Orchestermusik des 21. Jahrhunderts

  • Nachdem es hier in verschiedenen Threads immer wieder Diskussionen darüber gibt, ob der Begriff Neue Musik eine zeitliche oder ästhetische Kategorie ist, möchte ich hier einen Thread eröffnen, bei dem diese Diskussion von Anfang an überflüssig ist. Hier gehört Orchestermusik hinein, die nach dem Milleniumswechsel komponiert wurde. Aus pragmatischen Gründen (auch weil oft mehrere Stücke auf einer CD sind) dürfen auch Kompositionen genannt werden, die kurz vorher komponiert wurden und erst in den 2000er Jahren auf Tonträger gebannt wurden. Aber bitte keine Musik von 1930, die erst 2004 zum ersten Mal eingespielt wurde. Also Richtgröße wäre ab 1990 komponiert. Ich stelle mir vor, dass wir hier die stilistische Vielfalt der derzeitigen Musikproduktion darstellen und diskutieren können, denn es gibt inzwischen auch wieder viel neukomponierte Musik, die Mensch ansprechen könnte, die mit der Wiener Schule und den Trends der 50er und 60er Jahre nichts anfangen können.

  • denn es gibt inzwischen auch wieder viel neukomponierte Musik, die Mensch ansprechen könnte, die mit der Wiener Schule und den Trends der 50er und 60er Jahre nichts anfangen können.


    Hallo lutgra,


    gute Idee diesen Therad zu ertellen. Zu dieser Spezies gemäss deines Zitates gehöre ich weitestgehend, da ich mir einiges von diesem "ungeniessbaren Zeug" nicht antue. 8o Und das sage ich als ein Klassikhörer, der gerade dem 20.-21.Jhd sehr aufgeschlossen ist ... aber nicht diese Typen :D !

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Der finnische Komponist Uljas Pulkkis wurde 1975 geboren, studierte erst Mathematik und wandte sich dann 20-jährig der Komposition zu. Seine Musik ist von intellektueller Kälte aber meilenweit entfernt.
    Die Booklet nennt ihn ein Chamäleon, jede Komposition ist in einem unterschiedlichen Stil geschrieben. Dabei verwendet er fast das gesamte Arsenal des 20. Jahrhunderts als Inspirationsquelle. Will man es negativ sagen, ist seine Musik Eklektizismus pur, wer damit ein Problem hat, braucht nicht weiterzulesen. Aber ich habe das Gefühl, dass dieser Rückgriff auf verschiednene bewährte Traditionen und ihre Synthese, die einzige Möglichkeit ist, heute noch Musik zu schreiben.
    Drei Kompositionen trägt die CD, ein knapp zwanzigminütiges Violinkonzert Enchanted Garden (2000), ein Flötenkonzert (2001) und drei Orchesterbilder Symphonic Dali (2002).
    Das Violinkonzert ist vom Tonfall her vielleicht das avancierteste Stück hier. Der Zaubergarten, der sich hier entfaltet, ist kein lieblicher Ort, sondern eher etwas bedrohlich, an jeder Ecke lauern Gefahren in Form von fremden Tieren und wuchernden Pflanzen. Das Stück basiert stark auf Klangfarben und ist deshalb trotz seiner Modernität sehr gut hörbar, zumal die Violinstimme ein guter Begleiter durchs Tondickicht ist.
    Das Flötenkonzert wurde - wen wundert's, die CD erschien bei BIS - für Sharon Bezaly komponiert, und "Gottes Geschenk an die Flöte" liefert natürlich ab. Die Musik ist stilistisch eher am Neoklassizimus orientiert und lässt gelegentlich an Honegger und Hindemith erinnern.
    Noch weiter zurück geht die Reise dann beim Symphonischen Dali, drei Gemälde für Orchester. Hier knüpft Pulkkis direkt an den Impressionismus an, also bei Ravels Daphnis, Debussys La mer und Respighis Römische Trilogie. Vor allem The Colossus of Rhodos, das erste Gemälde, ist von südlicher Sonne durchflutet und kann sich mit den Vorlagen bestens messen. Shades of Night descending ist geheimnisvoll und mystisch und Dawn hinterläßt einen etwas unheimlichen und unwirklichen Eindruck. Die drei Stücke dauern fast 40 Minuten, es liegt also ein veritables symphonisches Schwergewicht vor. Pulkkis kann brilliant orchestrieren und kennt alle Tricks, die man braucht, um beim Hörer Aufmerksamkeit zu erregen.


    Da es für meinen Geschmack viel zu wenig impressionistische Stücke von Ravel und Debussy gibt, bin ich für diese Ergänzung sehr dankbar.


    Klang und Präsentation sind wie meist bei BIS vom Feinsten, dicke Empfehlung.



    Und wer wissen will, was David Hurvitz dazu sagt:


    10/10 A young composer couldn’t ask for a more impressive debut album than this one. On evidence here, Uljas Pulkkis (b. 1975), yet another impressive talent from Finland, is still finding his individual voice, but there’s no doubt at all that he has one. Enchanted Garden, for violin and orchestra, is a study in texture; but unlike so much music by today’s avant-garde, Pulkkis isn’t afraid to intermingle extremely consonant, luscious harmony with the work’s more exploratory timbres. The result is consistently ear-catching in its juxtaposition of diverse elements, and though you’d think it wouldn’t hang together particularly well, somehow it does. Jaakko Kuusisto does an excellent job with a solo that as often as not must embroider the orchestral part rather than stand out front and center.
    The Flute Concerto is written in a very different idiom but represents an equally intriguing blend of theoretically disparate styles. Think of, say, Hindemith or Frank Martin in the orchestral part, mixed with the exoticism of Rimsky-Korsakov (Antar or Scheherazade) in the highly ornate solo writing. I only wish that the finale would have used more distinctive thematic material; but as you can well imagine Sharon Bezaly (for whom the concerto was written) plays the whole work perfectly, with glowing tone and an obvious delight in the broad range of sounds that Pulkkis asks her to make (including quarter-tones in the central slow movement, and plenty of flutter-tonguing).
    Symphonic Dalí consists of three “paintings” for orchestra: The Colossus of Rhodes, Shades of Night Descending, and Dawn. The music is opulent, entirely tonal, and glittering. The booklet notes point out the influence of Respighi, and you can certainly hear in the last movement Pulkkis’ take on “The Birth of Venus” from the Three Botticelli Pictures. If I have any criticism at all it might be that there’s insufficient contrast between the second and third movements (at least until the sun comes up in the latter), and that Pulkkis still tends to orchestrate in blocks, vertically rather than linearly, risking a certain timbral monotony despite his extremely colorful overall palette.
    Still, the music is very appealing, demonstrating the ever-present possibility of achieving originality within a relatively traditional language. All it takes is talent, and that Pulkkis evidently has in abudance. The performances, as suggested above, are uniformly stunning, and so is the SACD sound in all formats. Susanna Mälkki leads the Stavanger Symphony in this unfamiliar music with confidence, and the players respond in kind. As I said at the opening of this review, for a young composer this makes the ideal “calling card”, and this is just as valid an observation for listeners interested in getting to know some strikingly good new music. [6/11/2007]

  • Einer der aktuellen amerikanischen Komponisten, die Musik verständliche und interessante Musik für den Hörer machen (und kein ungeniessbares Zeug komponieren); sodass der Konzertbesucher mit Freude und Begeisterung aus einem Konzert heraus geht, ist Michael Daugherty (geb.1954).


    Ich habe unten ein paar aktuelle CD´s von NAXOS !!! abgebildet, auf die ich hier nicht näher eingehe. Denn dazu kann man im Thread Michael Daugherty - Werke unserer Zeit einiges nachlesen !



    Naxos, 2009, DDD



    Naxos, 2004, DDD



    Naxos, 2008, DDD



    Naxos, 2009, DDD


    Die begeisterungswürdigen Werke auf den diesen empfehlenswerten CD´s entstanden von 2000 - 2007 !

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Die Metropolis CD steht schon bei mir, ich habe sie aber - glaube ich - noch nicht gehört. Und ich kenne auch sonst nichts von diesem Komponisten, das wird sich aber ändern.

  • Nachdem Fonoforum und Spiegel (http://www.spiegel.de/kultur/m…-avantgarde-a-908239.html) anlässlich der Veröffentlichung ihrer ersten CD zeitgleich ein Portrait der 33 jährigen bulgarischen Komponistin veröffentlicht haben, hat sich vielleicht der eine oder andere hier schon überlegt, ob er die CD mal bestellen sollte.


    Ich kann dazu nur sagen: TU ES.



    Nachdem ich letzten Freitag bei EINKLANG die Gelegenheit hatte, mal hinein zu hören (ja, so etwas gibt es in Stuttgart zum Glück noch), war schon nach wenigen Minuten klar, dass ich die haben möchte.


    Tabakova schöpft aus ähnlichen Quellen wie andere osteuropäische Komponisten (Pärt, Vasks, Kancheli, Gorecki) und aus der Folklore ihres Heimatlandes. Sie tut dies derart ungekünstelt und emotional direkt ansprechend, dass man gar nicht mehr auf die Idee kommt, zu fragen, ob das überhaupt noch geht.


    Diese Musik ist weitestgehend tonal und doch ist immer klar, es ist eine Musik von heute. Die vorliegenden fünf Stücke zeichnen sich durch überwiegend kammermusikalische Besetzung und der Beschränkung auf Streichinstrumente aus, in einem Fall wird ein Akkordeon, im anderen ein Harpsichord hingezogen.


    Für mich das absolute Highlight ist das Cellokonzert; das ist m.E. gleich eines der schönsten, das für dieses Instrument je geschrieben wurde. Der langsame mittlere Satz spricht mich emotional so stark an wie wenig andere Stücke. Auch das Eröffnungsstück Insight, ein 10 min Streichtrio, fasziniert vom ersten Ton an. Ich hoffe, es folgen viele, viele Streichquartette.
    Frozen River Flows ist ein interessantes melancholisches Trio für Geige, Akkordeon und Bass. In der Suite in Old Style (Tabakova lebt seit vielen Jahren in England, deshalb die englischen Titel) wird das barocke Violinkonzert (hier aber als Violakonzert) wiederbelebt. Und im abschliessenden Streicherseptett führt Janine Jansen mit blühendem Ton durch stark von der Volksmusik beeinflusste 16 min.


    Ja, ein viel eindrucksvolleres Debut kann man sich kaum vorstellen. Das Cellokonzert wird im November in Frankfurt gegeben (mit Cellistin Kristina Blaumane, die auch auf der CD spielt) und auch Gidon Kremer reist wohl schon mit Tabakova-Stücken im Gepäck durch die Gegend.


    Ich hoffe, dass die Komponistin ihre orchestrale Palette in Zukunft noch erweitert und empfehle diese CD wärmstens.



  • Christopher Rouse, Jahrgang 1949, ist wohl einer der meistgespielten lebenden amerikanischen Komponisten. Diese CD ist die erste, die mir über den Weg läuft (d.h bei mir üblicherweise, dass ich sie second hand für 7-8 € erstanden habe).


    Der Titel "Der gerettete Alberich" macht natürlich neugierig, man denkt an Wagner und liegt auch völlig richtig. Rouse ist Wagnerfan und hat sich wohl öfters schon gefragt, was am Ende eigentlich aus dem Nibelungen wird, er und die Rheinmädchen bleiben ja irgendwie übrig. Das hat er dann vertont in Form einer dreisätzigen Fantasie für Solo Percussion und Orchester. Wobei das Schlagzeug den Alberich verkörpert. Es ist also quasi die Sequel zur Götterdämmerung und fängt dann so an, wie diese aufhört, mit den letzten Takten des Orchesternachspiels als direktes unverfälschtes Zitat. Und dann legt der Niebelung los und zwar mächtig. Schlagzeug-Superstar Evelyn Glennie kann hier ihr gesamtes Können zeigen und ein mächtiges Feuerwerk abbrennen. Musikfreunde, die wie ich eine Rockvergangenheit haben und in grauer Vorzeit Drummern wie Jon Hiseman oder Bill Bruford ehrfürchtig zugehört haben, werden ihre Freude haben. Im Orchester tauchen dann regelmäßig verschiedene Leitmotive aus dem Ring auf, üblicherweise solche die mit Alberich zusammenhängen. Das ist geschickt in die moderne Orchestersprache integriert ohne dass es plump wirkt. Sehr ernsthafte Wagnerianer mögen das als Sakrileg empfinden, mir hat es Spaß gemacht. Wie häufig man ein derartiges Stück hören möchte, ist natürlich eine andere Frage.


    Mit diesem knapp halbstündigen Stück kann man auch seine Anlage herausfordern, man sollte aber mit geringem Pegel anfangen, es kommen unvermittelt ein paar Hammerschläge, die den werten Boxen eventuell Schaden zufügen könnten.


    Das zweite Stück Rapture ist eine symphonische Dichtung von 13 min Länge, die ruhig beginnt und sich dann mächtig steigert, teils wird man an Impressionismus, teils an Sibelius erinnert. Zum Schluss wieder mächtig Schlagwerk, das scheint eine Spezialität von Herrn Rouse zu sein. Passt ja auch zum Namen :D .


    Mit hohen Erwartungen dann das Violinkonzert aufgelegt, zumal ich den Geiger Cho-Liang Lin sehr schätze. Hier dann aber leider Fehlanzeige, viel Noten, wenig Musik, lediglich eine 3-4 min Passage gegen Ende des zweisätzigen Werkes konnte mein Interesse finden. Das ruft nicht nach einem zweiten Hördurchgang.

  • Es ist durchaus verdienstvoll, dass lutgra hier den in Deutschland bisher wenig bekannten Komponiisten Christopher Rouse vorstellt. Allerdings sind die beiden wichtigsten Weke, nämlich "Der gerettete Alberich" und das Violinkonzert noch im 20. Jahrhundert komponiert und veröffentlicht worden. Lediglich das kurze "Rapture" ist auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert - im Jahr 2000 - entstanden.


    LG
    Portator

  • Es ist durchaus verdienstvoll, dass lutgra hier den in Deutschland bisher wenig bekannten Komponiisten Christopher Rouse vorstellt. Allerdings sind die beiden wichtigsten Weke, nämlich "Der gerettete Alberich" und das Violinkonzert noch im 20. Jahrhundert komponiert und veröffentlicht worden. Lediglich das kurze "Rapture" ist auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert - im Jahr 2000 - entstanden.


    LG
    Portator

    Das hast Du natürlich völlig recht, deshalb habe ich beim Eingangsbeitrag auch den Begriff Musik des 21. Jahrhunderts etwas gedehnt. Es freut mich aber, dass Du die Vorstellung des Komponisten begrüßt. Kennst Du andere Werke von ihm?

  • Nein, lieber lutgra, ich kenne bisher keine weiteren Werke von Rouse. Den Alberich habe ich vor einigen Wochen live in der Düsseldorfer Tonhalle gehört und mich anschließend dem Komponisten etwas mehr zugewandt. Ich bin aber noch nicht weit gekommen.


    Den Orchesterpart spielten die Düsseldorfer Symphoniker unter ihrem Noch-Chef Andrey Boreyko. Das Percussionssolo übernahm der Brite Colin Currie. Das Stück hat mich beeindruckt, da man es als wirklich seriös und nicht als ein Lustigmachen über Wagner ansehen muss. Der Solist wurde durch die Vielzahl der von ihm zu bedienenden Percussionsinstrumente, die zum Teil weit auseinander standen, gut in Bewegung gehalten.


    LG
    Portator

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  • Sein Werk, seinen Stil habe ich erst kürzlich entdeckt und bin fasziniert. Er schrieb auch schon vor 2000, aber er ist ja noch lange nicht im Rentenalter. Vielleicht bei Gelegenheit mehr dazu. Nur so viel: Ist das modern oder postmodern? Wohl Letzteres, aber ganz gewiss nicht im Sinne bloßer Neuromantik, obwohl auch davon enthalten ist. Manchen hier im Forum wird er zu modern sein - ob er Holger Kaletha nicht modern genug ist? Wir wissen es (noch) nicht ... :P



    Ich kenne nur diese beiden CDs. Das soll sich ändern. Allerdings scheinen die laut Wikipedia doch recht zahlreichen Werke seit 2000 leider noch nicht in breiter Palette verfügbar.


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Zu Pascal Dusapin gibt es bereits einen (kurzen) Thread, in dem auch das Erscheinen der "7 Solos" auf CD gelobt wird:


    Dusapin, der Literat


    "In den frühen 90igern wollte ich fort von den 10-20 Minuten vorgeschriebener Dauer für die meisten der in Auftrag gegebene Orchesterstücke." So (frei übersetzt) beginnt die Einführung und Erläuterung im Beiheft. Er benennt die "7 Solos" als einen Zyklus 7 verschiedener Formen.



    Ich habe sie oft einzeln angehört, es ist eine schöne und spannende Musik.


    Dieser Zyklus (insgesamt) ist das längste mir bekannte Orchesterwerk nach 1990.

    Julius

  • Ich höre Musik der Gegenwart eher im Konzert, deshalb muss ich hierzu etwas nachdenken und vor allem meine Sammlung aufstocken ...
    Sehr schön war vor ein paar Jahren ein Flötenkonzert von Sciarrino, das unser Mitglied teleton auch gehört hat (in Donaueschingen) und furchtbar fand.
    ;)
    Auch "Chor" für Orchester von Jörg Widmann von 2004 hat mich sofort beeindruckt.
    Und dann noch ein Stück von Jay Schwartz, dessen Namen ich mir nicht gemerkt habe, was mich nicht wundert, wenn ich auf seiner Homepage lese, das seine Orchesterwerke "MUSIC FOR ORCHESTRA I" etc. heißen.

  • Von Carson Kievmann hatte ich bis heute nachmittag noch nie gehört. Bei meinem Second Hand Händler fiel mir die CD mit seiner 2. Symphonie in die Hände. Die Länge (56:45 min) und die Satzbezeichnungen (Prerequiem, Elegy, Passage, Resurrection) weckten mein Interesse, ich kaufte die CD und wurde nicht enttäuscht.



    Die Symphonie wurde 1991 zum 200. Geburtstag von Mozart komponiert (deshalb vermutlich die 42 in Klammern). Bei den ersten drei Sätzen gibt es allerdings keinerlei Bezug zu Mozarts Musik, jedenfalls höre ich sie nicht. Überhaupt ist es schwierig, die Musik einzuordnen, die Referenzpunkte, die mir vor allem zu den elegischen Passagen (ca 50% der Symphonie) einfallen wären später Mahler, DSCH und Pettersson. Die Musik ist zur gleichen Zeit entstanden wie die zu "Das Schweigen der Lämmer" und auch zu Howard Shore gibt es Anknüpfungspunkte. Aber eben nur Anknüpfungspunkte, die Musik ist doch recht eigenständig, abwechslungsreich, brodelnd, mit viel Schlagwerk, häufig ziemlich dissonant, aber doch immer irgendwie noch resttonal verankert. Eine sehr typische Eigenheit sind sliding notes also Glissandi des ganzen Orchesters. Die 13-minütige Elegy ist sehr bewegend und kann mit berühmten langsamen Sätzen mithalten. Der letzte Satz mit Chor mündet 5 Minuten vor Ende ins Lachrymosa aus Mozarts Requiem, wie eine Erlösung nach all den Turbulenzen vorher. Aber auch dies wird durch die Zeit weitergereicht, wird zu Mahlers Requiem (gibt es natürlich nicht), zu Pendereckis, zu Ligetis und bricht abrupt ab.


    Ein ungewöhnliches Stück zeitgenössischer Musik, theatralisch, faszinierend.

  • ,
    Auf Fazil Says 1.Sinfonie Istanbul (2010) folgen nun die 2. (Mesopotamia) und 3. Sinfonie (Universe) auf CD.
    Mir gefällt,was Say komponiert.Ich freue mich schon jetzt auf weitere Werke von ihm.

    mfG
    Michael


  • Eigentlich stand diese CD auf meiner Einkaufsliste. Nachdem ich entdeckt habe, dass es auf youtube das Stück mit den Helsinki PO bereits gibt (die das vermutlich ebenso kompetent spielen), nehme ich Abstand vom Kauf.


  • John Luther Adams (1953-) (nicht identisch und verwandt mit dem bekannten Komponisten John Adams) ist ein amerikanischer Umweltaktivist und Komponist, der seine musikalischen Anregungen oft aus der Natur empfängt. Seit 1978 lebt und arbeitet er in Alaska.


    Dieses Jahr gewann er mit seiner Orchesterkomposition Become Ocean den renommierten Pulitzer Preis. Anfang Oktober erscheint dieses Stück auf CD:



    Auf der website des Komponisten findet sich ein Trailer mit Ausschnitten und Kommentaren von Ausführenden und Zuhörern, die aufzeigen, dass offensichtlich viele Menschen von dieser Musik tief beeindruckt waren.


  • Über die Musik des estnischen Komponisten Erkki-Sven Tüür wurde hier im Forum schon häufiger berichtet und Tamino JL hat auch eine umfangreichere Biographie eingestellt.
    Trotz meiner Affinität zu nordischer Musik kenne ich die Musik von Tüür bisher kaum. Die 6. Symphonie "Strata" lerne ich jetzt erst kennen. Dies 32-minütige Symphonie in einem Satz zu beschreiben, ist gar nicht so einfach. Es handelt sich um eine Komposition, deren gestaltendes Mittel der Orchesterklang selbst ist. Es gibt also kaum Motive oder melodische Fetzen, die irgendwie "verarbeitet" werden, sondern die Klänge fliessen ineinander über so dass etwas fast hypnotisches entsteht. Dabei sind die Klänge selten so, dass sie einen verschrecken, man badet aber auch nicht nur im Wohlklang. Ich kann mich jedenfalls wunderbar für eine halbe Stunde mit Kopfhörer in diesen Klangwelten versinken lassen.
    Das Stück ist der charmanten (und ziemlich attraktiven) estnischen Dirigentin Anu Tali und dem von ihr und ihrer Schwester gegründeten Nordic Symphony Orchestra gewidmet und erfährt eine klanglich hervorragende Darstellung.
    Das zweite Stück Noesis für Klarinette, Violine und Orchester mit den Geschwistern Widmann muß ich noch hören.


    Zwischenbilanz: mit Tüür wurde für mich eine neue Tür aufgestossen, durch die ich bereitwillig schreite.


    Anu Tali

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  • Auf YouToube ist offenbar nur die Sinfonie Nr.4 (Magma) für Schlaginstrumente und Orchester (2002) als Ganzes verfügbar. Dort in 3 Dateien für die 3 Sätze.


    Dein Zitat könnte man auch hier anbringen:

    Zitat

    Dabei sind die Klänge selten so, dass sie einen verschrecken, man badet aber auch nicht nur im Wohlklang.


    Aber man kann bei der 4 im Klang baden.
    Die Sinfonie Nr.4 wird dort von Paavo Järvi mit dem Estonian National PO geleitet; es spielt die bekannte Schlagzeugerin Evelin Glennie, die schon mehrfach bei den neuen Werken mit Schlagzeug von Michael Daugherty die Erst-/und Uraufführungen bestritten hatte.


    Die Türe zu Tüür habe ich hier bei der Sinfonie Nr.4, schon wegen des Schlagwerkes, auch gerne neu durchschritten.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Christopher Gunning - Jahrgang 1944 - ist ein bekannter englischer Komponist und Dirigent von Film- und Fernsehmusik, der auch schon mehrfach ausgezeichnet wurde. Er hat offensichtlich beschlossen, nicht nur "Gebrauchsmusik" zu hinterlassen, sondern Anfang des neuen Jahrtausends auch mit der Komposition von Symphonien begonnen. Sieben sind es bereits und Aufnahmen der beiden letzten sind unlängst erschienen.


    Und - nicht überraschend - der Mann kann wirklich Musik schreiben und ist ein hervorragender Orchestrierer. Stilistisch bewegen sich diese beiden Symphonien fest in der englischen Tradition eines Ralph Vaughan Williams oder Malcolm Arnold mit starken impressionistischen Einschlägen. Die Musik ist weitgehend tonal und verlässt nicht den von den oben Genannten vorgegebenen Rahmen. Das klingt alles sehr gut und macht Spaß zu hören, wenn es vielleicht auch nicht die tiefsten Gefühlsebenen anspricht. Die Aufnahmen mit dem hervorragenden Royal Philharmonie Orchestra unter der Leitung des Komponisten können wohl nicht besser sein.
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    Aufnahmen der Symphonien 1, 3, 4 und 5 gibt es auch bereits, die muß ich noch kennenlernen.


    Die Webpage des Komponisten findet man hier.

  • Ville Matvejeff ist ein 1986 geborener finnischer Komponist, Dirigent und Pianist, der antritt, die erstaunliche Reihe finnischer Komponisten im 20. Jahrhundert im 21. fortzusetzen. Z.Zt. ist er Chefdirigent der Jyväskylä Sinfonia und ist Gast beim Avanti! Chamber Orchestra, Helsinki Philharmonic Orchestra, Turku Philharmonic Orchestra, Oulu Sinfonia, Orchestre Philharmonique du Luxembourg, Estonian National Symphony Orchestra, Rijeka Opera, Sinfonia Lahti, Sonderjylland Symphony Orchestra und Tapiola Sinfonietta. Er hat als Assistent unter Esa-Pekka Salonen und Leif Segerstam gearbeitet und mit 18 sein Konzertdebut als Pianist gegeben. Es begleitet regelmäßig Sopranistin Karita Matilla.


    Als Operndirigent hat er Mozart’s Le Nozze di Figaro, Saint-Saëns’ Samson et Dalila und Aribert Reimann’s Lear dirigiert sowie zeitgenössische Werke wie Kimmo Hakola’s Akseli Mikko Heiniö’s Eerik XIV dirigiert.


    Die vorliegende Alba CD ist zwei Orchesterstücken gewidmet, von denen das gut 15 min Cellokonzert hier kurz vorgestellt werden soll. Das Stück trägt den Titel: Crossroads - Fantasy in heavy style for cello and orchestra. Es handelt sich um ein hochzugängliches Instrumentalwerk, das seine Anregungen aus der Minimal- und der Rockmusik bezieht. Dabei ist es keineswegs eines dieser "Klassikorchester spielt Rockstücke" Variante, sondern dem Komponisten ist m.E. eine echte Fusion beider Stilrichtungen gelungen. Die minimalmusikartigen rhythmischen Pattern liefern eine Grundlagen, über der das Cello Sololinien spielt, die auch ein virtuoser Gitarrist spielen können müsste. Insgesamt ein ausgesprochen interessantes neues Werk, das ein weiteres Mal zeigt, dass es in der neuen Musik noch Dinge zu entdecken gibt, die nicht verkopft und ungeniessbar sind. Als Cellokonzert ist dies Werk IMO ähnlich erfolgreich wie das in Beitrag 6 vorgestellte von Dobrinka Tabakova. Ich denke darüber nach, diesen jungen vielversprechenden Komponisten einen eigenen Thread zu widmen.

  • Mihkel Kerem ist ein estnischer Komponist und Violinist, Jahrgang 1981. Er begann bereits als 12-jähriger zu komponieren und hat die dritte Symphonie 2003 als 22-Jähriger vollendet. Neun Streichquartette hat er bereits auf dem Buckel, davon kenne ich aber noch keins. Kerem lebt und konzertiert vor allem auf der britischen Insel.
    Zu seiner dritten Symphonie schreibt er sinngemäß im Booklet. "Als ich 2003 Ideen für die dritte Symphonie sammelte, las ich gerade Dimitri Schostakowitschs "Testimony". Ich realisierte, dass viele Menschen schon keine Idee mehr davon haben, was in der Sowjetunion abging. Ich fand anfangs nicht die richtige musikalische Sprache für meine Symphonie über die Opfer des Kommunismus. Zum Schluß realisierte ich, dass ich das was ich sagen wollte, nur im Stile Schostakowitsch's sagen könnte."


    Und so wurde seine dritte Symphonie ein Werk in der Tonsprache von DSCH, zumindest am Anfang. Es fällt auf, dass über die drei Sätze Adagio - Vivacissimo - Grave hinweg, der Einfluß von DSCH immer mehr abnimmt, so dass im dritten Satz eigentlich keine Rede mehr davon sein kann. Die symphonische Höhepunkte des ersten und zweiten Satzes sind zudem merklich dissonanter als die von DSCH und erinnern dadurch auch ein wenig an die Musik von Andrej Eshpai, spezifisch an Passagen aus der 4. Symphonie. Der letzte Satz ist pessimistisch und endet mit einem langgezogenen Ton, so wie die Pulskurve eines Sterbenden am Ende gerade wird. Eindrucksvolles Werk, das Lust auf mehr von diesem Komponisten weckt.
    Die bei Toccata Classics erschienene CD mit dem Estonian National SO unter Mikk Murdvee lässt klanglich und interpretatorisch keine Wünsche offen.

  • John Luther Adams (1953-) (nicht identisch und verwandt mit dem bekannten Komponisten John Adams) ist ein amerikanischer Umweltaktivist und Komponist, der seine musikalischen Anregungen oft aus der Natur empfängt. Seit 1978 lebt und arbeitet er in Alaska.
    Dieses Jahr gewann er mit seiner Orchesterkomposition Become Ocean den renommierten Pulitzer Preis. Anfang Oktober erscheint dieses Stück auf CD:




    Nicht nur den renommierten Pulitzer Preis
    jetzt auch noch den Grammy
    für die beste zeitgenössische Klassik-Komposition 2014.

    mfG
    Michael

  • Auf den amerikanischen Carson Kievman hatte ich in Beitrag 14 schon hingewiesen. Seine dritte Symphonie von 1995 ist anders aber ähnlich eindrucksvoll wie die zweite. Kievman schrieb sie unter dem Eindruck von Hurricane Andrew, der seinerzeit Südflorida verwüstete. Die Sätze lauten "The Calm before - Windstorm - Aftershock".


    Die Symphonie existiert bisher nur im Netz als Einspielung des Polish RSO Katowice unter Delta David Gier. Für die Aufnahme der 4. Symphonie "Biodiversity" sucht Kievman gerade eine Finanzierung über Crowd Funding. Sie soll nächstes Jahr zusammen mir der 5. eingespielt werden. Eine 6. existiert auch schon.


    Symphonie Nr. 3

  • Mein Interesse an den symphonischen Werken des heute 80-jährigen Sir Peter erlosch vor Jahren relativ schnell bei den frühen Werken (1,2 und 4), die ich alle als ziemlich unverdaulich empfand, graue sich dahin quälende Musik, der ich absolut nichts abgewinnen konnte. Inzwischen ist Sir Peter bei der 10. Symphonie angekommen und ich war interessiert zu erfahren, ob sich durch Alter und schwere Krankheit die Musik diese Komponisten verändert hat. Hat sie, wäre mein Resumee nach dem ersten Hören des 45-minütigen Werkes.

    Die 10. Symphonie ist eine Mischung aus Instrumentalwerk (Satz 1 und 3) und sinfonischer Kantate für Bariton und Chor (Satz 2 und 4). Sie ist dem italienischen Architekten Francesco Borromini gewidmet, der unter Papst Innozenz X zum bedeutenden Architekten Roms wurde, nach dessen Tod aber zunehmend durch Bernini verdrängt wurde und nach schweren Depressionen Selbstmord beging. Der Bariton singt quasi die Klagen des Borromini. Die Tonsprache ist deutlich gemässigter als in den frühen Werken. Der erste 15-minütige Adagiosatz erinnert ziemlich deutlich an den späten Gustav Mahler vielleicht durch die Brille von Charles Ives betrachtet. Abgeklärte Abschiedsmusik eines Komponisten, der nichts mehr beweisen muss. Der erste kürzere Chorsatz mit Bariton ist dem Orff'schen Werke abgehört. Nach kurzem Scherzo, vielleicht der Satz, der am ehesten noch an den frühen Sir Peter erinnert, beginnt das abschliessende 2. Adagio im Impressionismus und endet bei Stravinsky und wiederum Orff.
    Das ist also eine Symphonie mit rückwärts gewandtem Duktus, interessant wie viele Komponisten des 20. Jahrhunderts auf ihre alten Tagen doch beim Spätwerk Gustav Mahlers landen (Penderecki, Weinberg, Schnittke, nun Maxwell Davies). Ob es Sir Peters Schwanengesang wird, bleibt abzuwarten. Die Symphonien 7-9 sind m.W. bisher nicht eingespielt, mich würde interessieren, ab wann das "Spätwerk" von Sir Peter im sinfonischen Reich beginnt.


    Die 10. Symphonie von Andrzej Panufnik wiederum ist als später Nachklang von Sibelius 7. Symphonie zuhören, ein relativ kurzes (15 min) einsätziges Werke, geschrieben für Georg Solti und das CSO, die es auch uraufführten aber m.W. nach leider nicht aufnahmen. Mit jedem Hören gefällt es mir besser.
    Die Live-Darbietungen aus London sind erwartungsgemäß auf hohem Niveau, der Preis für diese brandneue CD mit UA-Material geht in Ordnung.

  • Stacy Garrop ist eine amerikanische Komponistin (Jg. 1969). Die Mythology Symphony ist eines ihrer neuesten Orchesterwerke. Es entstand zwischen 2007 und 2013 und wurde 2015 uraufgeführt von den Kräften, die auch auf dieser CD zu hören sind.
    Es handelt sich nicht um eine Symphonie im klassischen Sinn sondern um fünf Tondichtungen über mythologische Frauengestalten, die Sätze des Werkes lauten:
    Becoming Medusa - Penelope waits - The lovely Sirens - The fates of man - Pandora undone


    Das 40-minütige Orchesterwerk ist in einer Tonsprache gehalten, die ich entfernt irgendwo zwischen frühem Stravinsky und John Williams alias Gustav Holst ansiedeln würde, allerdings mit stark individuellen Zügen, das ist schon eine eigene Klangwelt, die sie hier entwirft. Filmmusik für einen imaginären Film. Das Studentenorchester spielt auf sehr beachtlichem Niveau. Eine lohnende Entdeckung.

  • Jack Gallagher ist ein amerikanischer Komponist, Jahrgang 1947, der mir hier zum ersten Mal begegnet. Seine 2. Symphonie (komponiert 2010-13) dürfte mit 63 min eine der, wenn nicht die längste amerikanische Symphonie sein. Ich kenne jedenfalls keine vergleichbar lange, oder hat Morton Feldman eine geschrieben? :D


    Im Booklet zur CD schreibt der Komponist, dass er das London SO (das hier unter JoAnn Falletta fabelhaft aufspielt) seit den Tagen verehrt seitdem er 1964 die Aufnahme von Stravinsky's Petrushka unter Eugene Goossens besitzt. Beim Anhören seiner Symphonie wurde ich den Eindruck nicht los, dass er hier versucht hat etwas ähnliches zu kreieren. Die Tonsprache bewegt sich also weitgehend im Umfeld des frühen 20. Jahrhunderts viel Stravinsky, aber auch Debussy, Holst, Rachmaninov u.a. sind als Einflußgrößen hörbar sowie die amerikanische Symphonik zwischen Schuman und John Luther Adams. Das alles ist perfekt instrumentiert und komponiert und trotzdem fehlt mir etwas. Und das würde ich als "musikalische Substanz" bezeichnen. Wenn man all die perfekte Instrumentierung und die tollen Orchestereffekte wegnimmt, bleibt kaum noch etwas übrig.


    Vielleicht hatte ich heute einen schlechten Tag, vielleicht habe ich in letzter Zeit zuviel Neues gehört. Ich werde die CD mal weglegen und es in einigen Wochen noch einmal versuchen.

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