Komponisten- und Künstlerrankings - boulevardhafte Marotte oder menschliches Ordnungsbedürfnis?

  • In den letzten Tagen ist andernports wieder die Diskussion aufgeflammt, inwiefern es zulässig ist, kreative Geister - in welchem Metier auch immer tätig - in eine Rangfolge, ein sogenanntes "Ranking", zu setzen. Als Naturwissenschaftler kenne ich die überall grassierende Rankingwut nur allzu gut: wenn du gerade selber nicht evaluiert und "gerankt" (ab jetzt ohne Gänsefüße) wirst, musst du andere dieser Behandlung unterziehen. Wenn wir hier eine größere Anzahl Threads analysieren, müssen wir wohl zum Schluss kommen, dass auch wir dazu neigen solche Rankings zu erstellen. Ist dies eine durch den Boulevard suggerierte Unart (frei nach User Helmut Hoffmann) oder ein menschliches Bedürfnis? Ich neige zu zweiterer Hypothese, vor allem in Anbetracht der musikwissenschaftlichen Literatur bis vor wenigen Jahrzehnten. Da wurde ohne Unterlass geordnet, in wertende Zusammenhänge gestellt, evaluiert, etc... Natürlich gingen Bach, Mozart und Beethoven immer als Gewinner aus solchen Rankings hervor. Man muss solcher Methodik keine Träne nachweinen, um heute eher die gegenteilige Entwicklung zu beklagen: man traut sich nicht mehr Stellung zu beziehen. Unlängst las ich zwei Kurzbiographien über Händel, beide erschienen bei rororo. Während die ältere Ausgabe vor Werturteilen nur so strotzte, fand ich im neuen Buch (vor einigen Jahren erschienen) keine einzige (!) Wertung irgendwelcher Art. Das ganze las sich überaus "neutral". Die Frage ist, ob diese Vorgehensweise ehrlich ist, denn weshalb dann ein Buch über Händel und nicht Graupner schreiben? Mein Fazit wäre: Rankings entsprechen der menschlichen Denkweise, der Orientierungssucht des Menschen, und lassen sich höchstens künstlich unterdrücken.


    Was meint ihr?

  • Rankings entsprechen der menschlichen Denkweise, der Orientierungssucht des Menschen


    Und zeigen m. E. einen Verlust an Individualität an. (Ein Beispiel als Erläuterung was ich meine: Was ist die beste GA von.... - für mich gibt es immer nur den für mich besten Kompromiss aus einer Vielzahl von GA - es gibt bestimmt ein Teil einer GA, welches in einer anderen GA für mich besser ist.)

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Hallo Felix,


    ästhetische Urteile führen zu Bewertungen, freilich. Weil sie normative Maßstäbe aufstellen. Die Frage ist aber, ob diese Maßstäbe bei einer bestimmten Musik oder einem Komponisten angebracht sind und ob es überhaupt die entscheidenden sind, die in der Lage sind, seine Bedeutung zu erfassen.


    Ich gebe mal ein Beispiel: Auf einer Konferenz, wo Philosophen und Musikwissenschaftler zusammen waren, unterhalte ich mich in der Kaffeepause mit einem Komponisten und Musikwissenschaftler. Er bemängelt bei Gustav Mahler den Tonsatz, dass seine Fugen satztechnisch sehr unzulänglich seien. Er wird wissen, wovon er spricht, er ist schließlich Komponist. Nur ist dieses Urteil berechtigt? Liest man Mahlers Äußerungen, dann erfährt man, dass für ihn die Form nicht Selbstzweck ist, sondern eine Ausdrucksbedeutung hat. Zur Fuge sagt Mahler, daß sie das "Chaos" des Weltgetümmels zum Ausdruck bringen soll. Wie sollte also eine handwerklich perfekt gedrechselte Fuge Chaos bedeuten können? Mahlers fehlende Perfektion hat also einen tieferen Sinn - nur hat der Betreffende das nicht realisiert, weil er an einem bestimmten Ideal von Komposition abstrakt festhält, dessen Anwendung in diesem Fall einfach ästhetisch fragwürdig ist.


    Ästhetische Wertungen unterliegen selber der Kritik und verlangen von demjenigen, der sie kundgibt, viel Verantwortung, wenn er die Musik und den Komponisten wirklich ernst nimmt und ernst nehmen will. Eigentlich hat man nur etwas von solchen Werturteilen, welche die überragende Bedeutung eines Komponisten zu begründen helfen. Die meisten Geringschätzungen dagegen entspringen einer ziemlich oberflächlichen Betrachtung. Es gibt natürlich auch solche Beispiele wie Adorno und Strawinsky. Adornos Ablehnung von Strawinskys Musik ist intellektuell höchst anspruchsvoll, geht aber für mich völlig am Phänomen Strawinsky vorbei. Er findet da einfach keinen Zugang. Adornos Beschreibung entspricht in keiner Weise dem, wie ich diese Musik erlebe. Ich werde also gegen Adorno Strawinsky hochhalten - dafür muß ich dann aber eine andere Begründung suchen. Und: Persönliche Präferenzen was Musik angeht darf man natürlich haben, das gehört zum Leben. Was mir eine Musik bedeutet, warum sie für mich zentral ist, kann sich, muß sich aber nicht mit den Maßstäben einer allgemeinen musikhistorischen und ästhetischen Betrachtung decken. Auch darüber kann man aber reflektieren und sollte so doch letztlich differenzieren können.


    Beste Grüße
    Holger

  • Ein Ranking ist eine vereinfachte, popularisierende Form der Bewertung.
    Wissenschaftler oder Historiker erstellen normalerweise keine Rankings, aber natürlich bewerten sie Einfluss und Relevanz von historischen Persönlichkeiten. Und allein in der Auswahl, über wen überhaupt eine Biographie o.ä. geschrieben wird, steckt offenbar auch eine Wertung.
    Jedermanns Zeit und Aufmerksamkeit sind begrenzt. Man muss, egal ob als Musiker oder Musikhörer entscheiden, was die Beschäftigung lohnt. Natürlich gibt es Ausnahmen: Ein Musikhistoriker kann sich bewusst auf eine bisherige Lücke verlegen, in Grenzen auch ein Musiker, weil ihm da mehr Aufmerksamkeit sicher ist, als wenn er sich in ausgetretenen Pfaden bewegt.
    Aber wenn der Musikhistoriker entscheidet, was er den neuen Studenten in der Überblicksvorlesung präsentiert, wird er eine "kanonische" Auswahl treffen. Solche Auswahlen sind nie absolut neutral, aber auch nicht subjektiv oder beliebig, sondern historisch gewachsen und kontextabhängig. Es hat unterschiedliche Gründe, dass man im Deutschunterricht mit recht hoher Wahrscheinlichkeit Gedichten von Heine oder Hölderlin begegnet und mit eher geringer solchen von Nietzsche.


    Da es von fast allem mehr gibt als man in der zur Verfügung stehenden Zeit vernünftig rezipieren kann, helfen "Kanons" oder eben auch "Rankings" bei einer Auswahl. Sie können die eigene Auswahl nicht ersetzen, aber erleichtern, besonders für einen Neuling auf dem jeweiligen Gebiet. Natürlich können sie auch einen verzerrten Eindruck erwecken, meistens durch historische Distanz, spezifische Rezeptionsgeschichte oder auch starke Vereinfachung bedingt.


    Wie ich in einem anderen thread schon einmal schrieb, sehe ich aber kaum eine Alternative. Wenn man sich nicht, wenigstens in gewissem Maße auf eine fremde (hoffentlich von möglichst unparteiischen und informierten "Experten" getroffene) Vorauswahl verlassen will, muss man (in gewissen Grenzen) selber zum "Experten" werden. Wenn ich mich nicht darauf verlassen möchte, dass mir jemand, der sich ausführlich mit den Werken befasst hat, 20 "beste" oder "repräsentative" Bach-Kantaten vorschlägt, dann muss ich mich selbst mit 200 Kantaten befassen, um herauszufinden, welche "für mich" die besten sind. Genauso bei Lyrik oder bei Gebieten des Wissens oder der Wissenschaft. Das mag eine angenehme und lohnende Beschäftigung sein, aber in der Zeit, in der ich ihr nachgehe, kann ich nicht gleichzeitig auch noch meine persönliche Auswahl unter 500 Scarlatti-Sonaten, 30 Donizetti-Opern oder 105 Haydn-Sinfonien treffen, also muss ich mich ggf. auf diesen Gebieten entsprechend auf Vorauswahlen verlassen. Und genauso, wenn ich Heine oder Nietzsche lesen will usw.


    Normalerweise wird man doch so vorgehen, dass man eine Auswahl (die bekanntesten, angesehensten oder als besonders leicht zugänglich geltenden Werke) von Musik, Texten usw. eines Autors sich vornimmt und man, wenn einen diese interessieren, weitere seiner Werke rezipiert. Je nachdem, was man vorhat, kann man aber auch zum nächsten Autor übergehen, weil man zB an einer größeren Breite interessiert ist. Das hängt eben auch davon ab, wie umfangreich und schwierig ein Werk ist. Das ist wesentlich relevanter bei literarischen, historischen, philosophischen usw. Texten. Ich habe als Nicht-Literaturwissenschaftler im Frühjahr Grimmelshausen "Simplicissimus" gelesen, was mehrere Wochen oder gar Monate gedauert hat. Fand ich zwar faszinierend und unterhaltsam, aber ich halte es für eher unwahrscheinlich, dass ich einen oder gar mehr weitere längere Texte Grimmelshausen lesen werde. Denn es kostet ziemlich viel Zeit, die ich vielleicht lieber auf etwas anderes, sagen wir "Don Quixote" verwenden könnte.

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    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)


  • Und zeigen m. E. einen Verlust an Individualität an. (Ein Beispiel als Erläuterung was ich meine: Was ist die beste GA von.... - für mich gibt es immer nur den für mich besten Kompromiss aus einer Vielzahl von GA - es gibt bestimmt ein Teil einer GA, welches in einer anderen GA für mich besser ist.)


    Den Einwand verstehe ich nicht ganz. Es geht doch gerade in diesen Threads ("Die beste Gesamteinspielung von...") um das Abgleichen subjektiver Erfahrungen. Man präsentiert seine Lieblingseinspielung. Ein Ranking im eigentlichen Sinne ist das nicht.

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  • ästhetische Urteile führen zu Bewertungen, freilich. Weil sie normative Maßstäbe aufstellen. Die Frage ist aber, ob diese Maßstäbe bei einer bestimmten Musik oder einem Komponisten angebracht sind und ob es überhaupt die entscheidenden sind, die in der Lage sind, seine Bedeutung zu erfassen.


    Natürlich! Nur, die Tatsache, dass unsere Bewertungen nicht perfekt sind, bedingen nicht, dass wir ihrer nicht bedürfen. Selbstverständlich hängt unser Urteil mit dem Verständnis, das wir Musik entgegenbringen zusammen. (Dieses Thema wurde vor nicht allzu langer Zeit in folgenden Thread diskutiert: Was heißt eigentlich „Musik verstehen“?.)


    Dein Beispiel mit Mahler, allerdings, ließe sich noch eine Stufe weiterführen. Der von dir erwähnte Komponist, der sich seiner Meiner nach ein gültiges, deiner Meinung nach aber aufgrund fehlender Informationen ein ungültiges Urteil gebildet hat, könnte nun antworten: "Mag sein, dass Mahler die Fuge mit dieser Absicht eingesetzt hat, nur ist das eine abgegriffene Metapher, die bereits Liszt in seinem Prometheus, den Mahler sicher kannte, benutzte - wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen (die Fuge symbolisiert Ordnung, die der Mensch schafft)." Jener Komponist lehnt Mahlers Mahlers Musik nun ab, da sie nicht nur inkorrekt komponierte Fugen enthält, sondern weil er auch die "tiefere Bedeutung" Mahlers Vorgehensweise verneint. Somit unterscheidet sich dann, was wir "gültiges" oder "ungültiges" Urteil nennen, nur noch durch Wissensschnipsel, die uns unter Umständen entgangen sind - irgendwann dann auch dem Komponisten selbst. Da somit das Fällen "gültiger" Urteile theoretisch unmöglich ist, kann die "Ungültigkeit" von Urteilen nicht als Argument gegen das Erstellen von "Rankings" angeführt werden. Das menschliche Denken ist nämlich auf Prioritäten angewiesen um Entscheidungen zu treffen, weshalb wir sie auch ständig - teilweise unterbewusst - verteilen. Davon unabhängig wie explizit bzw. implizit man das macht, es hat Auswirkungen auf unser Leben, und sei es nur die Häufigkeit mit der Komponist A oder B im Konzert gespielt werden. Die subjektiven Eindrücke vieler Individuen erhalten in der Praxis eine gewisse Objektivität. Das Ranking ist die expliziteste Form der Prioritätenbezeugung und wirkt daher oft gewissermaßen obszön, implizit ist das Prinzip aber in jedem von uns wirksam.


  • Natürlich! Nur, die Tatsache, dass unsere Bewertungen nicht perfekt sind, bedingen nicht, dass wir ihrer nicht bedürfen. Selbstverständlich hängt unser Urteil mit dem Verständnis, das wir Musik entgegenbringen zusammen. (Dieses Thema wurde vor nicht allzu langer Zeit in folgenden Thread diskutiert: Was heißt eigentlich „Musik verstehen“?.)


    Dein Beispiel mit Mahler, allerdings, ließe sich noch eine Stufe weiterführen. Der von dir erwähnte Komponist, der sich seiner Meiner nach ein gültiges, deiner Meinung nach aber aufgrund fehlender Informationen ein ungültiges Urteil gebildet hat, könnte nun antworten: "Mag sein, dass Mahler die Fuge mit dieser Absicht eingesetzt hat, nur ist das eine abgegriffene Metapher, die bereits Liszt in seinem Prometheus, den Mahler sicher kannte, benutzte - wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen (die Fuge symbolisiert Ordnung, die der Mensch schafft)." Jener Komponist lehnt Mahlers Mahlers Musik nun ab, da sie nicht nur inkorrekt komponierte Fugen enthält, sondern weil er auch die "tiefere Bedeutung" Mahlers Vorgehensweise verneint. Somit unterscheidet sich dann, was wir "gültiges" oder "ungültiges" Urteil nennen, nur noch durch Wissensschnipsel, die uns unter Umständen entgangen sind - irgendwann dann auch dem Komponisten selbst. Da somit das Fällen "gültiger" Urteile theoretisch unmöglich ist, kann die "Ungültigkeit" von Urteilen nicht als Argument gegen das Erstellen von "Rankings" angeführt werden. Das menschliche Denken ist nämlich auf Prioritäten angewiesen um Entscheidungen zu treffen, weshalb wir sie auch ständig - teilweise unterbewusst - verteilen. Davon unabhängig wie explizit bzw. implizit man das macht, es hat Auswirkungen auf unser Leben, und sei es nur die Häufigkeit mit der Komponist A oder B im Konzert gespielt werden. Die subjektiven Eindrücke vieler Individuen erhalten in der Praxis eine gewisse Objektivität. Das Ranking ist die expliziteste Form der Prioritätenbezeugung und wirkt daher oft gewissermaßen obszön, implizit ist das Prinzip aber in jedem von uns wirksam.

    Hallo Felix,


    das meinte ich ja auch, daß wir faktisch immer Prioritäten setzen. Nur kann das doch auf sehr verschiedene Weise geschehen - und darüber kann und muß man diskutieren. Ich kann auch Prioritäten setzen, ohne "Hitlisten" aufzustellen. Das suggeriert nämlich eine Meßbarkeit, die es in ästhetischen Fragen so nicht gibt. Natürlich kann man sagen, welche Aufnahmen bzw. welche Musik in die oberste Kategorie gehört. Doch wenn man über eine solche grobe Orientierung hinaus z.B. meint, durch das Verteilen von Schulnoten einen Erkenntnisgewinn zu erreichen, dann halte ich das für fragwürdig. Es sind ja durchaus nicht dieselben Gründe bzw. Kriterium, warum ich Musik a oder b ähnlich hoch einschätze. Wie will man das wirklich exakt vergleichen?


    Der Mahler ist das Beispiel für eine abstrakte Sicht. Man kann akademisch Musik immer vorrechnen, daß sie etwas falsch macht. Nur geht es da gar nicht mehr darum, was tatsächlich für das Hören wichtig ist. Mahler würde beanspruchen, daß man seinen Fugatos auch ohne Wissen anhört, daß sie ein "Getümmel" zum Ausdruck bringen. Uns so ist es ja auch. Solche Einwände sind ziemlich akademisch - interessant allenfalls für Komponisten, die über ihr Handwerk fachsimpeln.


    Beste Grüße
    Holger

  • Hallo Holger,

    das meinte ich ja auch, daß wir faktisch immer Prioritäten setzen. Nur kann das doch auf sehr verschiedene Weise geschehen - und darüber kann und muß man diskutieren. Ich kann auch Prioritäten setzen, ohne "Hitlisten" aufzustellen. Das suggeriert nämlich eine Meßbarkeit, die es in ästhetischen Fragen so nicht gibt. Natürlich kann man sagen, welche Aufnahmen bzw. welche Musik in die oberste Kategorie gehört. Doch wenn man über eine solche grobe Orientierung hinaus z.B. meint, durch das Verteilen von Schulnoten einen Erkenntnisgewinn zu erreichen, dann halte ich das für fragwürdig. Es sind ja durchaus nicht dieselben Gründe bzw. Kriterium, warum ich Musik a oder b ähnlich hoch einschätze. Wie will man das wirklich exakt vergleichen?

    wir sind selbstverständlich weitgehend einer Meinung. Vorlieben auf irrwitzige Inkremente umzurechnen, ist vollkommen erkenntnisfrei und wahrscheinlich weitgehend artifiziell. Andererseits haben wir hier bis jetzt nur Rankings besprochen, die eine Person über mehrere "Bewertungsgegenstände" erstellt. Rankings statistischer Art, die Johannes in seinem Beitrag anführt, können einem schon gewisse wertvolle Informationen liefern. Fragt man 100 Personen, welcher Komponist ihr Liebling sei bekommt man wohl das übliche Ranking mit den üblichen Verdächtigen. Das sagt auf jeden Fall etwas "objektivierbares" (?) über das menschliche ästhetische Empfinden aus, selbst wenn es sich aus subjektiven und, vor allem, im Detail nicht aufschlüsselbaren Eindrücken speist.



    Der Mahler ist das Beispiel für eine abstrakte Sicht. Man kann akademisch Musik immer vorrechnen, daß sie etwas falsch macht. Nur geht es da gar nicht mehr darum, was tatsächlich für das Hören wichtig ist. Mahler würde beanspruchen, daß man seinen Fugatos auch ohne Wissen anhört, daß sie ein "Getümmel" zum Ausdruck bringen. Uns so ist es ja auch. Solche Einwände sind ziemlich akademisch - interessant allenfalls für Komponisten, die über ihr Handwerk fachsimpeln.

    Ich bin ganz deiner Meinung. Das war der Hauptstreitpunkt im "Musik verstehen"-Thread.

  • Bewertungen sind zum. im musikalischen Bereich natürlich immer in gewissem Masse subjektiv geschmacksgeprägt, denn ob dieses Werk oder bestimmter Komponist besser oder schlechter ist läßt sich oftmals nicht allein von bestimmten Kriterien ableiten. Für manche ist zB die perfekte Beherrschung der Fugenform das Höchste, manche läßt das kalt und bevorzungen lieber homophon strukturierte Werke - von der Kunst und dem Schwierigkeitsgrad ist im Regelfall Ersteres höher einzuschätzen aber es sind auch noch so viele andere Kriterien in der Musik wie Motifstruktur, Themen, Harmonieabfolge und Aufbau, Instrumentation,...und es am jeweiligen Menschen liegt inwiefern er Prioritäten setzt und auf welche Details diese Person achtet und empfänglich ist. Das kann schon sein das Mahler das beabsichtigt hat doch ich erleb es oftmals bei heutigen Musikern das bei gewissen Defiziten die berühmte Ausrede "das war ja genau so gewollt" kommt - aber das würde ich natürlich niemals Mahler unterstellen den ich natürlich sehr schätze, außerdem ist es dann gut wenn es auch gut funktioniert (zum. für ein gewisses Mass an Musikkonsumenten nicht nur für den Komponisten selber :) ) obwohl es nicht exakt den Kompositionsregeln entspricht.
    Wie Felix schrieb denke ich auch dass die Wertung die Summe aller subjektiven Meinungen (wohlgemerkt im Klassikbereich nur von regelmäßigen Klassikhörern) entspricht - jede Einzelne für sich gesehn mag noch nicht so bedeutend für eine allgemeingültige Wertung sein, zusammen stellt sie aber einen gewissen Wert da an dem man sich schon orientieren kann.


    lg
    Thomas

    „Eine Erkenntnis von heute kann die Tochter eines Irrtums von gestern sein.” (Marie von Ebner-Eschenbach)

  • Mein Fazit wäre: Rankings entsprechen der menschlichen Denkweise, der Orientierungssucht des Menschen, und lassen sich höchstens künstlich unterdrücken.Was meint ihr?

    Ich meine, du hast ganz sicher Recht! Ebenso wie ein Mensch atmet, isst und trinkt, notdurftet, liebt und denkt und fühlt wird er alle Erscheinungen in sich und in seiner Umwelt bewerten. Das muss er, das ist eine Notwendigkeit, letztlich eine Frage des Überlebens, auch wenn uns das heute nicht mehr so bewusst ist. Gerade in einer Umwelt wie der unsrigen heute, komplex und verworren und überflutet mit Informationen, kommt Selektion und Wertung eine besondere Bedeutung zu! Früher war das eine Selbstverständlichkeit und niemand hat sich über Urteile und Wertungen aufgeregt: Die diesbezügliche Skepsis heute resultiert aus unserer modernen Gesellschaft, die in ihrem schrankenlosen Liberalismus und ihrem allgemeinen Werteverfall wie auch durch ihre Angst vor der Geschichte die Uneindeutigkeit und das sich nicht festlegen wollen zum Dogma erhoben hat. Man muss nur einen Blick in unsere Lehrpläne werfen, die diesen Namen schon lange nicht mehr verdienen: Nur noch Methoden, kein Inhalt, keine Wertungen! Alles wird millionenfach abgewogen, ins Verhältnis gesetzt, sanft umschrieben und niemals offen bewertet. Was in den Wissenschaften teilweise seine Berechtigung haben mag, wird im normalen Leben bald unerträglich, zumal die Wirkungsmechanismen unterhalb der politisch korrekten Ebene im Alltag ja dennoch ihr Werk tun und eben praktisch ihre Wertungen treffen. Belastet wird das ganze Problem noch durch die Demokratie und die Revolution der Medien: Jeder darf offen urteilen und werten, auch der Unberufene; wodurch natürlich Urteile und Wertungen an Wert verlieren. Im Gegenzug sieht sich der Weise gezwungen, entweder ganz zu schweigen und gar nicht mehr zu gewichten oder zuzuspitzen, zu übertreiben und zu überziehen. Wertungen sind kein bloßes Spiel, kein bloßer akademischer Zeitvertreib: Sie sagen etwas aus, über die Menschen, die sie treffen, und über jene, die sie teilen oder ablehnen; über deren Umwelt und sonstigen Kontext. Sie sind also notwendig für unser Menschsein!

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  • ad Yorick: so weit wollte ich gar nicht ausholen ;) . Ich werde auch nicht sehr darauf eingehen, denn die Forumsleitung ist beim Thema Politik bei Tamino - du wirst dich freuen! - nicht sehr liberal. Ich habe allerdings ein bisschen den Eindruck, du verwechselst Liberalität mit Feigheit oder Gleichgültigkeit. Ansonsten war ich erstaunt, einen begeisterten Nietzscheaner, den allgemeinen Werteverfall beklagen zu hören! Nietzsche in der Soutane? ;)

  • ad Yorick: so weit wollte ich gar nicht ausholen ;) . Ich werde auch nicht sehr darauf eingehen, denn die Forumsleitung ist beim Thema Politik bei Tamino - du wirst dich freuen! - nicht sehr liberal. Ich habe allerdings ein bisschen den Eindruck, du verwechselst Liberalität mit Feigheit oder Gleichgültigkeit. Ansonsten war ich erstaunt, einen begeisterten Nietzscheaner, den allgemeinen Werteverfall beklagen zu hören! Nietzsche in der Soutane? ;)

    Armin Mohler würde sagen, wieso verwechseln; ist das nicht das Gleiche? :) Und Nietzsche wusste um die Relativität von Werten, das heißt aber nicht, dass er den jeweilig gültigen völlig apathisch oder anarchisch gegenüber stand, zumindest nicht allen; sie hatten schließlich ihr Funktion im jeweiligen Zeitalter. Und so eine Soutane ist schon praktisch; wiewohl außerliturgisch aber bei uns Lutherischen als Adiaphora abgelehnt; ich fühlte auch nie die Berufung zum geistlichen Stande, mit Ausnahme meiner Huysmans-und Jesuiten-Phase. 8-)

  • Rankings im genannten Bereich des Titels sind einerseits ein beliebtes Spielchen andrerseits eine beliebte Maßnahme zur Lenkung des Publikums.
    Irgendwie scheint es ein Wunsch der Menschheit zu sein, "das (vermeintlich) BESTE" herauszufiltern - und es dann zum allgemeinen Maßstab zu erklären. Das war eigentlich schon immer so, es wurde im Bereich der "klassischen Musik" seit Jahrhunderten so gehandhabt - wir verdanken diesen Praktiken den heutigen Kanon "berühmter Komponisten" Wenn ein Komponist der Vergangenheit dem Verfasser eines Musiklexikons, das 50 oder 100 Jahre später erschien, unbekannt war - oder mit dessen Idealbild einer Kompositon nicht kompatibel schien - dann standen die Chancen recht gut, daß er auf "ewig" in Vergessenheit geriet oder sich eines "Zweifelhaften Rufes" erfreute. Denn die Verfasser späterer Musiklexika beriefen sich gerne auf die "Kapazitäten" der älteren Musikliteratur - und schrieben fleißig davon ab.
    Zwei Beispiele waren hier Antonio Vivaldi - lange Zeit als "Kleinmeister" gebrandmarkt oder als "Ein Werk Komponist" im Bewusstsein, gleichzeitig aber als "Vielschreiber ohne Tiefgang" gebrandmarkt.


    Das zweite Beispiel geht in die andere Richtung: Otto Jägermeier
    Otto Jägermeier - ein reales Phantom ?


    Hier gab es sehr wohl Rezensionen, Bewertungen und Lexikoneinträge.
    Wenn wir ihn in ein Ranking unterbringen wollen so kann gesagt werden, Jägermeier wäre der berühmteste Komponist der Klassikszene, der niemals gelebt hat.


    Bei Tamino erfüllt das Ranking verschiedene Funktionen, die oft unabhängig voneinander sind.


    Es können die "berühmtesten" Dirigenten, Komponisten, Pianisten, Sänger etc genannt werden - eine relativ leichte Übung, sollte man meinen bei der das Ergebnis schon vorhersehbar wäre. In Wirklichkeit ist das aber nicht so - denn Ruhm kann verblassen - und einst hochberühmte Interpreten werden von anderen verdrängt - ich frage mich, wie vielen Musikfreunden der Name Melba noch geläufig ist - und wie vielen Netrebko


    Dann kann man seinen persönlichen Favoriten (z.B Lieblingsdirigent) "pushen" und vielleicht auch ein wenig Interesse für ihn erzeugen.


    Klassiklabels manipulieren auf diese Weise oft die Charts um stockende Umsätze wieder in Schwung zu bringen.


    Bei Tamino indes können sich hieraus gelegentlich Threads entwickeln


    Rankings sind also weitgehend unverzichtbar - und entsprechen durchaus einem menschlichen Bedürfnis....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich stehe solchen "Rankings" keinesfalls ablehnend gegenüber. Sie können sogar hilfreich und nützlich sein - solange man sich zugleich der Begrenztheit ihrer Aussagekraft immer bewusst ist. :)


    Beste Grüße vom Stimmenliebhaber

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Zitat

    Nur kann das doch auf sehr verschiedene Weise geschehen - und darüber kann und muß man diskutieren. Ich kann auch Prioritäten setzen, ohne "Hitlisten" aufzustellen. Das suggeriert nämlich eine Meßbarkeit, die es in ästhetischen Fragen so nicht gibt.


    Werter Holger,


    das ist ein ganz wichtiger Satz, trifft den Nagel auf den Kopp!


    Karajan ist z.B. im "Ranking" der Ausführenden der Beethoven-Simphonien ganz oben, es war für mich ein Grund, ihn zuerst zu kaufen.


    Die intensive Auseinandersetzung mit dem Gehörten führte für mich dann zu der Meinung, das ich mir auf jeden Fall andere Einspielungen anhören muss, mein Urteil überprüfen, mich selber als erstes In Frage stelle und analysiere, was mir nicht gefällt und warum.


    Die Einordnung in ein Ranking ist in der Menschheitsgeschichte und auch in der Natur vorgegeeben, siehe ein Wolfsrudel.


    Nur kann Kunst sich frei bewegen und ist im Grunde nicht auf ein rein physisches Überleben angewiesen.


    Oh ja, wir leben in einer bösen Welt, Liberalismus, Demokratie, alles Teufelszeug. Ich bin für die Wiedereinführung der Monarchie, ich will Zensur zurück, da weiss ich, was ich zu hören habe! 8o

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  • Einen Aspekt sollten wir auch nicht übersehen: wissen wir, welche Komponisten zum Mainstream gehören, dann können wir uns der Außenseiter leichter annehmen, was einem beizeiten einen exklusiven Nimbus verleiht ;)

  • Es wurde in der Vergangenheit im Forum schon mehrfach das Büchlein "Größe in der Musik" von Alfred Einstein erwähnt, ohne dass das jedoch vertieft worden wäre. Ich habe das diese Woche auf einer Zugfahrt noch mal durchgelesen und fand es wieder sehr interessant. Einstein ist sich (*1880, um 1940 schreibend) der Problematik der historischen Wandelbarkeit natürlich bewusst, schreckt aber dennoch nicht vor Wertungen zurück.


    Er beginnt mit einem Beispiel für den historischen Wandel, nämlich Komponistenbüsten in einem "Großen Odeons-Saal" in München:


    "1811, als der Bau des Odeons neu war, stand neben Joseph Haydn noch Michael Haydn, an Stelle Beethovens stand Cimarosa, und ich bin nicht sicher, ob neben Händel bereits Bach figurierte, und nicht viel eher Graun oder Hasse. Als ich selbst ganz jung war, um 1890, waren es zehn Gipsköpfe: Bach und Händel, Gluck und Haydn, Mozart und Beethoven, Weber und Schubert, Schumann und Mendelssohn; womit man sich damals einigermaßen einverstanden erklären konnte. Als aber Felix Mottl, ein bedeutender neudeutscher Dirigent [...] nach München kam, vermehrte er den erlauchten Halbkreis um zwei weitere Büsten: Wagner und Liszt. Brahms wurde nicht berücksichtigt, vermutlich, weil er sich mit seinem Bartschmuck unter lauter glatten und mehr oder minder klassisch-römischen Masken fremdartig ausgenommen hätte. Wie die Zusammenstellung später aussah, weiß ich nicht: ich vermute nur, daß Mendelssohn zeitweilig verschwunden, und dafür Anton Bruckner eingezogen war." (S.17)


    Einstein führt dann neben einigen Anmerkungen zu nationalen Eigenheiten zuerst aus, dass historisch unbestrittene Größen vor Bach und Händel "versteinert" seien, weil die Stile der Mehrzahl der Hörer zu wenig vertraut sind (Monteverdi war damals gerade erst "wiederentdeckt" worden.
    Als nächstes (S. 39) bringt er eine Liste "musikgeschichtlich anerkannter Namen": Bach, Händel, Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven, Weber, Schubert, Schumann, Mendelssohn, Wagner, Liszt, Berlioz, Verdi.
    Von denen werden nun Weber, Mendelssohn, Gluck, Schumann, Berlioz, Liszt als Wackelkandidaten näher betrachtet und fünfen wird "Größe" nur eingeschränkt zuerkannt. Ich verrate erst einmal noch nicht, wer (auch für mich ziemlich erstaunlich) bei Einstein "ungeschoren" davon kommt.


    Das Büchlein ist interessant und gut lesbar (ganz untechnisch), gebraucht noch problemlos zu finden.


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    (Bob Dylan)

  • Hallo Thomas,


    so sollte es auch sein. Ein so gewichtiges Werk wie Beethovens Symphonien stürzt Interpreten wie Hörer in ein Abenteuer des Hlörens und Verstehens, das ein Leben dauert! :) Warum sollten wir uns auch sonst ein solches Werk immer wieder anhören, ohne des Hörens überdrüssig zu werden!


    Das mit dem Wolfsrudel ist witzig - aber wohl die Wahrheit. Unsere "Tierheit" können wir letztlich nicht verleugnen! ;)


    Beste Grüße
    Holger

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  • Ich verrate erst einmal noch nicht, wer (auch für mich ziemlich erstaunlich) bei Einstein "ungeschoren" davon kommt.

    Er hat doch das Buch "Mozart - sein Charakter sein Werk" geschrieben, zum. dürfte er schätz ich mal eine gewisse Wertschätzung für ihn empfunden haben (?) (Es gibt ja das Zitat von seinem Bruder "Mozarts Musik ist so rein und schön, daß ich sie als die innere Schönheit des Universums betrachte" wie genau jetzt Alfred über ihn dachte weiß ich nicht da ich das erwähnte Buch nicht gelesen habe) Ich hätte somit eigentlich auf Mozart getippt, deine Fragestellung impliziert jedoch einen gewissen Überraschungseffekt nehme ich mal stark an. ;) dann tippe ich mal auf Haydn oder Händel. (Alles Andere wäre ja keine Überraschung mehr, Schubert würde ich keine Chancen einräumen :) )

    „Eine Erkenntnis von heute kann die Tochter eines Irrtums von gestern sein.” (Marie von Ebner-Eschenbach)

  • Es stehen nur die sechs separat genannten zur Debatte, Mozart, Händel, Haydn sind alle unbestritten "groß". Und Berlioz bleibt problematisch. (Meiner Ansicht nach "rettet" Einstein einen von den sechsen, den viele von uns vielleicht als einen der ersten ausgeschlossen hätten..)
    Andere Kandidaten, die Einstein vielleicht als wackelig empfände (wie Bruckner) werden gar nicht thematisiert. Ich reiche vielleicht später noch ein paar seiner Bemerkungen nach, empfehle aber das Selberlesen. Er nimmt zwar kein primitives Ranking vor, aber einiges kommt uns 60-70 Jahre später schon etwas seltsam vor. Wobei ich anhand der oben zitierten Passage zum historischen Wandel und anderer vermute, dass Einstein sich des dünnen Eises durchaus bewusst war. Die Überlegungen und Argumente bleiben dennoch teils recht interessant.


    Albert und Alfred Einstein waren, wenn überhaupt, nur sehr entfernt miteinander verwandt.

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  • Vielleicht waren sie ja Brüder waren Albert und Alfred Einstein nicht! ;)


    Ups... :wacko: ich habe mir eingebildet das mal gelesen zu haben, o.k. ab jetzt weiß ichs ja :D
    Gut, dann habe ich JR auch noch falsch verstanden, kann ich meinen Beitrag wieder löschen? :whistling: Dann ist es schwer es zu erraten, könnte evtl. Mendelssohn sein obwohl der zu dieser Zeit nicht sonderlich beliebt war.(aber das wäre ja dann auch die Überraschung) Nachtrag: Den ich persönlich als Ersten ausschliessen würde wäre Gluck obwohl ich auch gestehn muss kaum etwas von ihm zu kennen (da er in meinen Lieblingsgattungen kaum präsent war bzw. kaum etwas davon auf Einspielungen gibt)

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  • Es stehen nur die sechs separat genannten zur Debatte, Mozart, Händel, Haydn sind alle unbestritten "groß". Und Berlioz bleibt problematisch. (Meiner Ansicht nach "rettet" Einstein einen von den sechsen, den viele von uns vielleicht als einen der ersten ausgeschlossen hätten..)
    Andere Kandidaten, die Einstein vielleicht als wackelig empfände (wie Bruckner) werden gar nicht thematisiert. Ich reiche vielleicht später noch ein paar seiner Bemerkungen nach, empfehle aber das Selberlesen. Er nimmt zwar kein primitives Ranking vor, aber einiges kommt uns 60-70 Jahre später schon etwas seltsam vor. Wobei ich anhand der oben zitierten Passage zum historischen Wandel und anderer vermute, dass Einstein sich des dünnen Eises durchaus bewusst war. Die Überlegungen und Argumente bleiben dennoch teils recht interessant.


    Albert und Alfred Einstein waren, wenn überhaupt, nur sehr entfernt miteinander verwandt.


    Ok, mit Berlioz draußen, komme ich wahrscheinlich drauf. Gluck oder Schumann wären keine Überraschung. Mendelssohn kann ich ausschließen, weil ich weiß, dass Einstein Mendelssohn sehr geschätzt hat, aber eine Überschätzung Mendelssohns zu dessen Lebzeiten konstatiert hat. Bleiben nur Weber und Liszt. Aber Weber groß und Gluck nicht, geht nicht, bleibt also nur Liszt.

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  • Warum Gluck? Ich weiß ja nicht wie bedeutend Gluck zu seinen (A.Einsteins) Lebzeiten noch war aber heute wird er überwiegend nur von Klassikhörern mit gewisser Leidenschaft zur Oper geschätzt, hat keine nennenswerte Sinfonie hinterlassen, meines Wissens kein Konzert für Soloinstrument geschrieben, Klaviersonaten (?), Streichquartette und -quintette (?) wenn auch eine Handvoll geistlicher Werke keine Messvertonung,... Liszt wäre natürlich in gewissem Masse auch überraschend aber aufgrund mangelnder Vielseitigkeit Glucks würde ich eine Fürsprache Einsteins auch nicht so ganz verstehn.

    „Eine Erkenntnis von heute kann die Tochter eines Irrtums von gestern sein.” (Marie von Ebner-Eschenbach)

  • Gluck ist die Lösung, die ich persönlich überraschend fand; vielleicht habe ich mit meiner Überraschung eine falsche Fährte gelegt.
    Die Diskussion des Ausschlusses Webers und Mendelssohns nimmt je 4-5 Buchseiten ein und ist selbstverständlich keine "Verdammung", sondern versucht durchaus die Bedeutung der Komponisten herauszuarbeiten. Mendelssohn ist für Einstein meinem Eindruck nach auch ein weit "knapperer" Fall als Weber, Liszt oder Berlioz. Zu Beginn des Mendelssohn-Abschnitts schreibt er: " Es versteht sich wohl von selbst, daß wir uns bemühen müssen, ihm die richtige Stellung anzuweisen: die Überschätzung zu vermeiden, die ihm bei Lebzeiten und durch die Generation nach seinem Tode in Deutschland und England zuteil geworden ist, die Unterschätzung, deren Urheber oder Repräsentant Wagner gewesen ist. [...] Man kennt von ihm gerade das Unbedeutendste am besten, die Stücke, die von mittelmäßigen Musikern am meisten nachgeahmt worden sind, weil sie dem bürgerlich-romantischen Geschmack der Zeit am meisten entsprachen." (S.45)


    Später (S.61) "Sind wir ungerecht gegenüber Weber, Mendelssohn, Schumann, Berlioz und Liszt? Jede Absicht, sie zu verkleinern, sie zu 'kritisieren' liegt uns so fern als möglich. Jede Größe im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Bewußtheit, ist 'suspekt' [...] und keiner der unbestritten 'Großen', weder Wagner noch Verdi, weder Chopin noch Brahms, noch irgendein anderer der mehr national begrenzten Repräsentanten [...] hat der Anzweiflung entgehen können."

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • ad Johannes: danke für die Aufklärung des Rätsels!



    Zumindest hier in Österreich zählt Gluck zu den Wiener Klassikern und ist somit mehr oder weniger sakrosankt. Ich war eher überrascht, dass er überhaupt zu den "Wackelkandidaten" zählte. Die Beschränkung auf die Oper schmälert ja auch nicht seine Größe - genauso wenig wie die Verdis oder Wagners, die beide nach allgemeinem Verständnis zu den "Großen" gezählt werden.


    Einsteins Einsatz für Mendelssohn war sicher für die Zeit außergwöhnlich, vor allem, weil er Werke wie den Elias oder Die Erste Walpurgisnacht so propagierte. Damals eher eine Ausnahmefall.

  • Beobachtet man so die Komponisten-Rankings in verschiedensten Klassikforen landet Gluck in den meisten Fällen hinter all den hier genannten Komponisten, somit für mich eine Überraschung dass Einstein ihn unter seiner "2."-Auswahl hervorhebt. Ich möchte mir über seine Opern kein Urteil erlauben da ich ehrlich gesagt noch nie eine von ihm gehört habe, aber als Frage an all die Opernfreunde hier ob nicht doch Wagner und Verdi noch deutlich vor Gluck zu stellen sind (zum. hab ich so den Eindruck von der weltweiten Popularität) Und auch bei den Beiden würde eine Gleichstellung mit Komponisten wie Bach, Mozart, Beethoven,... auf keinen Fall zustehen, allein Vielseitigkeit in den verschiedensten Gattungen sollte immer ein wichtiges Kriterium sein. (ich schätze ja zB Mahlers Sinfonien sehr, aber würde ihn trotzdem nie als absoluten Lieblingskomponisten bezeichnen)
    lg
    Thomas

    „Eine Erkenntnis von heute kann die Tochter eines Irrtums von gestern sein.” (Marie von Ebner-Eschenbach)

  • Auch nach Einstein sind Wagner und Verdi wohl vor Gluck zu stellen. Die (und Brahms) diskutiert er zwar auch noch, aber sie gehörten nicht zu den "Wackelkandidaten" (wie Gluck).
    Tatsächlich ist die Mendelssohn-Begründung musikalisch eher dürftig. Einstein wendet sich entschieden gegen Klischees, nennt die (damals wie heute kaum bekannte) "Erste Walpurgisnacht" "Meisterstück aller Meisterstücke".
    "Man liebt es bei Mendelssohn von 'Glätte der Form' zu reden, aber es ist, in den höchsten Leistungen, Meisterschaft; man liebt, von 'Flachheit der Empfindung' zu reden; aber es ist, in den schönsten Augenblicken, hinreißende Liebenswürdigkeit." Das entscheidende Manko: "Was Mendelssohn fehlt zur wahren Größe, ist der Mut, das Letzte zu sagen; im Erotischen, im Tragischen. Man denke an Mozart, und alles wird klar. Mendelssohn konnte keine 'Bäsle-Briefe' mehr schreiben, was zweifellos nicht beklagenswert ist [...] aber auch keine Arie von der Eindeutigkeit der Register-Arie Leporellos. Indes Wagner an 'Siegfrieds Tod' dachte, Verdi an 'Macbeth', dachte Mendelssohn an die 'Loreley' des schönseligen und patriotischen Wohlredners Emanuel Geibel. Aber ein Musiker wie Brahms war im Recht, wenn er sich einmal (September 1874) geäußert hat: 'Alle meine Werke gäbe ich darum, wenn ich eine Ouvertüre wie die Hebriden von Mendelssohn hätte schreiben können.'" (S. 48 f.)


    Bei Gluck (folgende Zitate S. 49 ff.) sammelt Einstein rhetorisch geschickt erst einmal einige historische und sonstige Kritik. Es sei "seit mehr als hundert Jahren, immer ein Experiment geblieben [...] eine der Opern Glucks auf die Bühne zu bringen, und keines dieser Experimente [habe] eine länger dauernde Wiederbelebung Glucks zuwege gebracht." Eher sei der Ehrgeiz von Sängerinnen und Operndirektoren verantwortlich; die Musik spiele die geringste Rolle. Er zitiert die abschätzigen Urteile des Bach-Biographen Forkel und der Bachianerin (JS und CPE) Prinzessin Amalia von Preußen (Händels berühmte Aussage, dass Gluck nicht mehr Kontrapunkt verstünde als Händels Koch wird nicht hier, aber weiter hinten im Buch gebracht.) Die Einwände der Prinzession ("keine Invention", "elende schlechte Melodie", "keine Expression, es gleicht sich alles") kann Einstein nicht teilen. Mozart sei ein stiller Verehrer Glucks gewesen, habe "als Dramatiker Unendliches von Gluck gelernt [...] und sogar als Melodiker tiefe Anregungen von ihm empfangen. [...] Gluck hat Dinge von einer letzten melodischen Feinheit und Vollkommenheit geschrieben - ein Beispiel der Reigen im 'Tombeau' zu Beginn des Orfeo [das ist wohl der sog. "Reigen seliger Geister"?]."
    Er sei unstrittig weniger reich begabt und weniger gelehrt als viele Zeitgenossen gewesen, habe aber auch gar nicht versucht, Fugen zu komponieren und vielleicht habe, dass er weniger gelernt, ihn davor bewahrt, nur ein zweiter Hasse oder Piccinni zu werden. "Und er wäre so tot wie Hasse und Piccinni. Was ihn zu einem der Großen macht, ist seine gewaltige Persönlichkeit, sein Mut, 'das Letzte zu sagen'. Er hätte den Mut gehabt, Euridice wieder in den Hades zurückzuschicken, Orfeo von den Mänaden zerreißen zu lassen, wenn die Konvention der Zeit und des Wiener Hofes nicht das happy end erzwungen hätten. Er hat den Mut zur Furien-Szene im 'Orfeo' und der 'Iphigénie en Tauride' gehabt. Er hatte die dramatische, tragische Gewalt, die Goethe, dem 'Concilianten', nach seinem eigenen Geständnis fehlte."
    Gluck sei nicht tot, aber auch nicht mehr ganz lebendig, weil er exklusiv für die kurzlebigste Gattung, die Oper, tätig gewesen sei. Aber: "ein sicheres Gefühl sagt uns, daß, sollte Gluck einmal ganz zu einer historischen Größe werden, wie Dufay oder Josquin, er eine Größe ist und bleibt."

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    (Bob Dylan)

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