Vorbemerkung.
Hier kommt am Anfang einiges über Politik und Gesellschaft vor (Teil 1), nichtsdestoweniger ist es ein vielleicht neuer Ansatz, um zu verstehen, warum sich das Regietheater trotz Misserfolges so hartnäckig hält (Teil 2). Ich habe Marthaler schon angesichts seiner Inszenierung der "Sache Makropulos" als Dilettanten bezeichnet. Jetzt weiß ich genau, wie berechtigt das war.
1. In den Nachdenkseiten (http://www.nachdenkseiten.de, 13.11.2012) wird der konservative (!) Essayist der FAZ (!!) Thomas Rietzschel in einem Interview zum universalen Problem des Dilettantismus in Politik und Gesellschaft befragt. Hier muss ich jetzt einiges zitieren, aber die Aussagen sind so treffend, dass sich das lohnt!
"Gemeinhin glaubt man, der Dilettant sei einer, der von dem, was er zu können meint, meist nichts und in jedem Fall zu wenig versteht. Das stimmt aber nicht ganz, denn eines beherrscht der Dilettant ganz hervorragend: die Täuschung. Der Dilettant ist ein begnadeter Blender, ein Meister in der Kunst, sich und anderen etwas vorzumachen (mir fielen sofort Dutzende Namen aus Politik und Kunst ein! Pingel).... Man sollte übrigens den Dilettanten vom Laien unterscheiden. Während der Laie sich etwas aneignet, für das er entflammt ist, genügt dem Dilettanten die Vorspiegelung der Kompetenz. Geht es ihm doch zunächst um die persönliche Präsentation." Er bringt dann Beispiele aus der Politik, etwa drei Bundeskanzler, die hinter dem Machstreben noch eine Vision hatte: Brandt mit der Ostpolitik, Schmidt mit dem Kampf gegen den Terrorismus und Kohl mit der deutschen Einheit.
Rietzschel: "Bei unserer derzeitigen Bundeskanzlerin kann ich hingegen nicht erkennen, dass wir es mit einer überzeugten Demokratin zu tun haben. Im Gegenteil, sie versucht das Parlament auszutricksen, wo es ihre Kreise zu stören droht. Schon wiederholt wurde sie vom Bundesverfassungsgericht zurückgepfiffen. Sie ist eine professionelle Dilettantin, die alles versucht, um an der Macht zu bleiben, wofür auch immer."
Als ehemaliger Politiklehrer muss ich beklagen, dass Merkel keine Ahnung von Wirtschaft hat. Das beweist ihr Beispiel von der schwäbischen Hausfrau, wo sie zeigt, dass sie den Unterschied zwischen privaten und öffentlichen Haushalten nicht versteht (1. Semester Volkswirtschaft). Das ist so, als wenn ein Pysiker Ohm, Watt und Volt verwechselt. Die daraus resultierende Austeritätspolitik hat leider verheerende Auswirkungen, wie man in Spanien und Griechenland sehen kann. Auch Steinbrück kommt bei Rietzschel nicht gut weg. Er ist ja einer der Konstrukteure der Finanzkrise und hat dafür gesorgt, dass die Banken riesige Rettungsschirme ohne Gegenleistung bekamen. Ein perfekter Dilettant, der für eine Stunde Talk so viel Geld bekommt, wie viele nicht mal als Jahreseinkommen haben. Nicht nur in der Politik, sondern auch in der Kultur wimmelt es von "hohlen Idolen" zum Beweis, dass man nichts können muss, um ins TV zu kommen (Jauch, Lanz, Anne Will, Bohlen, Katzenberger Klum, die Geissens...)
Fazit Rietzschel: "Wir leben in einer leistungsmüden Gesellschaft, in der wir einerseits ein enormes individuelles Selbstbewusstsein entwickelt haben, andererseits es aber leid sind, uns vom Zweifel an den eigenenen, den eingebildeten Fähigkeiten die Laune verderben zu lassen. Wir leben längst in einer Epoche des professionellen Dilettantismus. Die Vortäuschung von Kompetenz - vor sich und vor anderen - ist zur eigentlichern Profession geworden."
2. Regietheater
Ich glaube, die Parallelen sind überdeutlich. Insofern ist das Regietheater ebenfalls ein Ausdruck des professionellen Dilettantismus.
So konnten die Regisseure der Gesellschaft einreden, die Regie sei das wichtigste in der Oper, wobei wir doch wissen, dass es die Musik ist.
Ein Beispiel: Marthalers Regie bei der Sache Makropulos und das Bühnenbild von Anna Viebrock sind professioneller Dilettantismus, vor allem, weil sie kein Handwerk mehr benötigen. Meine Lieblingsinszenierung von der Sache Makropulos ist in den 70ern in Düsseldorf von Bohumil Herlischka gemacht worden. Niemals hätte ich sowas gekonnt. Die Salzburger Inszenierung hätte ich wahrscheinlich besser gemacht, schon dadurch, dass ich es niemals gewagt hätte, blöde eigene Texte dahineinzuschmuggeln.
Übrigens: wirkliche Kompetenz zeigen in der Oper so gut wie immer die Musiker, also Dirigent, Musiker und Sänger. Da kann man aber auch nicht schummeln.
Fazit: das Regietheater ist Ausdruck des Zeitgeistes, wir lassen uns dort Dinge gefallen, die wir in Politik, Kunst und Gesellschaft auch gefallen lassen. Alle lassen sich das gefallen? Nein, in einem kleinen, aber feinen Internetforum wird dagegen ein heroischer Kampf geführt!