Klassisch-romantische Gefühlswelten - so nah und doch so fern?

  • Da es in diesem Forum schwerpunkthaft um Musik geht, die im 18. und 19. Jahrhundert geschrieben wurde, darf die Frage gestellt werden, wie nah und nachvollziehbar die Gefühlswelten, die in diese Kompositionen eingeflossen sind, für uns Heutige eigentlich noch sind? Sprechen uns diese wirklich unmittelbar an, können wir unmittelbar anknüpfen? Oder gelingt uns mitunter nur ein gelehrt-wissendes Nachvollziehen? Oder ist das, was wir hinein hören, mitunter gar ein Missverständnis?


    Die Frage ist entstanden in dem Thread zu vermeintlich überbewerteten Kompositionen, in dem ich einige Passagen aus Sibelius 1. Sinfonie als für mich trivial klingend bezeichnet habe. Was vielleicht daran liegt, dass die Tonsprache dieser Passagen mittlerweile durch ähnlich klingende Filmmusik trivialisiert ist - und damit überdeckt, sodass ein ursprünglicher Zugang für mich nicht mehr möglich ist.


    Wie ist es mit Gefühlswelten wie zum Beispiel in Schumanns Liedzyklus "Frauenliebe und -leben", dem vorgeworfen wird, dass er das Glück des weiblichen lyrischen Ichs vollkommen an der Existenz als Liebende, Ehefrau und Mutter festmacht? Wie ist es mit der Komposition "Ein Heldenleben" von Richard Strauss, in dem er sich selbst zum Helden wilhelminischer Prägung stilisiert? Mit Tschaikowskis "Pathetique"? Sind solche Werke noch unmittelbar zugänglich, oder können sie bestenfalls noch als "Orchesterspektakel" gehört werden?


    Was ist mit den zahlreichen Tränen, die in Liedern des 19. Jahrhunderts vergossen werden? Mit den "Blümelein", "Rößlein" und "Feinliebchen" in der Lyrik? - Ausdrucks- und Sprachformen, die uns fremd geworden sind? Wie hört/lest ihr das heute?


    Um ein Beispiel aus der Literatur zu verwenden: Über Thomas Mann sagte jemand, dass die Ironie, die in seinem Werk ein wichtiges Element sei, bald für Leser nicht mehr nachzuvollziehen ist, weil das Wertesystem, welches sie ironisiert, schlicht nicht mehr geläufig sei.


    Ist das eventuell sogar die größte Gefahr für die klassisch-romantische Musik, viel gefährlicher als Musikindustriekrise und Tonträgerfraß - dass sie vielleicht zukünftig nicht mehr ausreichend verstanden wird?


    Christian

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Ja, da fällt mir spontan ein, was ich vor ein paar Tagen gelesen habe: "Da habe ich wohl einem MÄdel zu tief in die Augen geschaut.". Das sagte Bruckner über, ja hab ich jetzt vergessen, aber es war ein langsamer Satz einer seiner Symphonien. Also etwas, wo wir alle Gottergebenheit und Frömmigkeit hören.


    Andererseits denke ich, dass es gerade eine Stärke der klassischen Musik ist, dass wir sie auch mit UNSEREN Gefühlen füllen können. Denn es muss ja nicht unbedingt "stimmen". Und damit wäre ein gewisser Ewigkeitswert auf jeden erhalten.


    andererseits wiederum fällt mir Bach ein. Zu seiner Zeit, wenn ich recht informiert bin, waren seine Werke eher so etwas wie handwerkliche Auftragsarbeiten um die Messen zu schmücken. Die Tiefe und Bedeutungsschwere (auch wohl die mathematische Komponente) waren damals evtl. so überhaupt nicht intendiert. Also, das wäre mein FAzit, ändern sich auch die Bedeutungen der Musik. Manche Musik hält das aus, andere fallt dann irgendwann durchs Raster - oder taucht plötzlich wieder auf.


    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Zit.: "Wie ist es mit Gefühlswelten wie zum Beispiel in Schumanns Liedzyklus "Frauenliebe und -leben", dem vorgeworfen wird, dass er das Glück des weiblichen lyrischen Ichs vollkommen an der Existenz als Liebende, Ehefrau und Mutter festmacht?"

    Ich erlaube mir den Hinweis, dass es zu diesem Thema einen einen Thread hier in diesem Forum gibt, in dem auf diese Frage ausführlich eingegangen wurde: "Robert Schumann / Frauenliebe und -leben, op.42".

  • Ich persönlich benötige diese "Gefühlswelten" gar nicht. Ich habe eine bestimmte - und hoffentlich nicht ganz falsch Vorstellung davon, was Menschen in anderen Jahrhunderten für Wertesysteme hatten und in etwa habe ich auch eine Vorstellung von ihrem Gefühlsleben. Ich fühle mich unangenehm von der Dummheit der Menschen berührt, wenn sie den Begriff "elitär" als Negativattribut benutzen und nach dem "alle Menschen sind gleichwertig" lechzen, dabei noch gerne über vergangene Jahrhunderte urteilen und ihr Wertesystem des 20/21 Jahrhunderts der Weltgeschichte und Kunst aufzwingen wollen. So wird beispielsweise der autoritäre und intolerante Leopold Mozart oft mit scheelen Augen betrachtet, weil er seine Kinder konsequent erzogen hat, bzw weil er ein hierarchisches Wertesystem nicht in Frage gestellt hat.
    Aber auch in anderen Fragen gibt uns die Sprache einigermaßen Auskunft über die Werte der vergangenen Jahrhunderte.
    Patriotismus war eine positive Charaktereigenschaft, ebenso war der Begriff der "Ehre" mehr als nur eine Phrase, begriffe wie "Liebreiz", "köstlich", und viele andere aus unserem Sprachschatz verschwunden, da mit dem heutigen stark nivellierten Werte- und Emotionssystem nicht kompatibel. Das Wort "brav" ursprünglich dem Wort "tapfer", aber noch näher dem Wort "wacker" (auch im Aussterben begriffen) verwandt hat man im wahrsten Sinne des Wortes kastriert und dem Träger dieser Eigenschaft, Farblosigkeit, Langeweile und kritiklose hündische Ergebenheit angedichtet.
    Man hat Vater und Mutter gesiezt um seinen Respekt den Eltern gegenüber zu bezeugen und den hierarchischen Unterschied zu betoenen. Heute kann es sein , daß an einer Hochschule, die Studenten, den Professor, der nur knapp ein Jahrzehnt älter ist, als sie selbst, mit "Hallo Max" begrüßst. Manch "heiße Zähre" rann über das reine Antlitz des keuschen Mägdeleins, wenn der schmucke Bursche sie verließ, weil seine Liebe erkaltet war. Man mache sich die Mühe und übersetzt die Szene in die heutige Zeit. Es geht nur mit Einschränkungen.
    Ich kann aber - wie man an Hand der von mir im Schnellstrickverfahren gebastelten Beispiele sehen oder erahnen kann - diese Welt für kurze Zeit in meiner Phantasie wiedererstehen lassen. Selbstverständlich bin ich dabei unbeteiligt, genau so wie der Leser eines historischen Berichts Geschichten über Hexenverbrennungen oder die französische Revolution liest.
    Man bekommt von fernen Zeiten erzählt - und je nach persönlichem Informationsstand wird die Imagination mehr oder weniger realitätsnah sein.
    Es ist aber nicht möglich, daß ich mich nun als Jakubiner oder als gefährdeter Adeliger fühle. Meine Rolle ist die des weitgehend neutralen Beobachters - wobei unter Umständen eine gewisse Parteinahme nicht ausgeschlossen ist.
    Es ist richtig, daß man für gewisse ironische Anspielungen das Gefühl verliert - wobei man sich manches anlernen kann.
    Aber es gibt auch Stellen, die erst aus der zeitlichen Distanz eine gewisse Ironie bekommen, die den Zeitgenossen vermutlich verborgen blieben.


    Hier eine Stelle aus "Zar und Zimmermann" wo der Zar sich über die Verräter in seiner Heimat auslässt
    Die Arie wird heutzutage in der Regel gestrichen. Ich gebe hier lediglich die letzten vier Zeilen wieder...


    Zitat

    So sei es denn entschieden, dem Tode weih ich sie;
    Man bessert ja hienieden durch Wohltun Sünder nie!
    Verräterblut soll färben das blanke Henkerbeil,
    Damit sie sühnend sterben, dem Vaterland zum Heil!


    Pathetische Übertreibung des 19. Jahrhunderts ?
    Parodie in einer komischen Oper ?


    Wir können es lediglich erahnen....


    Der Genuss am Werk wird indes dadurch nicht beeinträchtigt....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich denke, diese Frage ist nicht einfach pauschal zu beurteilen, zumal die Frage zu klären wäre, was eigentlich konkret "romantisch" oder "klassisch" ist.
    Aber ich glaube, ungefähr kann man schon denken, was gemeint ist, wenn man die allgemeinen Komponisten berücksichtigt, die mehrheitlich der romantischen Musik zugerechnet werden.
    In erster Linie ist für mich der unmittelbare, emotionale Zugang zu einem Kunstwerk wichtig.
    Natürlich beschäftige ich mich in einem zweiten Schritt mit dem sozio-kulturellen Hintergrund, der ggf. entlegenen Musiksprache, den heute ungebräuchlichen Vokabeln etc.
    Dies führt auch sicherlich zu einem vertieften Verständnis und räumt die ein- oder andere Hürde aus dem Weg, jedoch nützt mir dies wenig, wenn ich zu der Musik nur ein rein rationales, zerebrales Verhältnis entwickle.
    Der direkte, unmittelbare Eindruck der Musik ist das, was für mich zählt. Dabei sind mir diese klassisch-romantischen Gefühlswelten durchaus nahe, wenn ich auch ein Kind des 20. Jahrhunderts bin - und dies war bereits so, ehe ich mich ausführlicher über die Gepflogenheiten dieser Epoche informiert habe.
    Vielleicht kann man da von einer "Seelenverwandtschaft" zu den Komponisten und Dichtern dieser Zeit reden - jedenfalls steht mir ein "Feinsliebchen" sprachlich näher als eine "Hammerbraut", ein "Rößlein" näher als ein "geiler Schlitten" u. v. m.
    Auch die musikalischen Ausdrucksformen dieser Zeit stehen mir überaus nahe - da stellt die Zeit und ihr Wandel keine Barriere dar.


    viele Grüße

  • Ist das eventuell sogar die größte Gefahr für die klassisch-romantische Musik, viel gefährlicher als Musikindustriekrise und Tonträgerfraß - dass sie vielleicht zukünftig nicht mehr ausreichend verstanden wird?


    Die Gefahr gibt es in der Tat, lieber Christian. Weil Musik der immer wieder neuen Aufführung bedarf, entsteht die Illusion, daß sie eigentlich immer präsent, geradezu unsterblich ist. Aber die Hörgewohnheiten ändern sich. Strawinsky sagte mal: Ein Hörer des 18. und 19 Jhd. erwartete, daß bei einem Musikstück die Gattungsnorm erfüllt wird, den Hörer des 20. Jhd. interessiert das nicht mehr, er hört nur noch ein individuelles Musikstück. Verstehen wir also den Humor bei Haydn oder sogar Mahler (4. Symphonie), wo mit solchen Konventionen und Vorerwartungen gespielt wird, der Hörer "gefoppt" wird? Letztlich zeigt das, daß Musik eben doch dieselben Rezeptionsprobleme hat wie etwa Literatur und nicht etwa einfach unmittelbar verständlich ist. Jede Zeit hat ihre Themen. In der romantischen Novelle bis hin zu Thomas Mann kommt die Künstlerproblematik vor, so auch bei Richard Strauss. In diesem Zeitkontext ist der "Inhalt" dieser Musik verständlich. Wir heute müssen uns in vielen Fällen Brücken bauen. Aber das bereichert uns ja auch - wir können unseren Erfahrungskreis erweitern oder auch relativieren - was im Zeitalter der Globalisierung, wo wir mit Erfahrungen anderer Kulturen konfrontiert werden, eine unerläßliche Eigenschaft ist.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Die Musik "funktioniert" ja auch, wenn sie nicht ausreichend verstanden wird. Oder gerade dann...
    Wie im anderen Thread angesprochen, sind viele Hörer von den Sinfonien Beethovens mehr oder minder unmittelbar begeistert. Ein Experte wie KSM ist dagegen irritiert, wenn das Seitenthema in der 8. Sinfonie erst einmal in der "falschen" Tonart erscheint, wenn irreführende Modulationen auftreten usw. Vgl. den Thread "Beethoven ist der irritierendste Komponist, den ich kenne".


    Oder positiv ausgedrückt: Fast alle großartige Musik lässt sich auf unterschiedlichen Ebenen rezipieren.


    Mozarts große g-moll-Sinfonie wurde seinerzeit sicher als ein leidenschaftlich-dramatisches Werk wahrgenommen, 40 Jahre später ist sie für Schumann ein Ausdruck "griechischer Grazie", in den 1980er Jahren gab es auch mal eine Pop-Verwurstung des ersten Satzes.


    Die Zauberflöte war für die Zeitgenossen wahrscheinlich auch ein politisches Werk, für Goethe symbolisch reichhaltig genug, um eine Fortsetzung zu entwerfen, für viele Hörer heute ein albernes Märchen, was ihrer Beliebtheit jedoch kaum einen Abbruch tut.


    Die Musik Mahlers, die vielen bis in die 1960er als sentimental o.ä. galt, trifft mit ihrer Emotionalität anscheinend die Menschen des frühen 21. Jhds. sehr gut.


    Barockopern, die bis weit ins 20. Jhd. als langweilige Aneinanderreihung von Dacapo-Arien, bloßen Vehikeln für die Koloraturkunst der Diven und Kastraten galten, wurden in den letzten Jahrzehnten in ihrem dramatischen Potential erkannt, erfolgreich auf die Bühne gebracht und erfreuen sich steigender Beliebtheit.


    usw.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Verglichen mit Kunstwerken anderer Epochen (etwa der Antike oder der Renaissance) sind Musik und Literatur des 19. Jhds. ja ziemlich nahe an uns dran. Die Konzeptionen von romantischer Liebe oder Liebeskummer, Melancholie, Einsamkeit usw. sind uns nicht so fern. Anderes, was freilich damals schon umstritten und archaisch gewesen ist, vielleicht eher, wie z.B. die Idee, dass man als gutbürgerlicher Gatte selbst Jahre nach einer Affaire der Ehefrau es seiner Ehre schuldig sei, den seinerzeitigen Nebenbuhler im Duell erschießen (oder sich von ihm erschießen zu lassen).


    Ich halte es auch für ein Gerücht, dass, gerade in der Musik, das 21. Jhd. antiromantisch eingestellt sei. Unter der populäreren zeitgenössischen Musik gibt es einiges (zB Kancheli), das ich als "neoromantisch" sehen würde. Und KSM konstatierte neulich, dass Antiromantiker wie Stravinsky oder der frühe Hindemith heute gegen Mahler oder Schostakowitsch in der Beliebtheit zurückgesetzt scheinen.

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  • Ich pflichte Johannes bei, dass dieser Faktor wohl nicht allzu entscheidend sein wird. Überhaupt wird gerne vergessen, dass Vorlieben für Epochen von Land zu Land unterschiedlich sein können. Im protestantischen Westeuropa und in Italien ist die Barockmusik viel beliebter als hier, also Musik einer Epoche, die uns wesentlich fremder ist als das 19. Jahrhundert. In Frankreich schätzt man auch eher die Musik der Vormoderne (also etwa Debussy oder andere Franzosen aus der Zeit). Die Musikvorlieben im deutschen Raum sind extrem auf die deutsche Musik des 19.ten Jahrhunderts fokussiert - mit ein paar Ausläufern Richtung Mozart enierseits und Mahler andererseits. Wenn man Umfragen aus anderen Ländern über die "beliebtesten" Komponisten liest, kommt immer etwas anderes heraus, als man hier erwarten würde. Bach ist immer entweder Erster oder Zweiter. Schubert oder Schumann fehlen meistens unter den ersten 10, dafür gibt es ganz weit vorne Tschaikowski, Rachmaninow, de Falla oder Vivaldi.

  • Dass Bach in Frankreich, Italien oder Russland erst- oder zweitbeliebtester Komponist ist, würde mich allerdings doch erstaunen. Worauf stützt Du diese Vermutung?


    Es wäre jedenfalls eine groteske Diskrepanz zu den offensichtlichen Zentren der "Bach-Pflege" (nicht nur) im späten 20. und. 21. Jhd., wo zwar Niederlande/Belgien und England Leipzig und Dresden abgelöst zu haben scheinen, aber auch die dürften immer noch weit wichtiger sein als die romanischen oder slawischen Länder. HIP war ja lange auf die Zentren in den Niederlanden, England, Basel, Wien, Köln konzentriert und Savall oder die später folgenden französischen und italienischen Ensembles haben sich oft erst einmal (nicht zu unrecht) auf die Alte/Barockmusik der jeweiligen Länder spezialisiert.
    Dass in einem nichtdeutschsprachigen Land (außer vielleicht England und Holland) die Chorwerke Bachs in der Breite/Provinz auch nur annähernd so präsent sind wie in Deutschland (ggf. + CH und A) kann ich mir nicht vorstellen.
    Dass Schubert, Schumann, noch mehr Bruckner im deutschsprachigen Raum weit gängiger sind als in romanischen Ländern, klar. Aber Beethoven und Mozart sind doch mindestens so "international" wie Bach, oder?

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  • Dass in einem nichtdeutschsprachigen Land (außer vielleicht England und Holland) die Chorwerke Bachs in der Breite/Provinz auch nur annähernd so präsent sind wie in Deutschland (ggf. + CH und A) kann ich mir nicht vorstellen.



    Na, frag doch mal bei Glockenton nach, der sitzt in Norwegen. Und England mit Benelux ist halt auch kein Leichtgewicht, sondern gut 90 Millionen Menschen. In Russland hat Bach sicher keinen Vorrangstatus, obwohl es schon auffällig ist, wieviele russische Künstler sich mit Bach beschäftigen. Allerdings punktet dort von den deutschen Komponisten vor allem Beethoven, aber sicher weniger Schumann, Brahms und Bruckner, welche hier so eine große Rolle spielen. Dass auch in Russland Bach vor den letztgenannten kommt, da bin ich mir ziemlich sicher. In Frankreich und Italien ist Bach bei weitem beliebter als die deutschen Romantiker inklusive Beethoven. Dort strebt man vor allem clarté/serenitá an, und da sind Bach und Mozart ganz klar im Vorteil. Bach und Mozart sind so etwas wie ein kleinster gemeinsamer Nenner zwischen den musikalischen Vorlieben "der Nationen" (so generell gesprochen natürlich ein Unsinn, aber in der Tendenz halt...)


    Und welches Barockensemble, egal woher, spielt nicht auch Bach?


    Nachtrag:

    Zitat

    Dass Schubert, Schumann, noch mehr Bruckner im deutschsprachigen Raum weit gängiger sind als in romanischen Ländern, klar. Aber Beethoven und Mozart sind doch mindestens so "international" wie Bach, oder?


    Mozart ja, Beethoven weniger. Die Romanen haben's nicht so sehr mit Beethoven (am ehesten noch die Franzosen).

  • Was ist mit den zahlreichen Tränen, die in Liedern des 19. Jahrhunderts vergossen werden? Mit den "Blümelein", "Rößlein" und "Feinliebchen" in der Lyrik? - Ausdrucks- und Sprachformen, die uns fremd geworden sind? Wie hört/lest ihr das heute?


    Ich lese gerade das hier:

    und finde nur selten etwas "sehr komisch". Selbst Klopstocks Eisläufer hat bei mir keine unfreiwillig humoristische Wirkung. Aber ich bin das eben gewöhnt und es ist mir nicht mehr fremd. StudentInnen werden mir wohl immer fremder bleiben als Feinliebchen, was wahrscheinlich auch durch meine Erziehung bedingt ist.

  • Feinliebchen


    Heißt es nicht Feinsliebchen? Schon im Eingangsbeitrag von Christian war mir das aufgefallen. Und mir scheint, damit fängt es an, sollten wir uns tatsächlich von den "klassisch-romantische Gefühlswelten" entfernt haben. Ich hingegen verschanze mich gern in dieser Welt. Man muss sie sich aber wirklich verteidigen, anders geht es gar nicht. Sonst ist sie weg. Und ich würde mich vieler Dinge selbst berauben, die als Bereicherung meinem Leben Sinn geben. Kurzstueckmeister liest deutsche Gedichts aus dem 18. Jahrhundert, ich auch. Ich höre sie auch gern gelesen. Es gibt eine Sammlung von Gedichten und Balladen, vorgetragen von Gert Westphal, den ich sehr schätze. In einer Rezension im Netz warnte jemand davor mit den Worten, die Kinder würden schreiend davon laufen, weil es ganz fürchterlich sei, was der Mann da lese. Das mache ihnen ja Angst. Nach meinem Eindruck wird in diesen Bemerkungen viel ausgedrückt zu unserem Thema.


    Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Heißt es nicht Feinsliebchen? Schon im Eingangsbeitrag von Christian war mir das aufgefallen.


    Lieber Rheingold,


    ich erlaube mir, darauf hinzuweisen, dass in romantischen Zeiten die Sprache noch nicht völlig Duden-reguliert war - insofern dürfen Feinsliebchen, fein Liebchen und Feinliebchen wohl gar traulich beieinander weilen.


    Wenn uns an solchen Fragen schon die Romantik verlustig gehen sollte, stände es arg - ist uns doch z.B. das h in Athem auch längst abhanden gekommen. Aber vielleicht ist auch das Gegenteil der Fall? Dass Romantik da endet, wo man ihr mit Wörterbuch, Zirkel und Schulmeisterlichkeit zu Leibe rückt..? ;)


    Nichts für ungut


    Christian

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Dass Romantik da endet, wo man ihr mit Wörterbuch, Zirkel und Schulmeisterlichkeit zu Leibe rückt..?


    Mir reicht das Wörterbuch. :) Danke, lieber Christian für Deine Antwort. Meine etymologische Unbildung räume ich sehr gern ein.


    Es grüßt Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Was Lyrik betrifft, ist mir gar nicht klar, ob "wir" es nun schwerer haben im 18. oder im 20. Jahrhundert, wo wir mehr Barrieren zu überwinden haben. Muss ja nicht gleich Klopstock versus Celan sein. Interessant ist die Fragestellung auch, wenn man einer Person aus einer fremden Kultur deutsche Gedichte näherbringen will - es scheint fast, dass ein Mailied von Hölty leichter zu verstehen ist als ein augenzwinkerndes "Alltagsgedicht" von Kästner.

  • Im Deutschlandfunk hieß es neulich, dass in Deutschland das Interesse an moderner bulgarische Lyrik ungebrochen sei und noch zunehme. Da wirst Du es schwer haben mit Klopstock.


    Grundsätzlich stimme ich Dir zu, lieber kurzstückmeister. Gut vorgelesen gewinnt bestimmt der Hölty. Gedichte sind nun mal nicht nur Information. Mir wurde eine Geschichte aus dem Alltagsleben eines sehr berühmten Sängerehepaares zugetragen. Der Mann las seiner Frau Gedichte in einer Sprache vor, die sie nicht verstand. Dennoch schwärmte sie vor Freundinnen davon. Die wunderten sich: "Aber J., du verstehst das doch gar nicht." - Darauf J.: "Aber er liest doch so schön."


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Musik bedarf der Aufführung durch lebende Musiker. Durch diese Vermittlung durch die Aufführungspraxis entsteht nicht nur ein wirkungsgeschichtlicher Zusammenhang, sondern die Musiker bringen selbstverständlich ihre Erfahrungen in die Interpretation der Musik ein. Wir hören keine "klassisch-romantischen Gefühlswelten" an sich, sondern nur solche, wie sie sich für einen Geiger, Pianisten, Sänger des 20. oder 21. Jhd. darstellen. Dem Hörer ist so die Schwierigkeit, sich eine "fremde" Gefühlswelt anzueignen, durch den Interpreten in vielerlei Hinsicht bereits abgenommen. Wenn eine Musik wirklich fremd bleibt oder fremd wird, dann wird sie einfach weniger oder gar nicht aufgeführt. Es gibt Stücke, die haben zu einer bestimmten Zeit "Hochkonjunktur" und später verschwinden sie nahezu völlig aus dem Konzertrepertoire. Einst waren die "Symphonischen Variationen" von Cesar Franck eines der beliebtesten und meist aufgeführten Stücke - und jeder namhafte Pianist hat es gespielt oder aufgenommen. Heute ist dieses Stück fast völlig verschwunden aus den Konzertprogrammen.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zitat

    Musik bedarf der Aufführung durch lebende Musiker


    Das stimmt heutzutage nicht mehr. Es gibt immer mehr Musik, wo es nicht einmal angedacht wurde, dass diese wirklich von Musikern gespielt wird, es sind von Anfang an "Aufnahmen".
    Der Aufwand, der momentan getrieben wird, echte Musiker durch Computerprogramme u.ä. zu ersetzen, ist recht groß. Und er wird nicht ohne Folgen sein. Wie diese Folgen aussehen werden, weiß ich natürlich nicht, aber ich kann mir z.B. gut vorstellen, dass bei Stücken, die zusätzliches Personal benötigen würden, man auf reine Technik zurückgreifen wird.
    Dass auch die Komponiertechniken immer mehr diese Möglichkeiten in Betracht ziehen, ist m.E. unübersehbar.
    Livemusik ist ja auch heutzutage schon eher die Ausnahme.


    Was ich noch sehr bemerkenswert finde in diesem Zusammenhang ist die Tatsache der stetigen Verfügbarkeit von Musik. Wir sehen es auch hier im Forum, wo fröhlich nachts und am frühen Morgen gepostet wird "Was höre ich gerade". Hier wird ja nun überdeutlich, dass das Besondere daran, Musik zu hören, zu früheren Zeiten weitaus bedeutsamer war. Die Musik musste also allein schon deshalb eine völlig andere Wirkung gehabt haben. Die Möglichkeit, für sich allein Musik zu hören, gab es doch praktisch überhaupt nicht, das war immer ein Gemeinschaftserlebnis. Das macht doch sehr viel aus!Das entsprechende "Forum" saß praktisch immer neben einem.


    Insofern halte ich es regelrecht für vermessen, zu glauben, wir wüssten, was man damals empfunden hat. Es ist zu weit von unserer Realität!


    TSchö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Der Aufwand, der momentan getrieben wird, echte Musiker durch Computerprogramme u.ä. zu ersetzen, ist recht groß.

    Wirklich? Es gab mal ein Projekt mit Glenn Gould. Ja. Aber das ist reine Exotik. 99,99% aller Musikliebhaber besitzen keine solche Aufnahme.


    Dass auch die Komponiertechniken immer mehr diese Möglichkeiten in Betracht ziehen, ist m.E. unübersehbar.
    Livemusik ist ja auch heutzutage schon eher die Ausnahme.

    Gerade die elektronische Musik ist dafür ein Gegenbeispiel. Einen Großteil von Stockhausens Kompositionen kann man auf der Hifi-Anlage zuhause überhaupt nicht adäquat wiedergeben. Dazu muß man dann in die Kölner Philharmonie z.B. gehen.


    Was ich noch sehr bemerkenswert finde in diesem Zusammenhang ist die Tatsache der stetigen Verfügbarkeit von Musik. Wir sehen es auch hier im Forum, wo fröhlich nachts und am frühen Morgen gepostet wird "Was höre ich gerade". Hier wird ja nun überdeutlich, dass das Besondere daran, Musik zu hören, zu früheren Zeiten weitaus bedeutsamer war. Die Musik musste also allein schon deshalb eine völlig andere Wirkung gehabt haben. Die Möglichkeit, für sich allein Musik zu hören, gab es doch praktisch überhaupt nicht, das war immer ein Gemeinschaftserlebnis. Das macht doch sehr viel aus!Das entsprechende "Forum" saß praktisch immer neben einem.

    Das ist ein wichtiger Aspekt, finde ich auch. Die Musikkonserve "entsozialisiert" in vielerlei Hinsicht das musikalische Erleben. Aber auch CDs wurden von lebenden Musikern gemacht und viele bevorzugen neue und neueste Aufnahmen, die sie genau deshalb kaufen, weil sie neu sind. Dann gibt es die Sammler von historischen Mitschnitten. Die aber haben ein deutliches Bewußtsein davon, daß dieselbe Musik zu verschiedenen Zeiten ganz anders klingt.


    Insofern halte ich es regelrecht für vermessen, zu glauben, wir wüssten, was man damals empfunden hat. Es ist zu weit von unserer Realität!

    Das ist auch meine Meinung. Auch das Bemühen um historische Aufführungspraxis ändert daran nichts. Man kann sich andererseits schon ein gewisses Bild machen, indem man z.B. literarische Quellen auswertet, wo das Musikerleben von damals reflektiert wird.


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Zitat

    Es gab mal ein Projekt mit Glenn Gould. Ja. Aber das ist reine Exotik. 99,99% aller Musikliebhaber besitzen keine solche Aufnahme.

    Es werden immer wieder ganze Orchester engagiert und dann werden einzelne Töne digitalisiert, aber auch gruppen von Instrumenten usw. Ziel ist es, irgendwann am Computer "echten" Klang produzieren zu können - ohne Orchester.



    Zitat

    Die aber haben ein deutliches Bewußtsein davon, daß dieselbe Musik zu verschiedenen Zeiten ganz anders klingt.

    Das Bewusstsein dafür ist schon vorhanden, trotzdem ist das Erleben eben dann doch ein anderes.

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Ich denke, dass hier die Rolle der Interpretation extrem überbewertet wird, dass sie für die "klassisch-romantischen Gefühlswelten - so nah und doch so fern" eine vernachlässigenbare Größe ist.

  • Um nochmals auf die Literatur zu kommen. Wie Rheingold bemerkt, muß man bestimmte Literatur mögen, man kann sich sogar dahinter verschanzen.


    Mit gefällt "Aus dem Leben eines Taugenichts" oder "Die Leiden des jungen Werthers" 1000 mal besser als ein Machwerk namens "Feuchtgebiete", wo schon die Beschreibung des Inhalts mich davon abhielt, es zu lesen.


    Aber das ist sicher auch der Zeit geschuldet. In meiner Jugend war es das Größte, mit einem Mädchen in der letzten Reihe im Kino zu sitzen, die Hand zu halten und sich dann hinter der Haustür zu verabschieden. Ein Schuß Romantik war dabei, auf den nächsten Schritt zu warten, der auch mal Monate dauern konnte.


    Heute geht es anders zur Sache, der Sinn für Romantik ist abhanden gekommen. Die Jugend weiß gar nicht, was für Gefühle verlorengehen. Manchmal scheint es da zuzugehen wie im Karnickelstall.


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Es werden immer wieder ganze Orchester engagiert und dann werden einzelne Töne digitalisiert, aber auch gruppen von Instrumenten usw. Ziel ist es, irgendwann am Computer "echten" Klang produzieren zu können - ohne Orchester.


    Das kann man doch schon längst - am IRCAM in Paris hat man alle diese Dateien. Nur die entscheidende Frage ist doch: Was ist der Sinn eines solchen Unternehmens? Wenn man wirklich glaubt, das Orchester ersetzen zu können, was ist denn damit gewonnen? Synthetisch produzierte Klänge sind beliebig oft reproduzierbar. Jeder ausübende Musiker weiß aber, daß zur Aufführung von Musik gehört, daß diese eben unreproduzierbar ist. Kein Musiker spielt dieselbe Musik auch nur einmal völlig gleich. Eine solche Musik aus der Retorte als Ersatz für Aufführungen wäre demnach ein völlig totes Gebilde - die Musik würde zur Salzsäule erstarren. Emotionen werden so gar nicht mehr vermittelbar - denn die leben von der Spontaneität des Moments. Ich glaube deshalb, daß kein Musikliebhaber solche Versuche wirklich Ernst nimmt.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Musik bedarf der Aufführung durch lebende Musiker.


    Das geht ja wohl auch gar nicht anders. Tote Musiker habe ich noch nie auf dem Podium gesehen. ;)


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Das geht ja wohl auch gar nicht anders. Tote Musiker habe ich noch nie auf dem Podium gesehen.


    Wer weiß, aber vielleicht kommt ja jemand auf die Idee, Roboter auftreten zu lassen, die ein Computerprogramm perfekt abspielen ohne menschliche "Schwächen"... ;)

  • Ich freue mich, dass Du so passend reagierst, lieber Holger.


    Gruß und Dank Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Feinstliebchen als Frauenbild von heute?


    Oder Wunschbild verklemmter Machos die sich das Heimchen am Herd zurückwünschen? Mit allzeitiger Verfügbarkeit im Bett, als Putze, als Kinderhüter ?


    Dazu das Sehnen nach einer Zeit, als in Deutschland die Söhne als Soldaten an Fürsten verkauft wurden, Mädchen, die keine Familie hatten, als Mägde ohne Schutz der Gewalt durch Bauern und Obrigkeit ausgeliefert waren?


    Setzt euch mal schön in eine Kunstwelt zurück, die es so, wie in euren Vorstellungen, nie gegeben hat. Vielleicht wurde in den Entstehungszeiten ja noch viel heftiger geträumt, eben weil die Lebensumstände so mies waren. Diese Traumwelten dann als Idealbilder in die heutige Welt zu holen, scheitert schlicht an der Realität. Dieses Scheitern wird natürlich der heutigen, schlimmen, verkommenen Zeit zugeschrieben, in der es keine (Traum)-Ideale mehr gibt.


    Wart ihr jemals in einem Dance-Club oder ist euer Wissen aus der Wissenswelt der Sensationsmedien zusammengestückelt, ebenso wie die irreale, abstruse Gefühlswelt des 19. Jahrhunderts?


    Mit Grausen wandte er sich ab.

  • Setzt euch mal schön in eine Kunstwelt zurück, die es so, wie in euren Vorstellungen, nie gegeben hat. Vielleicht wurde in den Entstehungszeiten ja noch viel heftiger geträumt, eben weil die Lebensumstände so mies waren. Diese Traumwelten dann als Idealbilder in die heutige Welt zu holen, scheitert schlicht an der Realität. Dieses Scheitern wird natürlich der heutigen, schlimmen, verkommenen Zeit zugeschrieben, in der es keine (Traum)-Ideale mehr gibt.

    Lieber Thomas,


    für Deinen "Protest" hast Du die Romantiker selbst als Anwalt. Schon um 1800 unterscheidet man zwischen "Kunstgefühlen" und realen Gefühlen. Man weiß, daß das Kunstparadies ein fiktives ist. Die Romantiker entdecken das Problem der Einfühlung. Um die Gefühle, die in einem Musikstück ausgedrückt werden, zu verstehen, muß sich der Hörer "einfühlen". Genau daran entzündet sich aber die Skepsis: Woher wissen wir denn, daß diese Einfühlungen nicht einfach bloße Projektionen sind - also unsere eigene Gefühlswelt, die wir in das Kunstwerk lediglich hineinlegen?


    Andererseits muß man sagen, daß unsere Gefühlskultur im wesentlichen eine Entdeckung des 18. Jhd. ist. Eine große Rolle spielt da Rousseau: die Empfindsamkeit, die das Natürliche, Einfache, Ungekünstelte betont, das nicht kulturell Verbildete. Zwischen der Hippiebewegung des 20. und der Empfindsamkeit des 18. Jhd. gibt es sehr viele motivische Übereinstimmungen.


    Und was das Frauenbild angeht: Die Romantiker waren es, die die Liebe und die Liebesheirat propagierten. Bis dahin wurden die Ehen arrangiert. Nicht zuletzt deshalb war Schlegels "Lucinde" ein solcher Skandal. Und die romantischen Frauen wie Dorothea Schlegel waren schon sehr emanzipiert. Die ließen sich scheiden, wenn das ihre Liebe verlangte. Auch da ist der Keim gelegt worden für die späteren Emanzipationsbewegungen.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Das war doch überhaupt das Besondere, das Alleinstellungsmerkmal der Romantik, dass sie hinter oder neben der harten Realität eine andere, verklärte, hehre Welt versprach, dass sie das (unreale) Gefühl in den Stand der Wirklichkeit versetzte, wodurch so etwas wie Liebe plötzlich (und das meine ich so) Relevanz für menschliches Handeln bekam.
    (Wir Therapeuten erleben immer wieder, wie schmerzhaft es sein kann, wenn die Vorstellungen der Romantik für allzu bare MÜnze genommen werden und als Maxime für Ehe und Partnerschaft herhalten sollen).


    Die KUnst war und ist insofern die Projektionsfläche für die Gefühlswelt der, tja, eben der Romantik. Aber die Projektionen haben sich natürlich verändert, oder meinetwegen sind neue dazu gekommen. Eine Kunstwelt, in der Menschen vor Publikum zu "Superstars" gemacht werden, ist ganz sicher auch eine solche Projektion von Traumwelten. Inweit die Präsentation als Kunst durchgehen kann, will ich nicht beantworten.


    Zurück: Das Feinsliebchen war also wohl damals wie heute oftmals doch eher der Hausdrachen......


    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

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