Avantgarde - Sackgasse in der Klassischen Musik ?

  • In einem anderen Thread ging es um die Frage inwieweit die zeitgenössische Musik in eine Sackgasse geraten sei - und es wurde Penderecki - genannt, der einen solche gesucht und vermutlich gefunden habe.


    Das kommentiert der "Kurzstückmeister" folgendermaßen:


    Zitat

    Es war für Penderecki vielleicht eine, andere Komponisten konnten sich auch ohne Stilsprung "nach hinten" weiterentwickeln, die blieben offenbar nicht in der "Sackgasse" stecken.


    Zunächst habe ich diesen interessanten Aspekt hierher ausgegliedert, damit er einerseits besprochen werden kann - andrerseits der Penderecki-Sinfonien Threwad ungestört weiterlaufen kann.


    Es ist eine gute Frage, was man als "Sackgasse" bezeichnet, und was man unter "Weiterentwickeln" versteht.
    Und eine weitere Frage ist, was der Komponist mit seinen Werken eigentlich beabsichtigt:


    Will er SEINEN Weg finden - abgekoppelt von Konzertleben, Klassikhörer und Presse - frei von kommerziellen Überlegungen- ?
    oder
    Will er in einer relativ kleinen Gruppe von Musikhörern bejubelt werden - stets als verkanntes Genie gefeiert - und auf der Jagd nach staatlichen Zuschüssen - deren Gewährung ihm als "Künstler" - in seinen Augen in jedem Fall zusteht, auch wenn seine Musik niemand hören will - was daran Liegt, daß die Welt voller Ignoranten und Banausen ist, die nur Mozart Beethoven und Bach hören wollen - allenfalls noch Mahler....
    oder
    Will er vom Publikum, oder zumindest einem Teil davon gern gehört und anerkannt werden, mit einem guten Prozentsatz an Aufnahmen?
    Und dann käme da noch die Frage, welche Komponisten es geschafft hätten OHNE "Stilsprung nach hinten" -Erfolg zu haben - was immer man unter Erfolg versteht....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Das finde ich schön, dass Du diesen Thread gestartet hast, ich hatte das auch kurz erwogen.
    Hier ist aber etwas leicht verunglückt:

    In einem anderen Thread ging es um die Frage inwieweit die zeitgenössische Musik in eine Sackgasse geraten sei - und es wurde Penderecki - genannt, der einen solche Ausweg daraus gesucht und vermutlich gefunden habe.

    Es gibt ja viele Komponisten, die in den 70er Jahren die "Avantgarde" als Sackgasse verurteilten und mittels Rückgriffe auf Älteres ihre persönlichen Wege abseits der Avantgarde fanden. Besonders mit Pärt, Reich und Penderecki verbindet man das. In Deutschland, dem Avantgarde-Land schlechthin, trat dann eine jüngere Generation um 1980 in offenen Widerspruch zur "Avantgarde", hier ist Rihm der mit Abstand berühmteste. Nach einer Art Postmoderne-Blüte in den 80ern kam aber dann schon wieder die Gegenbewegung und in den letzten 25 Jahren hat sich das eigentlich alles so vermischt und relativiert, dass ein entschiedenes Auftreten als Postmoderner oder als Avantgardist etwas Altmodisches an sich hätte. Die Avantgarde hat viel Traditionsbezug betrieben und ist auch halb postmodern geworden - aber eben ohne großen Sprung zurück - und die deutsche Postmoderne hat sich wohl selbst um 1990 in einer Sackgasse gewähnt und auch die Avantgardisten als Vorbilder entdeckt. Aber diese Betrachtung ist sicher zu deutsch/österreichisch-zentriert. Hier blüht die "Neue-Musik-Szene" weiterhin, in Frankreich auch, andernorts ist die Lage sicher nicht so rosig (je nach Blickwinkel). Man kann das ganz gut studieren, wenn aus verschiedenen Ländern Kompositionsstudenten zu einem Meisterkurs zusammenkommen, welch unterschiedliche Vorstellungen von gegenwärtiger Musik existieren, oder wenn Organisatoren über Einsendungen zu "Weltmusiktagen" berichten.

  • Will er SEINEN Weg finden - abgekoppelt von Konzertleben, Klassikhörer und Presse - frei von kommerziellen Überlegungen- ?

    Das ist immer das, was man glaubt, dass man es will.



    Zitat

    Will er in einer relativ kleinen Gruppe von Musikhörern bejubelt werden - stets als verkanntes Genie gefeiert - und auf der Jagd nach staatlichen Zuschüssen - deren Gewährung ihm als "Künstler" - in seinen Augen in jedem Fall zusteht, auch wenn seine Musik niemand hören will - was daran Liegt, daß die Welt voller Ignoranten und Banausen ist, die nur Mozart Beethoven und Bach hören wollen - allenfalls noch Mahler....

    Darauf läuft's dann hinaus. Wobei die Jagd nach den Zuschüssen sicher nicht der Hauptantrieb ist, Künstler zu werden, ich kann mir nicht vorstellen, dass das jemand für einen tollen Zeitvertreib hält?



    Zitat

    Will er vom Publikum, oder zumindest einem Teil davon gern gehört und anerkannt werden, mit einem guten Prozentsatz an Aufnahmen. ?

    Das ist aber eigentlich dasselbe wie §2 ... einen Teil des Publikums wollen alle - aber wieviel % sollen es sein? Und letztlich hat man ohnehin keine verlässlichen Informationen darüber.

  • Will er in einer relativ kleinen Gruppe von Musikhörern bejubelt werden - stets als verkanntes Genie gefeiert


    Muss ja nicht sein. Jedenfalls glaube ich, dass ein Komponist wie Pierre Boulez über einen derartigen Verdacht erhaben ist. Und verkannt ist er sicher auch nicht. Sein Rheingold von Bayreuth jagt mir immer noch angenehme Schauer über den Rücken.


    Doch wer versteht seine Musik? Es scheint mir, dass man ohne Mathematikstudium und profunde Kenntnisse in atonaler Musik und Kompositionstechnik keinen Zugang zu ihr finden kann.
    Muss man zum musikalischen Technokraten mutieren, um sie zu begreifen?

  • Ich denke, Boulez hat genug Hörer, um nicht den Eindruck zu haben, nur eine kleine Gruppe jubele ihm zu.
    Ob das nun 1 Prozent, 1 Promill oder weniger der Mozart-Hörer ist, spielt dann auch keine so große Rolle mehr.

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  • Muss ja nicht sein. Jedenfalls glaube ich, dass ein Komponist wie Pierre Boulez über einen derartigen Verdacht erhaben ist. Und verkannt ist er sicher auch nicht. Sein Rheingold von Bayreuth jagt mir immer noch angenehme Schauer über den Rücken.


    Doch wer versteht seine Musik? Es scheint mir, dass man ohne Mathematikstudium und profunde Kenntnisse in atonaler Musik und Kompositionstechnik keinen Zugang zu ihr finden kann.
    Muss man zum musikalischen Technokraten mutieren, um sie zu begreifen?


    Das könntest Du vermutlich mit ebensolchem oder gar weit mehr Recht über Ars nova- und Renaissance-Polyphonie oder die Kunst der Fuge sagen? Wieviel der dortigen Technik muss man begreifen? Ich begreife als Laie auch nur sehr wenig der kompositorischen Technik Mozarts und Brahms'...
    Ich glaube, man muss es gar nicht und ebensowenig bei Boulez oder wem auch immer.


    Ich finde die Sackgassen-Metapher irreführend. War Renaissance-Polyphonie eine Sackgasse, weil ab 1600 Generalbass und Monodie kam? War Generalbass eine Sackgasse, weil diese Technik nach der Mitte es 18. Jhds. ausgelaufen ist? War die Spätromantik keine Sackgasse, selbst wenn sie von beinahe allen Komponisten um 1900, egal ob Schönberg, Debussy oder Stravinsky als solche empfunden wurde, bloß weil sie über Hollywood-Filmmusik "überlebt" hat.
    Wann ist ein Stilwechsel eine "natürliche" Entwicklung, wann das Verlassen einer Sackgasse? (Prophetische Fähigkeiten, ob sie eine Sackgasse einschlagen oder nicht, kann man wohl von niemandem erwarten.) Ich glaube, dass das nur selten klar zu entscheiden ist, v.a. aber, dass es überhaupt keine interessante Unterscheidung ist.
    Es geht doch um die Werke, die eine bestimmte Richtung hervorbringt. Es ist doch ganz gleich, ob zB Mahlers Sinfonien vielleicht das letzte Auflodern einer sterbenden Spätromantik sind, wenn es nur überzeugende und packende Werke sind. Dito mit Erzeugnissen unterschiedlicher "Avantgardes" im Laufe des 20./21. Jhds.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich begreife als Laie auch nur sehr wenig der kompositorischen Technik Mozarts und Brahms'..


    Hier gibt es aber etwas, was unmittelbar berührt, die Melodie. Die verlangt keine Erklärung. Dazu scheinen wir doch in gewisser Hinsicht auf Harmonie getrimmt zu sein, was aber sicher nicht bedeutet, dass strikte Tonalität gefordert ist. Ob man etwas von Fugen versteht oder nicht, schmälert nicht den Genuss bei Bach. Erstens hört man es, dass es eine ist und zweitens - das Wichtigste - entsteht beim Hören nie der Eindruck, dass hier experimentiert wird oder die Technik im Vordergrund steht.


    In der Malerei liegen die Dinge ähnlich. Man braucht Rembrandt nicht zu begreifen, auch der in Malerei Unerfahrene kann dessen Werke bewundern.
    Ein einfarbiges Quadrat erfordert schon etwas mehr; wenigstens sollte man wissen, wie schwer es ist, eine Farbe zum Leuchten zu bringen.


    Mein Eindruck: je moderner, desto mehr sind Kenntnisse vonnöten.


  • Hier gibt es aber etwas, was unmittelbar berührt, die Melodie. Die verlangt keine Erklärung.

    Melodien sind nicht das einzige berührende in der Musik. Und die unmittelbar berührenden pfeifbaren Melodien sind im Musikalischen Opfer oder bei der Ars subtilior Motette auch nicht unbedingt gegeben... (und bei Brahms behaupten auch immer wieder Hörer, da gäbe es kaum Melodien, dito bei Wagner usw. Das scheint also auch ein wenig im Ohr des Hörers zu liegen, was eine Melodie ist und was unmittelbar berührt.)



    Zitat

    Ob man etwas von Fugen versteht oder nicht, schmälert nicht den Genuss bei Bach. Erstens hört man es, dass es eine ist und zweitens - das Wichtigste - entsteht beim Hören nie der Eindruck, dass hier experimentiert wird oder die Technik im Vordergrund steht.

    Das behauptest Du. Vielleicht schmälert/steigert es den Genuss ganz erheblich! Komischerweise klingt außerdem das, was viele Nicht-Klassikhörer über Klassik (zB Bach oder Mozart) sagen, sehr ähnlich dem, was Du über Boulez gesagt hast: Man könne mit dieser Musik nichts anfangen, man verstünde eben nichts davon. Wie können die einen solchen Eindruck haben, wenn die Musik unmittelbar berührt?
    (Namhafte Musiker wie Reichardt waren 30 Jahre nach Bachs Tod der Ansicht, dass bei dem die Technik (Kunstgelehrtheit) zu Lasten von musikalischen Qualitäten, die sie höher schätzten wie Fasslichkeit, Deutlichkeit im Gefühlsausdruck usw., im Vordergrund stünde.)


    Soviel ich weiß hat Barenboim nicht Mathematik studiert, aber Werke von Boulez sogar dirigiert. Ich halte es für extrem unwahrscheinlich, dass jemand wie Boulez normalerweise davon ausgeht, dass seine Zuhörer größtenteils Experten für irgendwelche musikalischen Techniken der Avantgarde sind (oder gar für Mathematik....). Wie hört man einem Werk an, dass die Technik im Vordergrund steht (außer bei offensichtlichen Fällen wie 15 Fugen und Kanons über ein Thema + Varianten)?
    Was genau würdest Du Dir von solchen Kenntnissen versprechen? Hast Du ein Beispiel, ggf. aus einer anderen Sparte, bei dem Du mangels ähnlicher Kenntnisse ein Kunstwerk zuerst nicht schätzen konntest, nach Erwerb der entsprechenden Kenntnisse aber begeistert gewesen bist?



    Zitat

    In der Malerei liegen die Dinge ähnlich. Man braucht Rembrandt nicht zu begreifen, auch der in Malerei Unerfahrene kann dessen Werke bewundern.
    Ein einfarbiges Quadrat erfordert schon etwas mehr; wenigstens sollte man wissen, wie schwer es ist, eine Farbe zum Leuchten zu bringen.


    Mein Eindruck: je moderner, desto mehr sind Kenntnisse vonnöten.

    Ich teile den Eindruck nicht, wobei die Gefahr besteht, dass man mit tendenziös gewählten Beispielen fast alles belegen kann. Deswegen bin ich hier auch vorsichtig. Meiner Ansicht nach muss man über ein Werk der bildenden Kunst aus dem MA oder der Renaissance eher mehr wissen als über eines des 20. Jhds. Die damaligen Maler gingen davon aus, dass die Rezipienten zB die mythologischen oder biblischen Personen, die Symbole von Farben, Blumen usw., Allegorien oder so kannten. Das ist verdammt viel, was man heute vor solch einem Bild stehend alles nicht wissen kann. Dagegen bin ich mir keineswegs sicher, dass die meisten Avantgarde-Maler des 20. Jhds. bei ihrem Publikum ähnliches Hintergrundwissen voraussetzen; einzelne Gegenbeispiele wird man sicher immer finden, aber die Tendenz halte ich für ziemlich eindeutig.

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    (Bob Dylan)

  • Meiner Ansicht nach muss man über ein Werk der bildenden Kunst aus dem MA oder der Renaissance eher mehr wissen als über eines des 20. Jhds.

    Das ist sicher richtig. Meine These aber war, dass man auch ohne diese Kenntnisse diesen Werken einiges abgewinnen kann, das Risiko dabei ist nur, Scharlatanen auf den Leim zu gehen, wobei es aber sicher nicht einfacher ist, die Kunst oder Nichtkunst in einem zeitgenössischen Werk zu beurteilen.
    Übrigens, das verlangte Beispiel über den Wert des Wissens kann ich Dir liefern. Es handelt sich um das genannte einfarbige Quadrat. Ich habe das erstmal als uninteressantes, unkünstlerisches Machwerk abgetan, bis mir ein Maler die "Kunst" dahinter erklärte. Das hat meine Einstellung wenigsten etwas geändert. Begeistern kann es mich immer noch nicht, weil ich eben nur Handwerk dahinter sehe, doch war es wenigstens über den Verdacht erhaben, dass so etwas jeder fertig bringe.


    Über das Thema Melodie lässt sich sicher endlos streiten. Doch bin ich mir sicher, dass unter musikalisch nicht vorbelasteten Hörern, die Mehrheit eine Verdi-Oper als melodiöser empfindet als ein Werk von Maurice Karkoff. Ob das in ein-zweihundert Jahren noch so sein wird, ist eine andere Frage. Die Gehirnforschung wird dies sicher schon eher entscheiden.


    Über Bachs Kunstgelehrtheit kann ich mich nicht auslassen, mir fehlen die theoretischen Kenntnisse dafür. Kann sein, dass sechsfaltiger Kontrapunkt zu musikalischen Qualitätseinbußen führt, aber im Übrigen tue ich mir schwer, bei Bach Mangel an Deutlichkeit im Gefühlsausdruck zu entdecken.