammermusik gab es kaum Alternativen zu den traditionellen Formen, allein Schumann hat hier eine größere Anzahl von oft kürzeren (Fantasie)stücken, jedenfalls nicht in Sonatenanordnung komponiert, aber auch der hat mehr im groben Rahmen traditionelle Stücke. Programmatische Kammermusik wie das "Müllerin"-Quartett Raffs oder Smetanas "Aus meinem Leben" scheinen ebenfalls die Ausnahme zu bleiben.
    Andererseits dominieren in der Klaviermusik selbst bei den Traditionalisten wie Brahms Nicht-Sonaten, obwohl explizite Programm-Stücke auch nicht häufig sind.


    Ernstzunehmende Opern gab es dagegen kaum welche von den Traditionalisten, erst am Ende des Jahrhunderts wird das wieder komplizierter. Aber hier war Wagner unangefochten und auch ein Komponist wie Pfitzner, der in der Instrumentalmusik wohl kein "Neudeutscher" gewesen ist, folgt dem Wagnerschen Musikdrama.


    Hausegger, von Schillings und von Recnizek wären wohl auch noch als späte Neudeutsche zu nennen?
    (Und die Busch-Brüder, die als Buben einen Brief an Strauss geschrieben haben sollen, er möge doch bitte keine Tondichtung zu Max&Moritz schreiben, da sie gerade an einer solchen arbeiteten...)

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  • Ein sehr bedeutender Kritiker war auch Franz Brendel, der Schumanns Zeitschrift übernahm und bald zum Sprachrohr Wagners wurde. Feuilletonitisch waren die Neudeutschen tatsächlich sehr gut aufgestellt, im tatsächlichen Musikleben sah es aber nun einmal anders aus. Sicherlich hat auch die mangelnde Eignung der neudeutschen Musik für Amateure eine Rolle gespielt, während Komponisten wie Reinecke oder Raff überaus erfolgreich waren mit ihren Werken für Amateure. Dass die Neudeutschen die Klaviermusik nicht ernst genommen hätten sehe ich allerdings nicht so, denn was wäre dann mit Liszt, dem Klavierkomponist schlechthin? Auch Draeseke hat eine berühmte neudeutsche Klaviersonate in seiner Jugend geschrieben. Generell wirkten sich allerdings die Klavierwerke Beethovens und vielleicht Schumanns etwas lähmend auf die Nachfolger aus, denn man glaubte offensichtlich nicht wirklich da mithalten zu können. Die meiste Produktion in der Klaviermusik nach Schumann scheint mir denn auch mit der Ausnahme Liszts und Brahms' eher zweitklassig zu sein. Das gilt nicht nur für Deutschland. Saint-Saens, Dvorák, Smetana, Tschaikowsky, etc.. haben sich kaum ein Profil als Klavierkomponisten (d.h. für Klavier solo!) erarbeitet. Ausnhamen wären Grieg und Fauré (dessen bedeutende Werke entstanden aber eher spät). Erst mit Debussy und Skrjabin geht es wieder richtig los.

  • Reubkes Klaviersonate nicht vergessen ...
    Theodor Kirchners Klavierstücke waren Clara Schumann zuerst zu wenig regelkonform (Sprünge aus Dissonanzen oder so). Aber die romantischen Klavierstücke entziehen sich ohnehin der Zuordnung klassizistisch/neudeutsch, oder?

  • Reubkes Klaviersonate nicht vergessen ...
    Theodor Kirchners Klavierstücke waren Clara Schumann zuerst zu wenig regelkonform (Sprünge aus Dissonanzen oder so). Aber die romantischen Klavierstücke entziehen sich ohnehin der Zuordnung klassizistisch/neudeutsch, oder?


    Darauf wollte ich mehr oder weniger hinaus. Es gab, soweit ich sehe, keinen Versuch der Klassizisten in der Weise weiter Klaviersonaten zu komponieren wie das bei Sinfonien der Fall gewesen ist. Die Klaviersonaten von Mendelssohn, Schumann und auch Brahms sind eher nicht ihre Hauptwerke für das Instrument.
    Es gibt natürlich hervorragende Einzelstücke wie Liszts oder Brahms 3. Sonate u.a. und es gibt Stücke mit poetischen Titeln, besonders von Liszt, die man vielleicht als eine Art Tondichtungen f. Klavier ansprechen könnte.


    Sicher gab es auch unterschiedliche Ideen, wie Klaviermusik auszusehen habe, aber die Unterschiede lassen sich meinem Eindruck nach schlecht an den "Lagern" ausrichten. (Auch wenn Liszt kaum so etwas wie die Händel-Variationen geschrieben hätte (andererseits B-A-C-H für Orgel...), bin ich bei den etüdenartigen Paganini-Variationen nicht so sicher. Brahms' Balladen könnte man ebensogut poetische Titel verpassen und die erste ist ja auch mit Herders "Edward" assoziiert.)
    Für den bedeutendstens Theoretiker und Komponisten der "Neudeutschen" war dem Musikdrama alles nachgeordnet. Wie genuin wagnersche Instrumentalmusik, die nicht direkt auf ein Drama bezogen ist, aussehen hätte können, haben wir nur eine Andeutung in Form des "Siegfried-Idylls".


    Liszts Einfluss mag am stärksten in der Klaviermusik gewesen sein, die sich schlecht in die Kontroverse einordnen lässt. Aber meines Wissens versanken seine sinf. Dichtungen erst am Anfang des 20. Jhds. weitgehend in der Versenkung und wurden vorher durchaus wahrgenommen. Ich weiß das nicht genau, aber würde auch vermuten, dass sinf. Dichtungen von Komponisten wie Smetana oder Cesar Franck (und mutmaßlich noch zig heute vergessene bis zur Jahrhundertwende) nicht unbeeinflusst von Liszt gewesen sind. Insbesondere ist aber natürlich Wagners Einfluss, nachdem er einmal mächtig geworden war, nicht auf die Oper begrenzt, sondern beeinflusst sehr stark auch Instrumentalmusik in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jhds.
    Man hat ja zB auch Wolfs Lieder als eine Übertragung von Wagnerschen Prinzipien in dieses Genre gesehen.


    Das ist natürlich alles etwas später. Zur Zeit der anscheinend stärksten polemischen Auseinandersetzung in den 1860ern waren die eher Konservativen wohl recht dominant. Aber man kann noch ein Dutzend vom Schlage Volkmanns, Reineckes und Fuchs finden oder die Allianzen der Provinzkapellmeister feststellen, sobald der Superschwergewichtler Wagner einmal Einfluss gewonnen hatte, kann man das nicht einfach quantitativ gegeneinander aufrechnen.

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  • Ja richtig die Reubkesonate - kenne ich leider auch noch nicht. Du hast sicher recht, dass die Klaviermusik weniger nach der Dichotomie konservativ-neudeutsch aufgeschlüsselt wurde. Dank Schumann sozusagen, denn der war der Leitstern von Reinecke etc..

  • Ich weiß das nicht genau, aber würde auch vermuten, dass sinf. Dichtungen von Komponisten wie Smetana oder Cesar Franck (und mutmaßlich noch zig heute vergessene bis zur Jahrhundertwende) nicht unbeeinflusst von Liszt gewesen sind.


    Wie bereits oben von mir geschrieben, war der Einfluss Liszts Orchestermusik sogar gewaltig, allerdings nicht in Deutschland. Sehr an Liszt orientiert haben sich Smetana und Saint-Saens, aber auch Mussorgsky und Rimsky-Korsakow. Bei den Wagnerschen Orchsterwerken würde ich übrigens die symphonische Dichtung "Faust" aus 1844 nicht unter den Tisch fallen lassen. Das ist ein äußerst ernst zu nehmendes Werk - von Tschaikowsky z.B. sehr bewundert.


    Ich glaube weiterhin, dass Du Wagners Einfluss etwas überschätzt - jedenfalls zu seinen Lebzeiten. Nur weil heutzutage die von mir genannten Komponisten keine vergleichbare Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung mehr spielen, heißt das nicht, dass das im 19. Jahrhundert auch so gewesen wäre. Ohne die Förderung Ludwig II. hätte es für Wagner sehr düster ausgesehen. Im Grunde war es der Tod Brahms, der den Ausschlag gegeben hat - bis dahin war "Wagner" mehr oder weniger "unter Kontrolle". Deshalb auch die Sottisen Wolfs etc.. - die Neudeutschen waren einfach frustriert. Es ist ja auch irgendwie ulkig, dass Dvorák, kaum dass Brahms unter der Erde lag, begann seine großen symphonischen Dichtungen zu schreiben.

  • Ich glaube weiterhin, dass Du Wagners Einfluss etwas überschätzt - jedenfalls zu seinen Lebzeiten.

    Die Romantik ging ja nach Wagners Tod noch weiter, und da sollte man dessen Einfluss nicht unterschätzen.
    ;)
    Die Sinfonie mit Chorabschluss wurde nach 1900 recht populär, glaube ich, es ist die Frage ob nur Beethovens 9. oder auch Liszts Faustsinfonie vorbildgebend war?

  • Huch, diese Faust-Ouverture Wagners habe ich anscheinend noch nie gehört...


    Wagner hatte aber den König Ludwig und dann die Festspiele, beides etliche Jahre vor Wagners und Brahms' Tod.
    Es geht mir nicht um bloß "quantitativen" Einfluss und natürlich dauert vieles auch eine Zeitlang, zumal bei so revolutionären Stücken wie den späteren Wagner-Opern.
    Ich stimme auch völlig zu, dass die Auseinandersetzung Traditonalisten-Neudeutsche gewiss nicht das Musikleben von 1850 bis 1900 durchgehend wesentlich bestimmte. Beide Fraktionen waren keine einheitlichen Blöcke (was ein Fall wie Raffs deutlich macht) und wichtige Teile des Musiklebens wie die bürgerliche Hausmusik oder die Chormusik hatten mit der Auseinandersetzung ohnehin nicht so viel zu tun.
    Gleichwohl scheint (nach wikipedia und cpo Booklet) ein "Seitenwechsler" wie Draeseke u.a. aufgrund dieses Seitenwechsels Schwierigkeiten gehabt zu haben, so recht Fuß zu fassen.

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  • Huch, diese Faust-Ouverture Wagners habe ich anscheinend noch nie gehört...


    Na, das Werk wäre ja eigentlich ein Kandidat für ein Meisterwerk jenseits der berühmten deutschen Instrumentalkomponisten der Romantik. Ich habe zwei Aufnahmen des Werks und finde es hervorragend. Mit Liszt und Tschaikowsky kann es jedenfalls mithalten.


    Meine Aufnahmen:


  • Gleichwohl scheint (nach wikipedia und cpo Booklet) ein "Seitenwechsler" wie Draeseke u.a. aufgrund dieses Seitenwechsels Schwierigkeiten gehabt zu haben, so recht Fuß zu fassen.


    Das Problem bei Draeseke war, dass er in seiner Neudeutschenphase sehr vielen Leuten ans Bein gepinkelt hat. Dass er nachher nicht mit offenen Armen begrüßt wurde, überrascht da wenig. Raff sehe ich übrigens zu 90% als konservativen Komponisten und seine Symphonieprogramme kann ich nicht ganz ernst nehmen. Mit Liszt etc.. hat das jedenfalls nichts zu tun.

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  • Die Romantik ging ja nach Wagners Tod noch weiter, und da sollte man dessen Einfluss nicht unterschätzen.
    ;)


    Es gibt ja auch heute noch Komponisten, die "romantisch" komponieren. Deswegen würde ich die Ära der Romantik schon früher enden lassen, nämlich ab dem Zeitpunkt, da sie nicht mehr "Mainstream" und somit bestimmend war. Und dieser Zeitpunkt ist mMn 1910.

  • Naja, bis 1950 war sie schon noch Mainstream, zwar nur ein Mainstream neben anderen, aber das war im 19. Jahrhundert auch so, die italienische Oper der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war auch nicht romantisch.

  • Ich weiß nicht. Große Komponisten d. 20. Jhd: Debussy, Ravel, Strawinsky, Schönberg, Bartók, Janácek, Kodály, Martinu, Sibelius, Prokofjew, Les Six, Ives, Strauss, Nielsen, Berg, Webern, Britten, Schostakowitsch, Nono, Stockhausen, eventuell Pfitzner, etc..


    Wer war von denen Romantiker? Strauss und Pfitzner, mit Abstrichen Nielsen und Sibelius (komponierte ja nach 1910 kaum mehr).

  • Ich dachte, es geht hier um den Mainstream von damals? Gerade in Deutschland wurde die modernistischste Strömung ja mit Aufführungsverbot bedacht und Strauss stand an der ersten Stelle der vom Wehrdienst zu Befreienden, sozusagen Klassik-Gott Nr. 1. Ich habe wirklich keine Ahnung, ob um 1940 in Deutschland und Österreich Webern oder Weismann bekannter war. Die erfolgreichsten Komponisten der moderneren Richtung waren wahrscheinlich Egk und Orff?

  • Wenn wir die Nazizeit jetzt reinnehmen, wird es denke ich etwas zu kompliziert. Warum waren denn Mendelssohn und Mahler so unbeliebt zw. 1933-45... etc...
    Aber ich denke, diese Zeit wäre ohnehin kaum mehr für unsere Überlegungen relevant, denn der "Mainstream" war bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts historisch. Am meisten gespielt wurde also die Musik toter Komponisten - da konnte in puncto Beliebtheit wohl kein Spätestromantiker oder Modernist mithalten.

  • Naja, bis 1950 war sie schon noch Mainstream, zwar nur ein Mainstream neben anderen,

    Ich bin mir da nicht so sicher. Klar, Strauss und Pfitzner, die ja sehr alt wurden, könnte man hier mit Recht anführen und bis in die 1930er auch noch ein paar weitere Komponisten aus dieser Generation wie Rachmaninoff. Aber jemanden wie Korngold sähe ich schon klar als Nachzügler, nicht als Vertreter eines Mainstream der 1930er-50er Jahre. Sibelius sähe ich nur bedingt als "Romantiker" und Nielsen eigentlich noch weniger klar.
    Sicher ist es nicht unproblematisch immer nur die jeweilige(n) Avantgarde(n) als Epochenmarkierer zu nehmen. Es zeigt letztlich wohl wieder nur das prinzipielle Problem solcher Einteilungen



    Zitat

    aber das war im 19. Jahrhundert auch so, die italienische Oper der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war auch nicht romantisch.

    Sondern wie sonst? Sie war anders als die deutsche Romantik, aber es war doch normalerweise auch keine Buffa oder Seria des 18. Jhds. Die Themen (Schottland, Wahnsinn etc.) waren zumindest teilweise typisch romantisch.

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  • Korngold ist sicher ein Komponist, der für seine Generation abseits des Mainstreams wanderte. Aber bei den Komponisten, die um 1880 geboren wurden, ist der Mainstream eher romantisch und Webern und Berg sind die ultramodernistischen Exoten. Dass sie viel bedeutender sind, als die gleichaltrigen spätromantischen Mainstream-Komponisten, steht ja außer Frage. Ich glaube, Uneinigkeit besteht eher darin, was nun "Mainstream" bedeuten soll. Da Felix oben über die öffentliche Wahrnehmung und die Dominanz des Konzertbetriebes und die Provinz schrieb, wird eher nicht Webern gemeint sein können. Wenn also Komponisten wie Volkmann berücksichtigt werden, müssen auch Schmid (1874-1953), Schmidt (1874-1939), Wolf-Ferrari (1876-1948), Karg-Elert (1877-1933), Schreker (1878-1934), Weismann (1879-1950), Zilcher (1881-1948), Marx (1882-1964) oder Braunfels (1882-1954) berücksichtigt werden, die wohl eher den Mainstream definierten als Hauer, Schnabel oder Webern. Unsere heutige Einschätzung als unbedeutende Nachzügler entspricht überhaupt nicht der Prominenz dieser Komponisten zu Lebzeiten. Und wenn das alle keine Romantiker mehr sind, sollte man auch Strauss und Mahler rausschmeißen ...


    Rossini und Donizetti scheinen mir normalerweise nicht als Romantiker angesprochen zu werden, Boieldieu und Auber auch nicht. Seht Ihr das anders?

  • Ich glaube, ich werde mir jetzt antiquarisch einen Konzertführer aus den 50er-Jahren kaufen. Reclam, Knaur oder der von Otto Schumann? Reclam habe ich aus den 80ern, da dürfte viel noch identisch sein, aber was bei der Webern-Generation umgeschrieben wurde, würde mich jetzt schon interessieren.

  • Zitat

    Rossini und Donizetti scheinen mir normalerweise nicht als Romantiker angesprochen zu werden, Boieldieu und Auber auch nicht. Seht Ihr das anders?


    Zumindest WIKIPEDIA sieht sie alle vier als Romantiker (siehe Kategorie ganz unten) -
    ABER sie gehören ganz gewiss nicht zum DEUTSCHEN Musikleben in der Romantik....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

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  • Rosen hat in seinem Buch "The romantic generation" ein Kapitel zur Oper (Berlioz kommt vorher schonmal extra) , bleibt relativ allgemein, wobei es spezifischere Abschnitte zu Bellini und Meyerbeer gibt. (Wagner und mittlerer/später Verdi kommt eh nicht vor, das Buch geht sozusagen nur ca. bis zur Jahrhundertmitte).

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