Von "antiquierten" und "zeitgemäßen" Aufnahmen klassischer Werke

  • Jede Einspielung - auch die vermeintlich "werkgetreueste" bekommt ihrne Stempel der Zeit und des jeweiligen Interpreten verpasst. Daran gibts nur wenig zu rütteln. Auch Aufnahmen, die man selbst für "zeitlos" hält werden von den nächsten Generationen als "antiquiert" oder "nicht mehr zeitgemäß" empfunden. Das gilt für Bach, Händel und Vivaldi ebenso wie für Haydn, Mozart und Beethoven. Aber auch das Bruckner und Mahler. Große Dirigenten und ihre Aufnahmen - einst das Maß aller Dinge wurden und werden noch vom Sockel heruntergestoßen - oder aber in einer Weise glorifiziert, die mit der einstigen Realität nur wenig gemeinsam hat.
    Da stellt sich die Frage, wie der Einzelne mit diesem Phänomen umgeht, welche Konsequenzen er daraus zieht, bzw ob er dieses Phänomen überhaupt wahrnimmt,. Das ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich - und auch ein wenig von den "Umständen" und dem persönlichen musikalischen Umfeld abhängig. Auch das Tamino Klassikforum ist ein solches - wenngleich virtuelles - Umfeld - und hat in bescheidenem Maße Einfluß auf die persönliche Meinung....
    Wer als "Einzelhörer" lebenslang Schallplatten (=CD) sammelt wird vermutlich zu anderen persönlichen Einschätzungen kommen, als jemand der mit anderen Klassikhörern kommuniziert....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Auch das Tamino Klassikforum hat in bescheidenem Maße Einfluß auf die persönliche Meinung....

    Dem möchte ich entschieden widersprechen! Und zwar, was das "beeinflussende bescheidene Maß" betrifft. Ich meine im Gegenteil.
    Wenn man hier in unserem führenden Forum eine längere Zeit Mitglied ist, haben die vielen zumeist hochqualitativen Beiträge unserer Mitglieder einen nachhaltigen entscheidenden und wesentlichen positiven Einfluß auf die persönliche Meinung. Da sollte man nicht von Bescheidenheit reden! In den rund 2 1/2 Jahren meiner Mitgliedschaft habe ich mein Wissen und meinen Horizont garantiert um einiges erweitern können. Vieles gelernt und manch neue Erkenntnis gewonnen und manche persönliche Meinung gefestigt, oder auch mal vergleichend selbstkritisch hinterfragt.
    Ich denke mal, daß viele unserer Mitglieder hier mit mir übereinstimmen.
    Nein, nein - unser Forum muß sich in Bescheidenheit bestimmt nicht verstecken. Dazu haben wir so viele erfahrene Sach- und Fachexperten, auch wenn der größte Teil Laien sind und darauf können und sollten wir zurecht besonders stolz sein.
    Herzliche Grüße
    CHRISSY

    Jegliches hat seine Zeit...

  • Lieber Crissy,


    dem kann ich nur voll zustimmen. Auch ich habe hier im Forum sehr viel gelernt und manche anderen Einsichten bekommen. Dass das Forum nur in bescheidenem Maße Einfluss ausübt, kann auch ich kaum glauben.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Der Wandel ist das Maß aller Dinge.


    Musikinterpretationen sind immer ein auch ein Spiegel der Zeit, in der sie entstehen. Sie verlangen von den Hörern Toleranz, schon zu den Zeiten der "Großen Alten" wurde auch an ihnen Kritik geübt, aber sie haben die Klassik geprägt und zwar auf eine zwingende Art und Weise, die einfach auch mit der Art unserer eher akademischen Musik zusammenhängt.


    Die Konservierung auf Tonträgern macht es da nicht gerade einfacher. "Warum soll ich mir eine Neuaufnahme holen, ich habe doch Karajan, der gilt als der Beste, also bleibe ich bei dem?" Eine häufig gestellte Frage, aber wenn man dann selber mal nachfragt, wird Karajan und die Klassik selten hervorgekramt, weil die Musik schlicht nicht gefällt. Bringt man dann mal eine zeitgenössische Aufnahme mit, ist das Staunen groß.


    Wer seinen Sinn in der Musik darin sieht, nur seine alten Rubinstein-Aufnahmen in einem gewissen Turnus "wiederzukäuen" verpasst was.


    Vor allem verweigert er sich dem Wandel, den Impulsen, die neue Sichtweisen auf ein Werk ermöglichen. Und das gelingt nicht mit einem flüchtigen Drüber Hören, sondern verlangt eine tiefe Auseinandersetzung mit dem Gehörten. Unsere Musik verlangt vom Wesen her Aufmerksamkeit, doch diese verweigern wir jungen Talenten, nur weil wir zu Hause noch die 102te Auflage der vorletzten Neuauflage des Uraltkonzertes eines großen Alten hören und besprechen müssen?


    Ach wie öde.

  • schon zu den Zeiten der "Großen Alten" wurde auch an ihnen Kritik geübt, aber sie haben die Klassik geprägt und zwar auf eine zwingende Art und Weise, die einfach auch mit der Art unserer eher akademischen Musik zusammenhängt.


    Das versteh ich jetzt nicht.

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  • Ich muss zugeben, dass ich bei den meisten älteren (vor ca. 1960) Aufnahmen von Bach, Händel u. ggf. noch älterer Musik, oft Schwierigkeiten habe, sie mit Genuss zu hören. Es gibt Ausnahmen bei Bachschen Klavierwerken (Edwin Fischer, Marcelle Meyer) oder den Cellosuiten mit Casals u.ä. und vielleicht auch einige beeindruckende Aufnahmen von Chorwerken. Leider sind die Chöre oft sehr schlecht und die Musik ist, abgesehen von der Interpretation selbst, häufig gekürzt oder bearbeitet. Das sind für mich dann eher historische Kuriositäten. Es gibt Ausnahmen. Die von Scherchen instrumentierte Kunst der Fuge ist durchaus "modern" und sehr ausdrucksstark, eine faszinierende Aufnahme.


    Bei Musik von Beethoven bis Mahler sehe ich das anders. Da ist nicht alles alte antiquiert.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Die von Scherchen instrumentierte Kunst der Fuge ist durchaus "modern" und sehr ausdrucksstark, eine faszinierende Aufnahme.


    Das klingt ja sehr interessant! Ist das diese Aufnahme:


    ?



    Ich frage nur, weil da steht, dass das Werk von Roger Vuataz instrumentiert wurde - also nicht Scherchen.

  • Nachdem der Thread jetzt - nach einiger Anlaufzeit - doch auf Interesse zu stoßen scheint, ein paar Betrachtungen von meiner Seite.
    Prinzipiell ist JEDE Interpretation von der Zeit geprägt, in der sie entstanden ist, genau wie jedes Gebäude oder jede Mode.
    Es gab natürlich immer schon "Querdenker" , nur sind deren Interpretationen meist schon zu Lebzeiten abgelehnt worden - und dementsprechend wenige Aufnahmen gibt es von ihnen - wenn überhaupt.
    Und fast jede Zeit hat ihre herausragenden Künstler, denen man zu Lebzeiten zu Füßen gelegen ist und sie beinahe wie Götter verehrt hat. Selbstverständlich wollte man - ab dem Zeitpunkt wo das möglich war - die Spitzenleistungen dieser Ausnahmeerscheinungen auch für die Nachwelt erhalten. Im Bereich der Architektur und der Bildenden Kunst sind uns spätestens seit der Antike bemerkenswerte Bauwerke und Skulpturen überliefert, und auch Literatur. Später folgte dann die Malkunst im großen Stil. Seit 1878 gibt es die Tonaufzeichnung, seit etwa 1930 in vertretbarer, seit 1950 in guter, seit 1960 in exquisiter naturnaher Qualität - wobei die Übergänge und Bewertungen im Einzelnen fliessend sind


    So können wir heute Beethovens Klaviersonaten von allen Klaviergrößen des 20. Jahrhunderts hören, sei es Schnabel, Gieseking oder Eddie Fischer, Kempff, Backhaus oder Arrau, Brendel, Badura Skoda oder Gulda, nur um die wichtigsten zu nennen.
    Ähnliches trifft auf die großen Primadonnen, Opernsänger und Liedinterpreten. Caruso ist 90 Jahre tot und gilt für viele noch als Inbegriff des Operntenors schlechthin, sowie Karajan als jener des Dirigenten. nicht zu vergessen Maria Callas.....


    Viele der damaligen Aufnahmen entsprechen nicht mehr dem heutigen "Zeitgeschmack" gelten als überholt -wobei sich die Frage stellt, wie wir heute wohl Mozarts, Haydns oder Beethovens Klavierspiel einstufen würden, gebe es Tonaufnahem davon.


    Eine Tonaufnahme wird meiner Meinung nach vor allem für Zukünftige Generationen hergestellt - Clifford Curzon nannte Aufnahmesitzungen - meiner Meinung nach recht treffend - "Rendevouz mit der Nachwelt" - einerseits bedrückten sie ihn -andrerseits wollte er nur das Beste für die Ewigkeit fixiert haben, in der (IMO irrigen) Annahme, das Publikum der Zukunft werde danach urteilen.


    Heute ist es ja leider so, daß Aufnahmen der Vergangenheit gerne als "altmodisch" oder "überholt" gesehen werden -die man eigentlich aus den Archiven ausgemustert werden sollten.
    Ich hingegen sehe das umgekehrt - Aufnahmen werden in erster Linie dazu gemacht, den Künstler auch nach Ablauf seiner Lebensspanne hören zu können...


    Andernfalls ist jegliches Sammeln von Tonaufzeichnungen sinnlos...


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Das klingt ja sehr interessant! Ist das diese Aufnahme:


    ?


    Ich frage nur, weil da steht, dass das Werk von Roger Vuataz instrumentiert wurde - also nicht Scherchen.


    Ich habe eine andere Aufnahme (ich glaube, es gibt drei), nämlich die ursprünglich bei Westminster erschienene Studio-Aufnahme in Stereo mit den Wiener Sinfonikern? Volksoper? Jedenfalls eines der Wiener Orchester, die bei Westminster auftauchten. Da ich nicht bei meinen CDs bin, weiß ich nicht ganz sicher, ob die Instrumentation tatsächlich von Scherchen stammt (wie die Amazon-Rezi meint) oder ob er vielleicht Vuataz' bearbeitet hat. Jedenfalls sind Thema in Originalgestalt und Umkehrung meiner Erinnerung nach immer auf Streicher bzw. Bläser aufgeteilt. Die Instrumentation ist weitgehend "didaktisch", um die unterschiedlichen Themen möglichst deutlich herauszuarbeiten und das ganze wird teilweise dirigiert als wäre es hochexpressionistischer Schönberg. Nur die Kanons auf dem Cembalo fallen etwas heraus. (Evtl. findet man auch Teile aus Scherchens Bach auf youtube.)



    Scherchens Matthäuspassion finde ich ungeachtet des mittelmäßigen Chores und einiger Eigenwilligkeiten (wie ultralangsamem "O Mensch bewein" und "Wir setzen uns...", dafür ist der Eingangschor mit ca. 7 min im HIP-Tempo) ebenfalls außerordentlich, eine der dramatischsten, die ich kenne. Ebenso schätze ich, obgleich es einige Seltsamkeiten gibt, die Händel-Concerti op.6.
    Bachs Brandenburgische und die Wassermusik fallen dagegen eher wieder unter Kuriositäten: Eigenwilligkeiten und teils sehr langsame Tempi, dazu spieltechnische Unsicherheiten (und bei allem eher mäßiger Klang). Und eine CD mit Bach-Kantaten habe ich auch wieder wegegeben; ich konnte das nicht mit Genuss anhören.

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  • Das versteh ich jetzt nicht.


    Hallo kurzstueckmeister,


    die "Großen Alten" haben es geschafft prägend auf die Auslegung der Noten einzuwirken. Richter z.B. hat durch sein packendes, kräftiges Spiel beeindruckt. Das dabei Nuancen und Feinheiten etwas kurz kommen, besonders dann, wenn er sich live "hinreißen" lies, wurde verziehen.


    Diese tolle Virtuosität täuscht dann oft über Schwächen in den Details hinweg, kann aber gleichzeitig prägend für den Hörer sein. Die Unterscheidung zwischen dem, was in den Noten steht und dem, was gespielt wird, ist dann nicht immer ganz leicht .


    Grüße Thomas

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  • Ich habe eine andere Aufnahme (ich glaube, es gibt drei), nämlich die ursprünglich bei Westminster erschienene Studio-Aufnahme in Stereo mit den Wiener Sinfonikern? Volksoper? Jedenfalls eines der Wiener Orchester, die bei Westminster auftauchten. Da ich nicht bei meinen CDs bin, weiß ich nicht ganz sicher, ob die Instrumentation tatsächlich von Scherchen stammt (wie die Amazon-Rezi meint) oder ob er vielleicht Vuataz' bearbeitet hat.


    Danke für die Info!

  • Zitat von Alfred_Schmidt

    Auch das Tamino Klassikforum ist ein solches - wenngleich virtuelles - Umfeld - und hat in bescheidenem Maße Einfluß auf die persönliche Meinung....

    Das ist doch völlig richtig, es gibt vieles, was Einfluss auf die eigene Meinung hat, darunter auch das Tamino Klassikforum und wenn der Forenbetreiber hier das Wort "bescheiden" verwendet, dann hat das seinen Grund in seiner angenehmen eigenen Bescheidenheit.



    Viele der damaligen Aufnahmen entsprechen nicht mehr dem heutigen "Zeitgeschmack" gelten als überholt -wobei sich die Frage stellt, wie wir heute wohl Mozarts, Haydns oder Beethovens Klavierspiel einstufen würden, gebe es Tonaufnahem davon.

    Nun sollte man doch mal den Begriff "Zeitgeschmack" erläutern. Ich kann damit wenig anfangen. Ich habe meinen Geschmack und andere hier im Forum auch und in der Diskussion ist immer wieder festzustellen, dass man sich über Geschmacksfragen zwar trefflich streiten kann, ohne dass man aber jemals auf einen Nenner kommen wird. Nun gibt es "antiquierte "Aufnahmen, ich verstehe darunter ältere Einspielungen, oft auch noch auf Mono und neuere Aufnahmen, die technisch brillianter sein mögen. Musikalisch aber gibt es herausragende ältere und herausragende "zeitgemäße" Aufnahmen.
    Sind ein Swjatoslaw Richter, Emil Gilels, David Oistrach, Jascha Heifetz, Wilhelm Furtwängler u.ä. antiquiert? Mitnichten, denn in meinem Lexikon bedeutet dieses Wort "veraltet". Mir haben die genannten Künstler auch heute noch viel zu sagen. Ich habe ein großes CD-Archiv, andere sicher größere, und stelle fest, die allermeisten Aufnahmen sind aus dem vorigen Jahrhundert. Das hängt natürlich mit den großen Namen zusammen, zu den genannten kommen dann noch als Dirigenten Karajan, Bernstein, Celibidache, Wand hinzu und schon hat man schon ziemlich alle wichtigen Komponisten erstmal in guten Einspielungen.
    Für Mozart vielleicht noch Böhm oder Harnoncourt, letzterer ist inzwischen auch schon etwas "antiquiert". Wie würde Beethoven Klavier spielen? Das weiß keiner und ich will das auch nicht wissen. Aber es gibt z.B. die Rachmaninow-Konzerte mit dem Komponisten am Klavier, die so völlig unromantisch aber eben wunderbar authentisch sind.


    "Antiquiert" vs. "zeitgemäß", diese Frage stellt sich für mich nicht. Ich verschließe mich nicht neueren Aufnahmen, in denen einiges anders zu hören ist, wobei sich mancher Künstler erst noch beweisen muss, ob er mal zu den "großen Namen" gehören wird.


    Mit besten Grüßen


    :hello:


    Manfred

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

  • Zum "Zeitgeschmack"


    Nehmen wir die 50er und 60er Jahre für den deutschsprachigen Raum: Wirtschaftswunderzeit, der zweite Weltkrieg ist noch im Bewusstsein der meisten. Es wird aufgebaut, erst mal wieder richtig satt essen in den 50ern, dann mit wieder vollen Bäuchen sehen wir weiter.


    Das schlägt sich auch in den Interpretationen nieder. Die Orchester dehnen (wir brauchen keine Hast mehr, diese hatten wir unter Todesangst genug!), alles ist noch einem seltsamen Pathos verhaftet, in einer Wohlstandsbehäbigkeit. Die Orchester werden immer umfangreicher, entsprechend entwickelt sich das Ton- und Klangvolumen.



    Ob bewusst oder unbewusst: Die äußeren Lebensumstände wirken in die Interpretationen hinein.

  • Ich habe natürlich bewusst das Wort antiquiert verwendet - weil es ein Negativbegriff ist - und natürlich wollte ich provozieren.
    Aber natürlich sind Aufnahmen der Vergangenheit nicht "antiquiert" sondern ein Zeitspiegel, ähnlich wenn ich mir 300 Jahre alte Ölbilder ansehe. Eine Ausnahme könnten allenfalls Barockaufnahmen sein, mit denen man in gewissen Epochen eigentlich nicht viel anfangen konnte. Es fehlten oft sie Tempobezeichnungen und man hatte Angst hier etwas falsch zu machen. Um ein Beispiel zu nennen: Vivaldi hat zweifellos von den historisierenden Interpretatinsansätzen gewonnen.



    Zitat

    Das schlägt sich auch in den Interpretationen nieder. Die Orchester dehnen (wir brauchen keine Hast mehr, diese hatten wir unter Todesangst genug!), alles ist noch einem seltsamen Pathos verhaftet, in einer Wohlstandsbehäbigkeit. Die Orchester werden immer umfangreicher, entsprechend entwickelt sich das Ton- und Klangvolumen.

    Pathos ist nicht seltsam - es ist der Ausdruck einer Haltung - die viele heutige Zeitgenossen nicht mehr verstehen.
    Pathos hat im Lauf der Geschichte viele Deutungen und Wertungen erfahren, aund er ist keineswegs eine Interpretationshaltung der Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Wir finden Pathos bei Wagner, bei Schiller, in der Historienmalerei und natürlich in der Musik.
    Beethoven ohne Pathos wäre eine halbe Sache - Auch die heutigen Interpretationen sind von der Zeit geprägt, in der sie entstanden sind: Gehetzt, auf Tempo getrimmt, Rhythmus über die Melodie stellend, Brüche betonend und kaum Legato...
    Manch dieser Interpretationen wirken beispielsweise auf MICH wie Parodien.


    Gegen "Wohlstandsbehäbigkeit" habe ich nichts einzuwenden. Besser als Armut und dauernder Lebenskampf. Ich arbeite um zu leben, aber ich lebe nicht um zu arbeiten. Und wenn Gott der Herr es fügen sollte, daß ich ohne Arbeit gut leben kann - ich werde ihr nicht nachtrauern. :baeh01:


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Die Ablehnung, wenn nicht gar Lächerlichmachung des Pathos ist tatsächlich einer der wichtigsten Grundzüge unseres Zeitgeistes. Das Erhabene will man auf keinen Fall mehr haben. "Erhaben" ist ja etwas, was sich aus der Alltagsnormalität, aus dem Staub des ach so Profanen erhebt, ja "vom Boden abhebt".
    Es hat etwas mit dem Idealen des nach "mehr" strebenden Menschen zu tun, mit dem Wunsch nach Höherem, nach dem Echten und Reinen.....Wenn der Weg dorthin durch Leiden gezeichnet ist, dann ist gerade dann das Pathetische besonders intensiv.


    Die heutige Zeit ist meiner Beobachtung nach in dieser Beziehung zerissen. Einerseits will man dieses ganze pathetische Zeug nicht haben - man macht sich darüber lächerlich.


    Ich fahre fast täglich mit der T-Bane (U-Bahn) durch Oslo. Nicht vergessen werde ich den alltäglichen Anblick eines jungen, etwas korpulenten Mannes. Breitbeinig, mit nicht ganz sauberen Trainingssachen sass er da, einen Billig-Kopfhörer auf dem Kopf, mit vernehmbarer Kommerzmusik, das Smartphone (früher waren die Menschen smart, heute das Phone...;-) ) in der Hand. Er kaute mit offenem Mund auf seinem dadurch sichtbaren Kaugummi herum, und wenn er nicht an seinem Smartphone herumspielte glotzte er mich unverschämt mit leeren Augen an, die mich wahrscheinlich nicht wirklich sahen.
    Dem hätte ich vom herrlichen Pathos des Anfangs der "Meistersinger" Ouvertüre in der DG-Aufnahme mit Karajan/BPO wohl nichts erzählen können....
    Im besten Fall hielte er wohl "Wagner" für eine Pizzamarke. Wahrscheinlich weiss er nicht einmal, was Pathos ist.
    Mag sein, dass dieser junge Mann nicht ganz repräsentativ für den Zeitgeist und die kulturelle Zukunft ist, aber doch wohl auch ein bisschen - leider.


    Andereseits beobachte ich auch eine Gegenbewegung, eine Sehnsucht nach dem Pathetischen, nach dem Nicht-Sachlichen.
    Viele meiner Bekannten (und nicht nur die!) sind der Meinung, dass "Lord of the Rings" einer, wenn nicht gar der beste Film aller Zeiten sei. Diese verfilmte Tolkien-Welt ist voll von pathetischen Elementen, auch optisch. Ebenso erfolgreich ist bekanntlich Star-Wars, ebenfalls viel Pathos enthaltend, auf vielen Ebenen.
    Die durch ein klassisches Orchester eingespielte Filmmusik trägt ihren nicht unerheblichen Teil dazu bei.
    Auch im Rock und in Fussballstadien kann man diese Sehnsucht nach pathetischen Momenten erfahren...
    Optisch kommt das auf manchen Rockbühnen unter anderem auch durch die Nebelmaschinen zum Ausdruck (erinnert irgendwie an Weihrauch bei katholischen Messen....)
    Auch die damalige Begeisterung für den als Lichtgestalt empfundenen Obama der Deutschen in Berlin bringt aus meiner Sicht so eine gewisse Sehnsucht zum Ausdruck.


    Wonach viele sich sehnen, ist m.E. ein echtes, erfülltes und gar nicht sentimentales Pathos, echte Erhabenheit, nicht ein hohles oder falsches Pathos. Andere hingegen lehnen gerade das vehement ab, nicht nur mein Typ aus der U-Bahn. Oft sind es dann "realistische", wissenschaftsgläubige Kopfmenschen, die "im Hier- und Jetzt" leben, nicht "abgehoben", sondern "erdverbunden" mit "beiden Beinen im Leben stehend" sind, Fantasyablehner....
    Die Vehemenz der Ablehnung allen Pathetischen entspringt meiner Ansicht nach aus einem inneren Konflikt. Man will die eigene, tief schlummernde Sehnsucht nach Pathos, nach dem "sich aus dem Staub erheben" unterdrücken und nicht wahrhaben.
    Auch klanglich passen dann musikwissenschaftlich historische Argumente sehr gut in diesen Geschmack. Lieber will man dann den "erdverbundenen", weniger singenden Klang eines Hammerklaviers als den abstrakteren, singenden und insgesamt zum Transzendieren fähigeren Klang eines Flügels hören.
    Die unvollkommende Mechanik und Klanglichkeit eines Instruments "für das Beethoven ja schliesslich komponiert hat" bewahrt vor dem gefürchteten falschen Pathos, vor der verhassten heuchlerisch- romantischen Gefühligkeit, ebenso auch der darmbesaitete, (falsch verstanden "historische") Dauer-Non-Vibratoton des (kleinen) HIP-Beethovenorchesters.


    Nun ist es ja so, dass die Musik alle möglichen Affekte erzeugen kann. Neben dem Klaren und dem Sachlichen (und sehr vielem mehr) kann und soll eben auch das Pathetische zum Ausdruck kommen.


    Wenn man in Dur eine Sequenz hat:
    Tonika, Subdominante, Dominante mit Septime im Bass (wurde ja vorher mit dem Basston der Subdominante vorbereitet), Auflösung nach Tonika mit Terz im Bass und das mit einer guten Stimmführung und vielleicht mit Übergangstönen in den Mittelstimmen am Klavier spielt, dann wird ein halbwegs für Musik empfänglicher Mensch die erfüllt-pathetische Wirkung spüren können.


    Viele Komponisten waren sich dieser Wirkungen bewusst und haben sich ihrer bedient. Auch und gerade der idealistische Beethoven gehörte zu ihnen. Eine Klaviersonate von ihm heisst ja sogar "die Pathetique".
    Dieses Element wegzunehmen oder zu unterdrücken, ist m.E. genauso falsch, wie die Musik von Barock bis Beethoven nicht als Klangrede verstehen zu wollen. Hier steht Beethoven sozusagen wie ein Scharnier zwischen zwei Welten: Er benutzt die Mittel der Klangrede und führt sie auch durch bewusste Verstösse in die Extreme, um Türen für Neues, mehr allgemein Verständliches aufzustossen. Irgendwann führte das dann zur Wagnerschen Sostenuto-Ästhetik . Von daher muss ein Beethoveninterpret beide Aspekte aus meiner Sicht im Auge haben: Das historisch Gewachsene, aber auch die in die Zukunft weisende Keimzelle für eine neue Ästhetik. Davon isoliert diesen Komponisten verstehen zu wollen, scheint mir ein aussichtsloses Unternehmen zu sein.
    Thielemann hat da mit seinen Beethoveneinspielungen übrigens einige gute Beispiele für eine zukunftsweisende Beethovendiskussion geliefert.
    Allerdings möchte ich kurz darauf hinweisen, dass dieses Thema Relevanz für die gesamte Musikgeschichte haben kann. Man sollte nicht einseitig auf Beethoven fixiert diskutieren.


    Wenn Musik die Gegensätze zwischen Pathos und Sachlichkeit beschreibt, gar in Balance bringt (wie oft bei Bach, bei dem Schlichtheit und Erhabenheit zusammengehen können, auch bei Händel), dann mag ich das. Ich mag aber kein aufgesetzes, falsches und hohles Pathos, weder in der Musik noch in der Rede. Es gibt jenen, die gegen das Pathetische per se angehen wollen eine Angriffsfläche, weil es leicht verspottet werden kann.
    Umso mehr liebe ich aus vollem Herzen ein echtes und erfülltes Pathos, durch welches man im Schubertschen Sinne "in eine bessre Welt entrückt" werden kann. Pathos ist ein musikalisches Urelement, es gehört fundamental zu jeder wahren Kunst.



    Gruss
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

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  • Die Ablehnung, wenn nicht gar Lächerlichmachung des Pathos ist tatsächlich einer der wichtigsten Grundzüge unseres Zeitgeistes.

    Lieber Glockenton,


    ich erlaube mir einige wenige erweiternde Gedanken zu Deinen schönen Ausführungen! :)


    "Pathos" in seiner ursprünglichen griechischen Bedeutung hat einen sehr weiten Sinn, wenn man an die Tragödie von Aischylos oder Euripides denkt. Gemeint sind die großen bewegenden Leidenschaften, die einen Menschen ganz einnehmen und deshalb auch zerstören können. Das griechische Verb paschein, von dem sich pathos ableitet, meint ein "Erleiden". Das Pathetische prägt so ein "passives" Moment, weswegen es dann von der philosophischen Ethik als minderwertig oder sogar gefährlich kritisiert wird. Platon wollte bekanntlich die Dichter (gemeint waren die Tragödiendichter) aus dem Staat werfen, weil sie das vernünftige Ethos durch diese selbstzerstörerische Passivität gefährden.


    Es ist hoch interessant, daß in der Deutung der Musik die Bedeutung von "Pathos" doch sehr verengt wird. Das hängt mit der Jahrhunderte herrschenden rhetorischen Tradition zusammen. Die Rhetorik isoliert die Bedeutung des "Erleidens" - aus dem Pathos wird ein ausgelöster Affekt. Von daher erklärt sich auch der schlechte Ruf des Pathos in bezug auf die Musik bis heute. Nicht unschuldig daran ist die sehr Rhetorik-kritisch eingestellte Romantik. Bei Novalis z.B. heißt es, daß die Poesie keine Affekte machen solle, die seien schlechterdings etwas Fatales wie Krankheiten. Die Romantik spielt gegen den bloßen Affekt das echte Gefühl aus - pathetisch im Sinne von "affektiert" bekommt von daher einen schlechten Beigeschmack. So polemisiert etwa Nietzsche gegen den penetranten Expressivo-Stil von Wagner-Sängern - für ihn ist das die Reduktion von Musik auf nichts als theatralische Wirkung. Es ist also nicht erst die "Neue Sachlichkeit", durch die das Pathos und Pathetische einen schlechten Ruf bekommt. In der Umgangssprache hat sich aber auch die Bedeutung des Pathetischen als etwas Feierlich-Getragenes erhalten - als Kennzeichnung eines "erhabenen" Stils, wo die Leidenschaft so ein alles druchdringender Grundzug des Erlebens ist. Das ist der ursprünglich giriechischen Bedeutung von "Pathos" noch verwandt.


    Zum Thema des Threads: ich stelle immer wieder fest - weil ich viele historische Aufnahmen höre - wie verblüffend "modern" die vermeintlich antiquierten Aufnahmen aus den 30iger oder 40iger Jahren sind und wie anachronistisch-altmodisch dagegen so manches, was heute als up to date verkauft wird.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Pathos heißt für mich dann aber wirklich erleiden, wenn nämlich der Fluss eines Musikstückes durch übertriebenen Einsatz von Gefühlsausdrückenden gestört wird. Glockenton hat sie ja alle aufgeführt und es sind doch wohl eher wenige, die in den Stücken eingesetzt werden und sich wiederholen. Und dieses Wiederholen wird eintönig, die Gefahr besteht, unterschiedliche Stücke "einzuebnen" und zu begrenzen, ihr eigener Charakter geht verloren in einem "Gefühl-ausdrücken-wollen-Brei".


    Oder Versatzstücke werden dazu missbraucht, um andere Schwächen in der Interpretation zu kaschieren, "hört mal, wie toll ich Vibrato kann", damit kann ich schön nicht gelungene Übergänge kaschieren, auch an Stellen, wo es nicht passt.


    Vielleicht haben die intelligenten Menschen heute ja eher ein Gefühl was falscher Pathos ist. Nämlich doch wohl dann, wenn es von der Seite, auf die es gerichtet ist, für den eigenen Zweck missbraucht wird und nicht mehr der "Sache", der man dieses Gefühl entgegen bringt, dient.


    Nehmen wir einen fanatischen Fußball-Fan. Was wird verehrt? Ein Symbol, die Reduzierung eines Wirtschaftsunternehmens auf einen Mischmasch aus vergangenen Erfolgen und Anbetung von Vereinsfarben. Wenn Erfolge sich einstellen , werden einzelne Spieler vergöttert, die aktuelle Mannschaft in den Himmel gehoben. Wenn der Erfolg ausbleibt, werden auch Spieler mal körperlich bedroht. Diese Gefühlsausbrüche entstehen aus einem Pathos, der als Ventil für den alltäglichen Frust fungiert.


    Unterschwellig wird jeder einigermaßen intelligente Fan erkennen, was mit ihm passiert und es baut sich zusätzlicher Frust auf, der sich dann in der Gewalt in den Stadien äußert.


    Man fühlt sich verraten.

  • Zitat

    Vielleicht haben die intelligenten Menschen heute ja eher ein Gefühl was falscher Pathos ist. Nämlich doch wohl dann, wenn es von der Seite, auf die es gerichtet ist, für den eigenen Zweck missbraucht wird und nicht mehr der "Sache", der man dieses Gefühl entgegen bringt, dient.


    Ich bin eher der Auffassung, daß es "falschen Pathos" nicht gibt - denn sonst würde er ja nicht solche Wirkungen hervorbringen.
    Man könnte natürlich hinterfragen, wo "echter" und wo "falscher" Pathos eingesetzt wurde. Ich behaupte, daß die Menschen des 19 Jahrhundert besonders empfänglich gegenüber Pathos waren - wogegen die Gesellschaft heute Pathos generell ablehnen, nur dann wird er akzeptiert, wenn er von "berühmten Dichtern oder Komponisten" kommt - Wie schaut das übrigens bei den deutschen Klassikern aus? Schiller wurde schon von Zeitgenossen oft als zu pathetisch empfunden. Caroline Schlegel soll beim Lesen der "Glocke" vor lachen fast von Stuhl gefallen sein. Andrerseits wurde ihr Benehmen von einigen Zeitgenossen als "unmöglich" bezeichnet - und Schiller bezeichnete sie - als der von der Geschichte erfuhr- als "Madame Lucifer".
    Schon damals krachten da zwei Welten aufeinander.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich stimme erstmal Alfred zu - unter "falschem Pathos" kann ich mir nichts vorstellen. Es wurde hier auch nicht erläutert sondern einfach als bekannt vorausgesetzt. Was ist "falsches Pathos"?

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  • Mit falschem Pathos kann man entweder meinen, dass ein pathetischer Ausdruck verwendet wird, wo er nicht angemessen ist. Man meint z.B., dass ein Sujet übertrieben pathetisch dargestellt wird, obwohl das darauf gar nicht passt; die Form entspricht nicht dem Inhalt. In einer Parodie macht man das absichtlich und bei manchem von Schiller hatten eben schon Zeitgenossen den Eindruck, dass das hier ein Problem ist.
    Man google nach der Parodie "Ehret die Frauen, sie stricken die Strümpfe" (habe ich hier im Forum auch schonmal komplett zitiert)


    Oder (keine Parodie!) aus Klopstocks Der Eislauf
    "O Jüngling, der den Wasserkothurn
    Zu beseelen weiß, und flüchtiger tanzt,
    Laß der Stadt ihren Kamin! Komm mit mir,
    Wo des Krystalls Ebne dir winkt!"
    http://www.lotok.de/start/klopstock.htm


    Oder man findet die Mittel abgegriffen für das tatsächlich emotional-pathetische Thema. Etwa ein "schluchzender" Gesang, wenn zwar Trauer ausgedrückt werden soll, die verwendeten Mittel aber "billig" scheinen. Auch hier entspricht die Darstellungsweise nicht dem Inhalt.


    Freilich ist das bei musikalischen Umsetzungen oder auch Interpretationen oft ein schmaler Grat und manche Hörer nehmen weit eher ein "Umkippen" ins unfreiwillig Komische oder Unangemessene wahr als andere. Manchmal ist auch ein echter Stilwandel damit verknüpft. Viele traditionelle Opernfreunde verabscheuten das Geschreie und Geschluchze des Verismo; ja für die Belcantisten fanden sich schon beim mittleren Verdi Sündenfälle gegen geschmackvollen Gesang.


    Es lassen sich hier kaum pauschale Urteile fällen, weil es fast immer auf die Nuancen ankommt. Stücke wie der Eingangschor der Matthäuspassion oder der erste Satz von Beethovens 9. sind ohne Zweifel "pathetisch" und die Musik setzt den Affekt oder Inhalt in unübertroffener Weise um. Da kommt im Grunde keine Interpretation dagegen an. Dennoch meinen wir von manchen Interpretationen, dass sie das Pathos "angemessen" oder eben weniger angemessen umsetzen. Wenn man sagt "X' Bach-interpretation klingt ja wie Wagner" meint man das meistens wohl nicht positiv.

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    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Was stört Dich jetzt an Klopstock?
    Das würde ich eher als "poetisch" denn als "pathetisch" bezeichnen. Mir ist das jetzt nicht mal besonders komisch vorgekommen ...


    Und wann es "passt" und wann nicht, ist nun mal Geschmackssache und das kommt und geht wie die Moden.
    Mahler war ja auch mal zu kitschig/pathetisch/weiß der Kuckuck.

  • Wer "Wasserkothurn" für Schlittschuh nicht witzig findet, dem kann man das wohl nicht erklären. Ich bin mir freilich nicht sicher, ob Klopstock das Gedicht vielleicht durchaus augenzwinkernd meint; ich habe ja keine große Ahnung von Literaturgeschichte.


    Mich stört da nichts grundsätzliches dran, vermutlich hat sich Klopstock gedacht, dass, wenn Pindar u. Co. auf die antiken Olympiasieger Oden gedichtet haben, warumnicht auch eine auf des schlüpfenden Stahles Tanz. Aber es ist doch ein Unterschied, ob ich irgendein Gedicht aufs Schlittschuhlaufen mache, oder einen außerordentlich hohen Ton, ohne Reim, aber mit antiken Vers- und Strophenformen?, grandioser Metaphorik usw. anschlage. Dass das schnell droht, ins unfreiwillig Komische zu kippen, ist für mich ziemlich offensichtlich, auch wenn ich nicht schnell und knapp erklären kann, woran genau das liegt.


    Dass einzelne Einordnungen kommen und gehen, heißt ja nicht, dass "falsches Pathos" nicht doch auf manches sinnvoll angewendet werden kann.
    Die unbestreitbare Tatsache zeitgenössischer Parodien belegt m.E. jedenfalls, dass man es sich ganz klar zu leicht macht, wenn man solche Urteile allein als Missverständnis späterer Zeiten mit gewandeltem Geschmack wertet. Natürlich gibt es so etwas auch. Aber eben auch Ausdrucksweisen, die schon von vielen Zeitgenossen als "hohl" empfunden wurden.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Die klassische Phase abendländischer Kunst stellt den idealen menschlichen Körper dar - und zwar z.B. beim Diskuswerfen.
    Warum soll Idealisierung/Überhöhung beim Schlittschuhlauf fehl am Platz sein?
    Natürlich gibt es immer Leute, die hochtrabende Sprache doof finden. Vielleicht haben im 5. Jahrhundert vor Christus auch manche über den Diskuswerfer gespottet, der in Stein gemeißelt ward?
    Einen Versuch, der Gymnastik wieder geradezu kultische Bedeutung beizugeben, kann man in Heinses Ardinghello-Roman finden. Sein Idealstaat am Schluss wird im Nachwort allerdings auch für eine Satire gehalten - was mich gewundert hat, ich habe das Heinse schon abgenommen, schließlich zielt der ganze Roman in die Richtung, die dann "realisiert" wird.
    Dass Klopstock irgendwas augenzwinkernd schreibt, kann ich mir schwer vorstellen. Der ist doch quasi immer im Überschwang.
    Ich muss zugeben, mich durch den Messias eher gequält zu haben.
    Vielleicht bin ich jetzt reifer?
    :S

  • Dass einzelne Einordnungen kommen und gehen, heißt ja nicht, dass "falsches Pathos" nicht doch auf manches sinnvoll angewendet werden kann.


    Tja, warum eigentlich nicht? Mir scheint das aber eher ein semantisches Problem zu sein als ein literaturwissenschaftliches.
    Sollte Klopstocks "Ode" ernst gemeint sein, würde ich auch von falschem Pathos sprechen.
    Steht da noch die Frage des Augenzwinkerns im Raum. Doch bei Klopstock?


    Ein Puschkin, der sich oft sarkastisch in allen Stilarten ausdrücken konnte und es auch getan hat, war er sicher nicht.

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  • Tja, warum eigentlich nicht? Mir scheint das aber eher ein semantisches Problem zu sein als ein literaturwissenschaftliches.

    Es ist letztlich ein ästhetisches Problem, glaube ich. Und durchaus nichttrivial, weil es eben um solche komplexen Spannungsfelder wie Form oder Darstellungsmittel vs. Inhalt, Produktions- vs. Rezeptionsästhetik geht. Wobei der Ausdruck "falsches Pathos" vielleicht etwas inflationär angewendet wird.



    Zitat

    Sollte Klopstocks "Ode" ernst gemeint sein, würde ich auch von falschem Pathos sprechen.
    Steht da noch die Frage des Augenzwinkerns im Raum. Doch bei Klopstock?

    Ich habe keine Ahnung. Es wäre in jedem Falle nur ein eher harmloses falsches Pathos. Ein Punkt hier ist doch wohl, dass seit zweieinhalbtausend Jahren bestimmte Formen und Verse mit heroischen und tragischen Sujets verknüpft sind, eben denen der antiken Epen und Tragödien. Die waren beinahe durchweg mehr oder minder Vorbild für solche Art Dichtung und durch die historische Distanz und den Klassikerstatus wurden sie immer stärker aufgeladen, während man seinerzeit auch Naturphilosophie in Hexametern (Lukrez' De rerum natura) oder Flirttips in Distichen (Ovids Ars amatoria) verfassen konnte.


    Rein sprachmelodisch ist die Nachahmung der antiken Verse im Deutschen m.E. seit jeher problematisch; nicht einmal Klopstock, Goethe und Schiller können verhindern, dass im Deutschen Hexameter (und auch Distichen) "klappern" und tendenziell künstlich (und bildungshuberisch) wirken. Nimmt man dazu noch Themen, die dem hohen Ton nicht unbedingt entsprechen wie Eislaufen wirkt das auf mich sehr schnell komisch oder parodistisch. Ich habe keine Ahnung, wie genau die Verse/Strophen in dem Eislauf von Klopstock heißen (lt. wikipedia wohl nach Horaz' Vorbild). Es klappert nicht so wie Hexameter, funktioniert also ganz gut auf deutsch. Dennoch ist der Eindruck des Werks auf mich bizarr bis komisch.


    Das alles lässt sich aber nicht ohne weiteres auf Musik oder gar Interpretationen musikalischer Werke übertragen. Vielleicht ist "falsches Pathos" ein zu grobes Schlagwort. Aber dass Interpretationen stilistisch fragwürdig sein können, ist doch kein bloßes Vorurteil oder nachträgliches Aburteilen. Nehmen wir z.B. Bearbeitungen (wieder extremer als "bloße" Interpretationen, aber daher auch griffiger). So etwas wie Stokowskis Instrumentationen von Bachs Orgelstücken sollten die Werke Publikum erschließen, dass eher keine Orgelmusik hört. Heute tendieren viele von uns dazu, sie als groteske Verballhornungen zu hören. Oder Händels Messiah mit Harfengeklimper, Becken, Schlagzeug, zusätzlichen Bläsern und 500 Choristen.
    Und so ähnlich kann man auch bei Interpretationen ohne offensichtliche instrumentelle Veränderungen (außer Besetzungsstärke und alten/neuen Instrumenten) argumentieren, zB Vivaldi unter Karajan. Ob man das jetzt plüschig, aufgeblasen oder wie auch immer nennen mag.

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    (Bob Dylan)

  • Rein sprachmelodisch ist die Nachahmung der antiken Verse im Deutschen m.E. seit jeher problematisch; nicht einmal Klopstock, Goethe und Schiller können verhindern, dass im Deutschen Hexameter (und auch Distichen) "klappern" und tendenziell künstlich (und bildungshuberisch) wirken.


    Kleiner Schock in der Abendstunde.
    Der Gedanke ist mir noch gar nicht gekommen, es ist aber auch schon lange her, dass ich einen deutschen Hexameter gelesen habe.
    Ob das aber ein echtes (objekiv nachweisbares?) Klappern ist, oder in den Köpfen nur durch das Bewusstsein der Nachahmung entsteht?


    Die Wahl des Metrums sollte doch per se keine quantitative Größe sein.

  • Und wenn man falschen Pathos mal von der tatsächlichen, körperlichen, materiellen Auswirkung her sieht? Eigentlich tut Pathos keinem etwas, wenn es sich aber in eine Allgemein-Hysterie steigert, übersteigert, jeden Bezug zur Realität verliert, dann kann es zu Katastrophen führen, wie vielleicht der erste Weltkrieg gezeigt hat.


    Oder das Leute eine bestimmte Art von Musik nicht mehr hören wollen, einen Widerwillen entwickeln gegen eine ganze Musikrichtung und sie so kategorisch ablehnen.

  • Ich weiß nach wie vor nicht, was an Klopstocks bilderreicher Sprache im gegebenen Beispiel pathetisch sein soll. Pathos soll doch bedeuten, den Leser in eine Richtung zu drängen, zu überreden. Ich habe beim Schlittschuhläufer nicht den Eindruck, dass Klopstock hier Propaganda machen will, er drückt sich eben in seinem begeisterten Stil aus. Ihm ist einfach immer "die Fülle des Herzens", drum passt es auch immer. Wenn die Begeisterung literarisches Programm ist, so gibt es eben auch nichts, wo sie fehl am Platz wäre. Das ist vergleichbar mit Religion: Gott ist immer und überall. Entsprechend ist er immer zu preisen.


    In der modernen Literatur ist es manchmal umgekehrt: Prinzipiell ist alles Scheiße. Das müsste ja in den Augen der "falscher-Pathos"-Vertreter auch falsches Pathos sein.


    Damit man nicht glaubt, ich würde grundsätzlich kein Pathos erkennen: Folgendes ist ein vorzügliches Beispiel für Pathos:

    Besonders eindrucksvoll habe ich das in der Kunsthalle Bremen erlebt. Dort hängen jede Menge Bilder mit puppenhaften und gepuderten Gesichtern aus der Rokokozeit. Und dann plötzlich dazwischen ein Selbstportrait von Rembrandt. Im Kontrast zu dem Rokoko drum herum haut einen das wahrlich um: Was für ein "Leben" in diesem Gesicht steckt! Und das unterstreicht Rembrandt auch noch durch einen unglaublich stofflich gemalten steifen Halskragen. Atemberaubend! Wenn man das in dieser Konstellation einmal gesehen hat, vergißt man das nie mehr. Man bekommt ein Gefühl dafür, was für eine "Revolution" die Malweise von Rembrandt wirklich ist!


    Stimmt's?

  • Hallo kurzstueckmeister,


    doch kein schlechtes Beispiel. Aber so ist Pathos ja auch positiv zu sehen. Die Begeisterung für ein Gemälde, das durch seine Qualität aus der Umgebung heraussticht. Erstens beweist es , das der Betrachter Qualität erkennt und Zweitens ist es völlig harmlos, es richtet sich weder gegen eine Gruppe von Menschen noch preist es irgendwelche Ideologien.


    Harmlose Schwärmerei. Hätte Holger aber die Entstehung dieses Bildes im Zusammenhang mit einer Gruppenzugehörigkeit des Malers oder dessen Nationalität in Verbindung gebracht, wäre es schon "gefährlich" geworden.


    Grüße Thomas

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