Spielen mit der eisernen Linken: vibratolos

  • Worauf begründet das vibratolose Spiel?


    Roger Norrington, der Hauptvertreter dieser Spielweise, ist ein rotes Tuch für jene, denen dieser helle, schlanke, metallische Klang als Schmalkost vorkommt.


    In diesem Thread Knapp vorbei ist auch daneben ? - Roger Norrington und seine Klangwelten wird über Norrington debattiert. Wenn man recherchiert, weshalb er das vibratolose Spiel der Streichinstrumente (und der Bläser) verlangt, gelangt man zu diesen Statements Norringtons:


    Zitat aus einem Interview, das Norrington mit einem Jounalisten der "Zeit" führte: "
    Es (Anmerkung: das Vibrato) kommt in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf – mit dem Jazz. Es passt zu den Fahrten des Zeppelins und der großen Zeit von Manhattan. Eine neue Zeit brach an: Wir stellen die Saiten auf Stahl um! Das Empire State Building ist auch aus Stahl. Wir erfinden das moderne Orchester, denn auch in der Musik gibt es Fortschritt. Das war das Ideal. Aber es war nicht das Ideal von Brahms, der war kein Fortschrittsapologet. Mahler war für den Fortschritt, aber auch der hat nie ein Orchester mit Vibrato gehört. Das Vibrato war eine Sache der Caféhausmusik. Die Musiker haben es übernommen, und es hat sich eingebürgert, ohne dass die Dirigenten es einforderten. Die Komponisten mochten es gar nicht. Strawinsky fand, dass Vibrato Schund ist, ..." Zitatende


    Zitat aus der Berliner Morgenpost:
    "Roger Norrington weiß sehr genau, dass es im 19. Jahrhundert durchaus schon ein Vibrato gab. Nur eben kein Dauer-Vibrato. Alte Tonaufzeichnungen, etwa Arthur Nikischs Einspielung der Fünften 1913, bestärkten ihn in dieser Auffassung. Die Wiener Philharmoniker spielten noch in den 30er Jahren meistens ohne Vibrato, das Arnold Schönberg mit dem Meckern einer Ziege verglich. Erst danach begannen die Streicher permanent mit der Hand auf dem Griffbrett zu zittern. Fritz Kreisler soll einer der ersten gewesen sein. ... Der berüchtigte deutsche Klang, das sei in Wahrheit der historische, vibratofreie Klang vor 1930!" Zitatende


    Angenommen, Norringtons Argumente stimmen, was bedeutet dies für uns heutige Hörer?
    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • M. E. kommt es nicht nur auf die Dauer an, sondern auch auf den Tonumfang und die Stärke, denn manches Vibrato verkommt für mich zum Tremolo.


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zitat

    Angenommen, Norringtons Argumente stimmen, was bedeutet dies für uns heutige Hörer?


    Wenn wir uns die aktuelle klassische Musikszene ansehen - dann würde ich sagen: sehr wenig.
    Norrington konnte einerseits sein Credo verwirklichen - andrerseits hat er kaum Nachahmer gefunden.Sein Inerpretationsansatz ist interessant, vor allem aus historischer Sicht - er hat sein derzeitiges Orchester aufgewertet - aber das Publikum kauft dennoch eher Karajan, Furtwängler (was mich wegen derTonqualität wundert), Böhm, Klemperer, Fricsay und Celibidache. Und natürlich - wie konnte ich ihn nur vergessen? - Christian Thielemann.
    Man darf nicht davon ausgehen, daß der Geschmack der Forianer einen repräsentativen Überblick über die Prioritäten des Klassikpublikums vermittle. Das meiste, das hier als "Geheimtipp" gehandelt wird ist in Wien gar nicht auf Lager - und beim deutschen Werbepartner nur in seltenen Fällen...
    Musik lässt sich nicht über den Intellekt vermitteln , ebensowenig wie Liebe etc....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Es geht ja offensichtlich um das Vibrato im Orchester, nicht um das Vibrato (der Streicher) generell - das gab es schon im Barock.
    Ich habe keine Ahnung, wem ich glauben soll. Die Aufnahmen romantischer Musik auf Originalinstrumenten sind weitestgehend ohne Vibrato im Orchester, die auf modernen Instrumenten weitestgehend mit. Ich höre beides.

  • Ich bin mir bei dem angeblich vibratofreien Spiel vor 1930 nicht so sicher. Insbesondere habe ich noch keine plausible Erklärung gelesen, warum sich das, quasi über Nacht und auf breiter Front geändert haben sollte.
    Dutzende von berühmten Dirigenten und hunderte von Streichern, die alle vor 1920 (viele vor 1900) ihre Ausbildung abgeschlossen hatten, sollten sich plötzlich Fritz Kreisler anpassen?


    Seltsamerweise ist ebenfalls recht gut belegt, dass "portamento" Ende des 19. Jhds. verbreitet gewesen sei, also ein glissando-artiges "Anschleifen" bei größeren Intervallen. Später fand man das manieriert, kaffeehausmäßig und überhaupt scheußlich.


    Natürlich ändern sich solche Gepflogenheiten und sind regional verschieden. Es gibt einen Bericht über den Klarinettisten Mühlfeld, in dem es heißt, dass sein Vibrato bei einer Aufführung der für ihn geschriebenen Brahms-Werke weiter (oder ausgeprägter) gewesen sein soll als Joachims auf der Geige. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das abscheulich fände. Nach der heutigen "deutsch-österreichischen" Tradition ist Vibrato auf der Klarinette gänzlich verpönt.


    Ich halte es für naiv, einfach zu versuchen, irgendwelche historischen Üblichkeiten einfach zu reproduzieren. Man muss überlegen, was das evtl. für einen musikalischen Sinn hat(te). Sonst ist es für mich eine bloße historische Kuriosität.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Ich halte es für naiv, einfach zu versuchen, irgendwelche historischen Üblichkeiten einfach zu reproduzieren. Man muss überlegen, was das evtl. für einen musikalischen Sinn hat(te). Sonst ist es für mich eine bloße historische Kuriosität.


    Und was ist daran naiv?
    ?(