Was heißt eigentlich „Musik verstehen“?

  • Ich habe schon oft gelesen (auch in diesem Forum), dass der eine oder andere Interpret, ein Werk mehr oder weniger verstanden hat.


    Von Günther Wand habe ich gehört, dass er in jüngeren Jahren das eine oder andere moderne Werk im Konzert auch mal wiederholt hat, wenn er den Eindruck hatte, das Publikum habe das Werk nicht ausreichend „verstanden“.


    Auch als Konzertbesucher in den Pausen bekommt man oft Gespräche mit, ob ein Werk, wenn der Applaus mäßig blieb, vielleicht vom Publikum nicht verstanden wurde.


    Gerne wird diese Diskussion auch in Folge moderner Inszenierungen geführt. Hat der Regisseur das Werk nicht völlig falsch verstanden?


    Man könnte diese Liste an Beispielen deutlich erweitern. Das lass ich jetzt aber mal.


    Stattdessen noch mal meine Frage: Was heißt es eigentlich, ein Werk der Musik zu verstehen?


    Diese Frage beschäftigt mich aktuell sehr – ohne dass ich das Gefühl hätte, einer Antwort wirklich nahe zu sein.

    Hat man von einem Werk mehr verstanden, wenn man es bis zu letzten Noten in Form und Harmonik durchanalysiert hat? Oder ist das nicht einfach ein unbeholfener Versuch Musik „objektiv“ zu beschreiben.


    Hat man ein Werk verstanden, wenn man es historisch eingeordnet hat? Wenn man weiß, welche Vorbilder ein Komponist hatte und welche Rolle das Werk in der weiteren Musikgeschichte spielte? Aber wird dieser Ansatz überhaupt der Tatsache gerecht, dass die Bedeutung eines Musikwerkes jenseits seiner historischen Rolle darin besteht, dass es dem modernen Hörer etwas sagt? Läuft man hier nicht Gefahr, Musikhören auf das reine Vergnügen an der „guten alten Zeit“ zu reduzieren?

    Für mich bleibt tatsächlich diesbezüglich vieles unklar. Sicher ist für mich nur, dass Musikverstehen, da es sich auf Kunst bezieht, nicht als abgeschlossen gelten kann. Kriterien wie „richtig oder falsch“ scheinen mir deshalb in diesem Zusammenhang Fehl am Platz. Wahrscheinlich geht es eher um „mehr oder weniger“.
    Aber was könnten Kriterien des Musikverstehens sein?
    Ich bin auf Antworten gespannt!!!!

    [Anmerkung: Ich habe zunächst versucht zu recherchieren, ob es dieses Thema schon gibt. Habe aber nicht passendes gefunden. Falls ich etwas übersehen habe, bitte ich um Entschuldigung. Dann: Einfach löschen]

  • Das ist eine hochinteressante Frage! - Ich meine, man müsse sich vor allem mit seinen Sinnen einem Werk zuwenden, seine Emotionen, Empfindungen zulassen, etwa in der "Freischütz"-Ouvertüre den Geruch des Böhmerwalds wahrnehmen, in den Wagner-Dramen die seelischen Empfindungen nachzuspüren versuchen, die Schönheit einer Verdi- oder Bellini-Kantilene mit vollen Zügen genießen, denn vieles, ja fast alles, was uns solch ein Werk zu sagen hat, imaginiert ja die Musik.


    Vorteilhaft ist auch, wenn man über die Komponisten/Textdichter und deren Werke soviel wie möglich weiß, denn dies vertieft das Verstehen, besonders bei Werken der Früh- und Hochklassik.

    Arrestati, sei bello! - (Verweile, Augenblick, du bist so schön!)

  • Ja, das ist eine "hochinteressante Frage"! Und weil das so ist, gibt es dazu auch schon eine ganze Menge von interessanten und sich gründlich mit ihr befassenden Beiträgen.


    Ich verweise auf den Thread "Welche Anforderungen stellt kllassische Musik an den Hörer?". Und gespant bin ich, ob in den Beiträgen zu diesem neuen Thread wirklich neue Aspekte auftauchen.

  • Musik verstehen bedeutet für mich mit vollem Herz dabei sein und sich auf etwas einlassen können und die Eindrücke die man während eines Konzertes oder einer Opernaufführung bekommt zu verarbeiten. Und man sollte für viele Sachen offen sein und nicht alles was neu und unbekannt ist gleich schlecht finden. Wenn ich in die Oper gehe nehme meistens Klavierauszüge mit mit deinen ich mich vorher auf die Aufführung vorbereitet habe. Bei Konzerten in die ich gehe, höre ich mir meistens einige Aufnahemen an und das wars dann aber auch.

  • Hallo Andreas,


    Mitglied seit 2007 und erst 65 Beiträge?


    Deine Frage ist allerdings auch für mich von großem Interesse, allerdings zur Beantwortung sehr umfänglich. Es wurde hier im Forum in den verschiedensten Threads und Beiträgen schon viel darüber geschrieben.


    Wenn Du meine Meinung dazu kennen lernen willst, so empfehle ich, die Threads "Fragen und Antworten der Gehirnforschung... und außerdem "Musik, die emotional stark bewegt" bitte zu lesen. Das Lesen ist zwar für Dich zeitaufwändig, erspart mir aber die Zeit, Wiederholungen einzustellen.


    Trotzdem 3 Bemerkungen zu Deinem/r Beitrag/Anfrage:


    1.Wenn ich mir die Mühe mache - wie z. B. jetzt bei "Die Frau ohne Schatten" - die Musik zu analysieren, nein, besser: Den Versuch unternehme, zu verbalisieren, warum ich diese Musik oder Musikstelle vom Komponisten besonders gut gelungen empfinde den Text oder den gedanklichen Inhalt in Musik auszudrücken und welche musikalischen Mittel der Komponist m. E. dafür verwendet; gleichzeitig ist es eine Hilfe dafür, Mitgliedern oder Mitlesern zu verdeutlichen, warum ich diese Musik besonders gut gelungen höre und an was ich das festmache. Da können Interpretationsvergleiche auch hilfreich sein, für mich wird da aber "das Pferd von Schwanz aufgezäumt".
    2. Jede Realisierung und das aufmerksame Hören von Musik und wie sie wirkt, hängt auch, nicht nur, von der Tagesform aller Beteiligten ab.
    3. Ob Musik emotional ankommt, verstanden/erkannt werden kann (diese Reihenfolge ist in der Verarbeitung von Musik im Gehirn fest vorgegeben und willentlich nicht änderbar!), ist ein sich stets ändernder und deshalb nie abgeschlossener und insbesondere sehr individueller Vorgang (mit welcher Meinung ich im Forum wenig Zustimmung erhalten habe).


    Auf Deine Antwort freue ich mich, wenn Du meiner Leseempfehlung nachgekommen bist.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Um mal ein paar Ebenen zu trennen:


    Verstehen im Sinne des Nachvollzugs der Faktur und Textur, also nicht bloß im Fortgang eines reliefartigen Verlaufs (der "Gestalt" mit ihren Spannungsbögen und emotionalen Verdichtungsfeldern). Faktur und Textur führen oft in kleinteilige Strukturen und Bezüge, die das Verlaufsrelief verlassen und die Gestalt gleichsam unterlaufen.


    Verstehen im Sinn einer Handlung, also einer Abbildung (Projektion) des Verlaufsreliefs auf einen Inhalt. Beispiel: die Zuordnung der geteilten Violinen zur ätherischen Gralssphäre im Lohengrin (oder zur ätherischen Seele Violettas in der Traviata).


    Verstehen eines gestischen Impulses, also die gestaltpsychologische Erfassung etwa einer tänzerischen Passage, eines Empordrängens, einer Interruption, eines Innehaltens usw. Die symphonische Grammatik (v.a. Beethovens) ist unabdingbar für das Gestikulieren und den dramatischen Impetus Verdis und Wagners. Schockmomente aus rezitativischen Akzenten stehen melodisch gebundenen Passagen gegenüber. Stockung und Fluß bilden die Gegenpole, wobei die melodische Bogenbildung oft eines symmetrisch rhythmisierten Unterbaues bedarf (z.B. Verdis "Drehorgelweisen" oder die Polonaisen Ännchens im Freischütz bzw. die spanisch-lateinamerikanischen Tanzrhythmen der Carmen).


    Verstehen als Suggestion. Alles Verstehen berührt Evidenzphänomene, nicht bloß reflexives "nachträgliches" Verstehen (Aha-Effekt) oder mühsames philologisches Entziffern. Musik kann suggestiv sein, ohne anschaulich zu werden - z.B. Liszt, Les Préludes. - Der Film macht sich diese Suggestionskraft der Musik zunutze, da wir geneigt sind, die "leere" Suggestion unmittelbar durch gegebene Bildinhalte zu füllen. Musik kann etwa Hochstimmung transportieren, doch ebenso gut beängstigende und quälende Stimmungen evozieren. - Die Gestaltlosigkeit unserer emotionalen, irrationalen Wesensseite ist ein Grund für unseren Regietheaterstreit. Denn das vermeintlich deskriptive Moment der Musik beruht bloß auf der Offenheit und Assoziationsfähigkeit unseres Erlebens. - Man kann z.B. in die Cavatine der Norma, "Casta Diva", viel hineinlegen, was Anmut, Trauer, Berückung betrifft. Dennoch wage ich zu bezweifeln, daß ein einziger Hörer, ohne die Oper zu kennen, die richtige Zeit und das richtige Kostüm "heraushören" könnte. Vielmehr montiert Bellini ja gerade ganz unzusammengehörige Stilebenen (das Römerdrama und den Belcanto), d.h. er verleiht einer historischen Figur eine moderne Expression. - Vielleicht ist es das größere Wunder der Musik, unser Ohr zu öffnen und aufnahmebereit für derlei Widersprüche zu machen, die sofort in der musikalischen Evidenz aufgehoben werden.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Ohne mich auf die philosophischen Gedanken meiner Vorredner einzulassen - dazu fehlt mir die Kenntnis - einige Gedanken von mir.


    Relativ einfach ist es in der Oper. Da gibt es eine Handlung, die durch die Musik und den Taxt intensiviert wird, die Handlung wird musikalisch transparent. Ich beschäftige mich mit Hilfe meiner Opernführer und auch mithilfe des Interent mit der in Frage kommenden Oper. Ich höre Aufnahmen, soweit vorhanden, beschäftige mich z.B. bei Wagner mit den Leitmotiven. Das erleichtert mir das Verständnis des Bühnengeschehens. Wenn in der Walküre erstmals das Schwert im Baum steckend auftaucht und das Schwertmotiv erklingt, dann erkennt man das immer wieder, bis hin zum Trauermarsch und dem Schlußgesang in der Götterdämmerung. Das hift mir, Wagner zu verstehen - aber nicht helfen wird mir eine Umdeutung des Regisseurs. Dann stimmt der Inhalt des Opernführers nicht mehr mit dem Bühnengeschehen überein. Ergebnis bei unbekannten Opern : Verwirrung. Bei bekannten Opern : von Unwillen bis zu Abscheu die ganze Skala.


    Einfacher ist es bei Verdi oder Belcanto-Opern. Die Musik von La donna e mobile versteht jeder.


    Im Konzert muß ich unterscheiden zwischen Programmmusik (wie Strauß, Berlioz, auch die 6. von Beethoven, die 1. von Mahler) und "Klassik" . In der Alpensinfonie kann man genau hören, ob gerade die Sonne aufgeht, ob ein Wasserfall passiert wird, ob sich auf dem Gipfel die Ruhe und die unendliche Weite mit Tälern und Bergen auftut oder ob Gewitter ist. Einem Anfänger in der klassischen Musik kann ich nur empfehlen, mit Programmmusik zu beginnen, das erleichtert das Verständnis ungemein.


    Bei "Wiener Klassik" muß man fast den musikalischen Verstand von Hanslick haben, um zu verstehen, warum dieser Akkord durch einen andren ersetzt wird. Da ich zwar Noten lesen kann, aber nicht die Kenntnisse zum tiefen Verständnis besitze, lasse ich mich oft nur berauschen vom Klang, der auch mal schräg sein kann. Verstehen werde ich z.B. Bruckners 5. nicht, aber mir gefällt die Musik so, daß ich sie live schon sicher 7-8 mal gehört habe. So geht es mir auch mit den Solokonzerten, wo mich das virtuose Können begeistert. Übrigens glaube ich, daß es der Mehrzahl der Konzertbesuchern so geht wie mir.


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Man könnte meinen, bei Musik gäbe es nichts zu verstehen. Musikstücke gehörten, anders als sprachliche Äußerungen nicht zu den Dingen, die eine Bedeutung haben und die man sinnvollerweise verstehen kann. Musik bereitet Vergnügen oder löst Emotionen aus, aber der Genuss von Vanilleeis bereitet ebenfalls Vergnügen und da kann man auch nichts verstehen. Das scheint aber wichtige Unterschiede zwischen Musikgenuss und Dessertgenuss zu unterschlagen.


    Das Auslösen von Emotionen könnte man höchstens vielleicht im Sinne von Farinellis 4. Option oben als eine Art Verstehen charakterisieren, wobei vorausgesetzt würde, dass die Musik tatsächlich die ausgelösten Emotionen ausdrücken sollte. (Wenn Song x traurig stimmt, weil er einen Hörer an eine unglückliche Romanze erinnert, muss es deswegen noch kein trauriges Lied sein.)


    Oder, so verstehe ich die erste Option und das ist ja auch schon vorher angeklungen, man könnte meinen, dass eine technisch-musikalische Analyse Musikverstehen entspricht. Dann würde ein großer Teil des Publikums kaum etwas verstehen. Gut verstehen würden Musik nur analytisch versierte Musiker.
    Da man aber das Anhören eines Musikstücks kaum durch eine detaillierte Analyse ersetzen kann (so wie man einen deutschen durch einem englischen Text ersetzen könnte) und Musik normalerweise nicht zum Analysieren, sondern zum Musizieren und Anhören komponiert wurde, ist nicht sehr plausibel, dass mit Musik verstehen typischerweise eine technische Analyse (oder Wissen über das Musikstück, die historischen Bedingungen usw.) gemeint ist.
    Allerdings halte ich es ungeachtet expliziter technischer Kenntnisse schon für ein Kennzeichen eines gewissen Verständnisses, wenn jemand hörend wichtige Momente des musikalischen Verlaufs mitvollziehen kann, wenn ein Stück für ihn "folgerichtig" klingt, wenn alle Teile ihren Platz im Ganzen in (in einem weiten Sinne) sinnvoller Weise einnnehmen. Jemand muss nicht wissen, was genau "Reprise" bedeutet, aber wenn er in einem typischen Klassischen Sonatensatz über die Reprise hinweghört, ihren Eintritt nicht als markantes Ereignis wahrnimmt, dann fehlt ihm etwas zum Verständnis (was nicht heißt, dass überhaupt nichts verstanden wird).


    An der Idee eines projizierenden Verstehens kann man sich vielleicht bei Opern und "Programmmusik" entlang hangeln bzw. kann man bei "absoluter" Musik eine entsprechende Geschichte erfinden.
    Das Problem ist hier freilich, dass in der Musik bewusst eine Sinnebene ausgedrückt werden kann, die im Text nicht vorkommt oder diesem sogar widerspricht. (Erfundenes Beispiel: Jemand schwört auf der Bühne ewige Treue, aber im Orchester erklingt ein "Lügen-" oder "Verstellungsmotiv" (das irgendwie so eingeführt wurde, dass der kundige Hörer weiß, dass der Schwur unehrlich ist.)


    Deswegen meine ich, dass die aussichtsreichste Option für Musikverstehen in einer Ausarbeitung der von Farinelli an dritter Stelle skizzierten Möglichkeit, bestünde. Das vermutlich zentrale bedeutungstragende (und damit verständnisfähige) Element in der Musik sind klangliche Gesten.
    Die erlauben es nicht nur auszudrücken, wie Zerlina dem Don in dem bekannten Duett nachgibt (teils gegen ihre Worte, teils parallel dazu), sondern ggf. eben auch, dass sich die Person, die Treue schwört, ihrer Sache gar nicht so sicher ist. Nur weil wir mit klanglichen Gesten bestimmte Gehalte verknüpfen, können wir uns eine Geschichte zu einem Musikstück ausdenken oder finden ein Programm mehr oder weniger plausibel umgesetzt.
    Freilich ist das keine "natürliche" Klangsprache, selbst wenn manches nachahmenden Charakter hat (zB die spöttisch "kichernden" Holzbläser in der "Registerarie") ich vermute, dass sich oft Verbindungen zu gestischen Gesten, Tanzbewegungen, sprachlicher Prosodie usw. herstellen lassen, sondern eine, die sich in einem kulturellen Kontext herausgebildet hat. Auch die ausgedrückten oder assoziierten Emotionen sind meist mit solchen Klanggesten verknüpft (aber nicht alle Gesten sind notwendig emotional aufgeladen)


    Gewiss gibt es auch Aspekte des Verstehens, die stärker vom Hintergrundwissen abhängig sind: Symbolik, Anspielungen, Zitate, parodistische Elemente usw.


    Wie gesagt, müssen viele dieser Elemente dem Hörer nicht explizit bewusst sein. Er kann durch Erfahrung Verläufe als folgerichtig wahrnehmen und die Klanggesten und ggf. entsprechende Emotionen angemessen erfassen, ohne dass ihm Details bewusst werden.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Mir fällt dazu erst einmal folgendes ein: Ich war mit einem Freund, den ich dazu überredet hatte, in einem KOnzert (Cesar Franck, Symphonie in D). Es hat ihm gut gefallen, er betonte aber immer wieder, dass er es nicht verstanden habe. Und diese Diskrepanz, Genießen aber nicht verstehen, bekomme ich nicht aufgelöst. Ich gehe eigentlich davon aus, dass wenn es mir gefällt, ich schon einen großen Teil verstanden habe. Und es gibt ja jede Menge Musik, die man öfter hören muss, damit sie gefällt und bei mir ist es sehr häufig so, dass mir gesagt wird, worauf ich achten sollte (Dank ans Forum) und dann ist genug Verständnis da, dass es mir gefallen kann.


    Ich selber stehe andererseits oft vor Programmmusik (die mir gefällt), aber die "Handlung" kriege ich nicht mit - verstehe nichts davon. Das empfinde ich als Mangel und wüsste gern, wie ichdaran arbeiten könnte.


    Grundsätzlich glaube ich, dass das wahre Verständnis von Musik eine sehr diffuse, vage Sache ist, die sich im Unbewussten abspielt und mit dem affektiven Einordnen von Emotionen zu tun hat.


    Selbstverständlich gibt es das "Wissenschaftliche" Verstehen von Musik, also die Methoden der Fuge zu erkennen oder den Sonatensatz analysieren können - Da kann ich aber einfach nicht mitreden.


    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Die von farinelli aufgeworfene und von Johannes vertiefte Idee des gestischen Verstehens finde ich spannend. Sie kommt meiner Erfahrung nahe, dass ich, selbst wenn mir ein Stück völlig fremd ist, den Fluss der Musik strukturiere - nicht in Haupt- und Nebensatz etc.. sondern eher in Sinneinheiten oder Gestalten.
    Damit könnte man dann auch weiter vermuten, dass die Differenziertheit dieser Stukturierung natürlich von der Hörerfahrung des Einzelnen abhängt - schließlich muss das "Lügenmotiv"" erstmal erkannt werden. Gleichzeitig kann aber auch der unerfahrene Hörer angeregt durch die Musik Sinnstrukturen erfahren und ein Verständnis entwickeln. Damit wäre man auch bei meiner Ausgangsideee, dass es beim Musikverstehen nicht um richtig-oder-falsch geht, sondern eher um mehr-oder-weniger. [Ade Referenzaufnahme??]



    Schließlich wird Verstehen in diesem Sinne zu einem aktiven Prozess des Hörers angeregt durch die Musik. Verstehen als Konstruktion von Sinnzusammenhängen.


    So weit so gut. Tatsächlich stellt sich dann aber die Frage, welche Rolle spielt das Gefühl dabei? Hören ohne begleitende Emotionen; das kann es auch nicht sein.

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  • Hallo Andreas,


    kann es kein Wohlfühlen in einer Klangatmosphäre geben?


    Beethoven`s Musik ist für mich Atmosphäre, wie die Luft , die ich atme. Ich brauche mir nicht gezielt vornehmen, was ich von Beethoven höre, sondern geniesse die Entspannung, sobald Beethoven ertönt.


    Muss ich jetzt Beethoven rein analytisch verstehen, muss ich jetzt den schematischen Aufbau eines Sonatensatzes verstehen, um die Musik genießen zu können?


    Das bleibt jedem selber überlassen.


    Die Grundproblematik deiner Fragestellung ist eine ganz andere, nämlich der Umgang mit der Freiheit in der Musik und die damit einhergehende Orientierungslosigkeit.


    Wieviel Freiheit verträgt der Mensch?


    Einige klammern sich an althergebrachte Traditionen, "ich will eine Oper gefälligst so wahrnehmen, wie sie der Komponist gedacht hat".


    Andere sehen in ihr eine Grundlage, eine Interpretation zu liefern, die frei ist von solchen Zwängen. Ein neuer künstlerischer Ausdruck, der in die Zeit passt und ganz einfach die Freiheit feiert.




    Was wäre die Musik ohne Freiheit? Sie ist der elementarste Asdruck von Unbändigkeit und Unabhängigkeit.


    Soll ich ernsthaft Beethoven`s Musik verstehen wollen? Er feiert ja geradezu die Freiheit in seinen Kompositionen, ist Rebell in seiner Kunst.


    Bis heute.

  • Ach machen wir es doch nicht so schwer! Es ist doch ganz einfach, entweder gefällt mir eine Musik oder sie gefällt mir nicht. "Verstehen" ist ein anderes Wort für "gefallen". Wenn ein Nichtklassik-Liebhaber erstmals eine Bruckner-Sinfonie hört, wird er sie wahrscheinlich nicht verstehen und sie sicher als zu "schwer" empfinden. Ich brauche nicht eine musiktheoretische Analyse einer Sinfonie über Exposition, Durchführung, Reprise, Coda, Dominantseptakkord usw. usf. Auf einer bestimmten Grundlage, die sich durch Erfahrung ergibt, versteht man den Aufbau einer Sinfonie oder eines Solokonzertes. Es ist meistens ein Problem, das anfangs benannt wird und das am Ende gelöst wird. Oder auch nicht, dann endet das Ganze tragisch. Ansonsten sollte man sich einfach der Musik ergeben und sie auf sich wirken lassen. Ich kann z.B. bei Beethovens 2. Sinfonie wissen, dass er sie zeitgleich mit dem Heiligenstädter Testament schrieb und versuchen, davon ausgehend diese Musik zu begreifen. Das muss aber nicht sein, auch ohnedem kann mir die Musik einfach gefallen. Dann zur Programmmusik. Bei Beethovens Pastorale oder der Symphonie fantastique von Berlioz ist es sicher von Vorteil, etwas zum Inhalt der Komposition vorher zu wissen. Bei einer Oper sowieso.

    Verkürzt gesagt ist für mich die Antwort auf die Frage: Entweder ich habe eine Antenne für die so genannte E-Musik oder ich habe sie nicht. Wer sie nicht hat, der wird diese Musik nicht verstehen, ich verstehe z.B. Rap und Hip-hop überhaupt nicht.


    Mit freundlichen Grüßen


    :hello:


    Manfred

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

  • "Verstehen" ist ein anderes Wort für "gefallen


    Wenn das ernst gemeint sein sollte, wäre es für mich "der Witz des Tages".


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Trotz des Einwurfes von zweiterbass muß ich timmiju recht geben. So ähnlich habe ich das auch in meinem Beitrag 7 in diesem Thread ausgedrückt. Die Frage der musikalischen Vorbildung spielt beim "Verstehen" oder "Gefallen" eines Musikstückes eine entscheidende Rolle! Wenn jeder Konzertgänger ein Stück verstehen müßte - wie timmiju es ausgedrückt hat - wären die Konzertsäle leer.


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Da hast Du völlig recht, was die Konzertgänger angeht - mein Einwand war, verstehen und gefallen gleich zu setzen.


    Und was die musikalische Vorbildung betrifft:
    Für's rationale Verstehen ist die wichtig.
    Für die Emotion - die weitgehend vom Hörer unbeeinflußbar (und lange vor der Ratio) automatisch abläuft/erfolgt - nur insoweit, als die Vorbildung (und der Kulturkreis) die für das Musikempfinden zuständigen Gehirnareale bereits geprägt hat und ein Leben lang weiter prägt.


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Lieber zweiterbaß, diesmal gehen wir konform! So weit sind wir eigentlich auch sonst nicht auseinander!


    La Roche

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    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Man kann es kompliziert machen, man kann es sich aber auch zu einfach machen...
    Da wir sonst "verstehen" auch nicht im Sinne von "gefallen" verwenden, würde mich doch sehr wundern, wenn das bei Musik so wäre. Es ist doch klar, dass das zwei unterschiedliche Dinge sind.
    Nehmen wir zwei Fälle: Eine Expertin hört ein einfaches Stück, das sie danach sofort nachspielen oder aufschreiben könnte. Der musikalische Verlauf (Harmonie, Rhythmus, Stimmführung usw.) ist für sie völlig transparent. Damit ist aber doch überhaupt nichts darüber gesagt, ob ihr das Stück gefällt oder nicht.
    Und umgekehrt kann es sein, dass ein Laie ohne Hörerfahrung ein Stück einer ihm unbekannten Tonsprache hört, überhaupt nicht durchsteigt, es kaum wiedererkennen würde, aber dennoch an der "unverständlichen Klangwolke" Gefallen findet.
    Diese Beispiele sind ein wenig stilisiert, aber keineswegs unrealistisch. Freilich ist es häufig so, dass in einem Falle wie dem zweiten, bei dem jegliches intuitive Erfassen eines groben Verlaufs oder Wiedererkennung von Motiven noch fehlt, sich oft erst einmal Indifferenz oder Missfallen einstellt. Bekanntlich das häufige Schicksal von neuartiger Musik (wie damals vieles von Beethoven), die selbst kundige
    Hörer tendenziell überforderte.
    Also: "Verstehen" ist nicht dasselbe wie Gefallen und es ist manchmal, aber nicht immer notwendig und nie hinreichend dafür.

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  • timmiju schrieb:

    Zitat

    Ich kann z.B. bei Beethovens 2. Sinfonie wissen, dass er sie zeitgleich mit dem Heiligenstädter Testament schrieb


    Auf Beethoven Digital steht:

    Zitat

    Aufgrund diverser überlieferter Datierungsfehler in der älteren biographischen Beethoven-Literatur wird die 2. Sinfonie in Konzertführern (und demnach immer noch auch in Konzertprogrammen) häufig voller Verwunderung in die Umgebung des "Heiligenstädter Testaments" platziert, von dem sie sich im Charakter grundlegend unterscheidet. Die neuere Skizzenforschung konnte diesen Datierungsirrtum beheben, die Sinfonie entstand nachweislich schon vor Beethovens Sommeraufenthalt in Heiligenstadt, bei dem er in tiefer Depression sein Vermächtnis verfasste. (J.R.)

    Indem man Zusammenhänge konstruiert versteht man keine Musik. Sich bei Beethoven "Krücken" zu erschaffen, um sie zu verstehen, ist etwas Oberflächliches, das Beethoven`s Musik nicht verdient hat.


    Der Genuss einer Situation, einer Aufführung oder von Musik muss man nicht erklären können.


    Warum kann man das nicht einfach als Mysterium stehen lassen? Liegt es an unserer Zeit, alles erklären zu wollen, sich das Gehirn mit überflüssigem Halbwissen vollzustopfen?

  • Der Genuss einer Situation, einer Aufführung oder von Musik muss man nicht erklären können.


    Warum kann man das nicht einfach als Mysterium stehen lassen?


    Hallo Thomas Sternberg,


    die Emotionalität des Musikhörens als Mysterium stehen zu lassen ist Eines (das geschieht sowieso ohne Dein Zutun automatisch), sich rational fragen, warum das so ist und den Versuch zu starten, damit einem anderen Menschen (z. B . hier im Forum) die Möglichheit zu geben, das eigene Musikempfinden nachvollziehbar zu machen (und daraus neue Einsichten zu gewinnen), ist das Andere. Und das hat mit "überfüssigem Halbwissen" rational nichts zu tun und emotional wirst Du eh nicht gefragt.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Warum kann man das nicht einfach als Mysterium stehen lassen? Liegt es an unserer Zeit, alles erklären zu wollen, sich das Gehirn mit überflüssigem Halbwissen vollzustopfen?

    Irgendwie passt dieser wissensfeindliche Ansatz gar nicht zu Beethoven und seiner Zeit, nämlich die Zeit der Aufklärung. Haydn, Mozart und auch Beethoven schrieben ihre Musik nicht nur zum mystischen Nebelschwadensteigenlassen sondern auch explizit für Kenner, Menschen also die "verstunden", was da komponiert worden war. Weshalb Musik so eine Wirkung auf den Menschen hat, ist selbstverständlich ein legitimer Forschungsgegenstand und geht, wie zweiterbass richtig meint, wohl tief ins Neurobiologische. Es gibt deshalb auch seriöse wissenschaftliche Forschung, die sich mit dem Thema befasst. An Inquisitoren, lieber Thomas, besteht hingegen heutzutage kein Bedarf mehr!

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  • Ich denke, ein Musikstück strukturell oder "technisch" nachvollziehen zu können, ist nicht unbedingt das, was Andreas mit "Verstehen" gemeint hat. Die besagte Expertin kann anhand ihres Instrumentariums nämlich nicht erklären, weshalb das Stück anderen gefällt oder weshalb es dem Komponisten so gefiel. Ich denke daher, dass "Musik verstehen" tatsächlich recht nahe an "Gefallen" liegt, ohne allerdings deckungsgleich zu sein. "Verstehen" wäre hier eher das Vorhandensein einer gewissen "Resonanz", ganz ähnlich wie bei der Dichtkunst, die sich ja auch nicht auf Versmaß und Reim reduzieren lässt. Ich denke, dass hier ein emotionaler Rückkoppelungsmechanismus am Werke ist, der einem das Gefühl des "Wiedererkennens", des "Zugehörigen", gibt.

  • Ich denke, ein Musikstück strukturell oder "technisch" nachvollziehen zu können, ist nicht unbedingt das, was Andreas mit "Verstehen" gemeint hat.

    Klar, das wäre nur eine Möglichkeit, von der ich weiter oben ja selbst gesagt habe, dass sie vielleicht nicht den zentralen Aspekt beleuchtet. Sie ist aber die einzige, die wir so gut verstehen, dass sie für ein idealisiertes Beispiel taugte.



    Zitat

    Die besagte Expertin kann anhand ihres Instrumentariums nämlich nicht erklären, weshalb das Stück anderen gefällt oder weshalb es dem Komponisten so gefiel.

    Warum sollte das zum Verstehen unbedingt dazugehören? Wenn man Verstehen und Gefallen trennt, ist doch naheliegend, dass das nicht geht! Abgesehen davon vermute ich, dass es auch einen Zusammenhang zwischen "analytischem Verstehen" und "Verstehen, was anderen daran gefällt" gibt. Ich bin weit davon entfernt, analytisches Verstehen in dem besagten Sinne in Echtzeit usw. zu haben. Dennoch bilde ich mir oft ein, einigermaßen zu verstehen, was anderen Hörern an Stücken gefällt, die mir selbst nicht besonders gefallen (zB Tschaikowskys Violinkonzert).
    Es ist doch ein Unterschied, ob man den Eindruck hat, ein Stück überhaupt nicht zu erfassen oder ob man meint, wichtige Motive, Formteile, dramatischen Verlauf usw. durchaus nachvollziehen zu können, man aber entweder emotional keine Verbindung herstellt oder von anderen Sachen abgestoßen ist usw.
    Ich bin übrigens auch der Ansicht, dass "Gefallen" keineswegs etwas einheitliches ist. Bei mir gibt es neben Missfallen und wohlwollender oder eher ablehnender Gleichgültigkeit ein ganzes Spektrum des Gefallens und nicht nur unterschiedliche Grade von Begeisterung. Da mir "Gefallen" schon viel zu pauschal scheint, will ich ungern das ebenfalls vielschichtige "Verstehen" da auch noch mit reinwerfen.



    Zitat

    "Verstehen" wäre hier eher das Vorhandensein einer gewissen "Resonanz", ganz ähnlich wie bei der Dichtkunst, die sich ja auch nicht auf Versmaß und Reim reduzieren lässt. Ich denke, dass hier ein emotionaler Rückkoppelungsmechanismus am Werke ist, der einem das Gefühl des "Wiedererkennens", des "Zugehörigen", gibt.

    Das ist sicher auch ein wichtiger Aspekt. Dennoch halte ich das Aufrechterhalten der Unterscheidung für sinnvoll. Ich wollte eigentlich auch ein Beispiel mit einem Gedicht bringen, weil wir hier ja die vergleichsweise gut verstandene Dimension sprachlichen Verstehens (und auch das Verstehen von Metaphern usw. ist den meisten wohl einsichtiger als das "Verstehen" von Musik"). Jemand könnte vom Klang einer Homer- oder Dante-Rezitation fasziniert sein, ohne ein Wort griechisch oder italienisch zu verstehen. Dennoch würden wir hier doch ganz klar sagen, dass er die Verse NICHT versteht. Oder wenn er bei einem Gedicht in einer ihm vertrauten Sprache ein Bild oder eine Metapher nicht versteht, würden wir doch, auch wenn er sagt, dass ihm eine Passage gefällt, behaupten, dass ihm ein wichtiger Aspekt entgeht.

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  • Ganz sicher ist, dass es einen Zusammenhang zwischen Verstehen und Gefallen gibt, dieser ist aber kein Intellektueller, Rationaler. Ganz klar ist, dass man für bestimmte Musik Voraussetzungen braucht, die nicht jeder einfach mitbringt, sondern die sozial erlernt werden. Wer normalerweise Dieter Bohlen hört, dem wird beim ersten Mal Strawinsky nicht gefallen. Demnach fehlt dem Rezepienten etwas. Ob das Wort dafür mit Verständnis glücklich gewählt ist, sei dahingestellt. Er muss sich also an das "Gefallenkönnen" heranarbeiten. Es ist aber m.E. kein Wissen, das er sich erarbeiten muss. Vor allem kein theoretisches. (Es mag wohl Musik geben, die sich tatsächlich nur auf das intellektuelle Verstehen reduziert, wo rein emotionales Gefallen einfach nicht vorkommt, - das ist hier aber wohl nicht das Thema, denke ich).
    Da ich den oben beschriebenen Weg erst sehr spät, als reifer Erwachsener einschlug, kann ich mich an so manchen Prozess erinnern. - Was ich nicht kann, ist, diese Prozesse zu benennen. Was da wirklich in meinem Gehirn vorging, dass ich auch "schräge" Werke, wie z.B. eben Strawinsky genießen konnte, ist mir eigentlich völlig schleierhaft. Vor allem, da sich das Gefallen auf einer rein emotionalen Ebene abspielt. Eine Reifung der Genussfähigkeit. Eindeutig ein Lernprozess.


    Worauf will ich hinaus? Es geht mir um das Wort "Verstehen". Ich denke, dass es eine andere Fähikgeit, eine andere Ressource ist, die wir benötigen, um anspruchsvolle Musik genießen zu können.


    So weit erst mal.
    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Ich stelle jetzt mal die These in den Raum, dass Verstehen und Genießen eng miteinander verbunden sind – vielleicht sogar im Sinn der zwei Seiten einer Medaille.


    Dafür muss man zunächst Verstehen von Analysieren unterscheiden. Reine Analyse, wie sie z.B. oft in der Musikwissenschaft betrieben wird, ist für mich eher eine Form der Beschreibung. Wäre es mit der Analyse getan, konnte jeder der die Regeln der Musik beherrscht, große Musik schreiben. Das wage ich aber zu bezweifeln.


    Musik ist mehr und anders als das, was analysiert werden kann. Verstehen von Musik betrifft meines Erachtens genau diesen entscheidenden Anteil der Musik, der nicht durch Analysen erfasst werden kann.


    Im Bezug auf das bisher gesagt könnte man Verstehen als Konstruieren von Sinneinheiten beim Musikhören verstehen. Dabei greift der Hörer auf bisherige Hörerfahrungen zurück. Musik, die aufgrund ihrer Neuartigkeit an keine bekannte Tradition oder Erfahrung anknüpfen kann, ist nicht anschlussfähig. Sie läuft sozusagen im Gehirn ins Leere. Entsprechende Gefühle von Gleichgültigkeit bis zur Ablehnung dürften die Folge sein.


    Musik, die auf Hörerfahrungen im Gehirn trifft, wird stattdessen aufbauend auf dem Bekannten zu Strukturierungsprozessen durch den Hörer führen. Diese dürften mit zunehmend Hörerfahrung oder auch wiederholtem Hören an
    Differenzierung zunehmen – ohne jemals als abgeschlossen gelten zu können. LETZTERES IST MEINES ERACHTENS DER WESENTLICHE ASPEKT LEBENDIGER KUNST!


    So nun zum Genießen und meiner Ausgangshypothese. Diese basiert auf der Erfahrung, dass der Mensch, wenn er auf völlig unbekannte Situationen/Ereignisse stößt und keine Orientierung aufgrund vorheriger Lernerfahrungen hat, eher mit
    Angst, Flucht, Abwehr reagieren dürfte.


    Genießen setzt meiner Meinung nach voraus, dass das Wahrgenommene in irgendeiner Form an Bekanntem anknüpfen kann. An dieser Stelle kommt es zur Überschneidung mit dem Verstehen und der Erfahrung, dass es z.B einiges an Hörerfahrung bedarf bis man z.B. eine Bruckner-Sinfonie als Ganzes genießen kann. Kleine Abschnitte findet man vielleicht schon beim ersten Hören „toll“.


    Ich denken, um die Sache noch etwas auszuweiten, dass der Verstehensprozess bei großer Kunst nicht ohne weiteres abgeschlossen werden kann. Kunst ist an dieser Stelle bedeutungsoffen oder offen für Sinn. Deswegen können wir meines
    Erachtens auch eine große Sinfonie immer wieder hören und genießen. Wir kennen sie zwar, aber sie ermöglicht immer neue Sinnbildungen.
    Meine Idee ist weiter: Sollte dieser Prozess tatsächlich jemals abgeschlossen sein, gibt es nichts mehr zu genießen. Dann hat man es eher mit Langeweile zu tun.


    Und noch ein Wort zum Schluss:
    Letzteres ist meines Erachtens auch der Grund, warum es in der aktuellen Welt der Pop-Musik immer neuen Nachschub bedarf. Einen Song, ohne jeden Anspruch, kann man nur kurze Zeit genießen.

  • Die besagte Expertin kann anhand ihres Instrumentariums nämlich nicht erklären, weshalb das Stück anderen gefällt oder weshalb es dem Komponisten so gefiel.

    Warum sollte das zum Verstehen unbedingt dazugehören? Wenn man Verstehen und Gefallen trennt, ist doch naheliegend, dass das nicht geht! Abgesehen davon vermute ich, dass es auch einen Zusammenhang zwischen "analytischem Verstehen" und "Verstehen, was anderen daran gefällt" gibt. Ich bin weit davon entfernt, analytisches Verstehen in dem besagten Sinne in Echtzeit usw. zu haben. Dennoch bilde ich mir oft ein, einigermaßen zu verstehen, was anderen Hörern an Stücken gefällt, die mir selbst nicht besonders gefallen (zB Tschaikowskys Violinkonzert).
    Es ist doch ein Unterschied, ob man den Eindruck hat, ein Stück überhaupt nicht zu erfassen oder ob man meint, wichtige Motive, Formteile, dramatischen Verlauf usw. durchaus nachvollziehen zu können, man aber entweder emotional keine Verbindung herstellt oder von anderen Sachen abgestoßen ist usw.
    Ich bin übrigens auch der Ansicht, dass "Gefallen" keineswegs etwas einheitliches ist. Bei mir gibt es neben Missfallen und wohlwollender oder eher ablehnender Gleichgültigkeit ein ganzes Spektrum des Gefallens und nicht nur unterschiedliche Grade von Begeisterung. Da mir "Gefallen" schon viel zu pauschal scheint, will ich ungern das ebenfalls vielschichtige "Verstehen" da auch noch mit reinwerfen.

    Vielleicht sollten wir den Ausdruck "verstehen" durch "begreifen" ersetzen. Ersterer kann nämlich einen rein intellektuellen Vorgang
    beschreiben, z.B. deine auf gewissen Erfahrungswerten basierende Erwartungshaltung bezüglich der Wirkung Tschaikowskys Violinkonzert. Das ist im wesentlichen eine "wissenschaftliche" Herangehensweise, eine Intrapolation, in etwa so wie ein Autist aufgrund seiner Erfahrung gewisse menschliche Reaktionen vorhersagen kann, ohne sie nachfühlen zu können. Ich denke aber, dass man ein echtes Kunstwerk so nicht "begreifen" kann, denn das was der Künstler tatsächlich wollte kann man nur nachfühlen (vielleicht fühlt man auch ganz etwas anderes). Ein Beispiel wäre vielleicht Brahms, der über Hanslick sagte "ich glaube er hat mich nie verstanden". Dass Brahms damit nicht die strukturellen Details seiner Werke meinte, ist, denke ich, ziemlich klar. Dieses Nachfühlen ist ungemein komplex und integriert sicherlich sehr viele Aspekte des rezipierenden Individuums, die, wie ich denke, gewissemaßen mit dem Werk "resonieren" müssen. Vieles funktioniert beim Menschen über"Belohnung", auch komplexe, teils intellektuelle, Phänomene.


    Bleiben wir noch einmal bei Tschaikowsky: ein durschnittlicher Russe hört die 6.te von Tschaikowsky. Er weiß, dass Tschaikowsky Russe war, ist daher aus Nationalstolz besonders bereitwillig, das Gehörte hochzuschätzen. Die offene Tragik der Pathetique verbindet sich mit
    seiner Vorstellung der Größe der russischen Nation, was die Wirkung des Gehörten noch deutlich steigert. Daraus folgt eine gewisses Gefühl der Liebe für diese Musik, vielleicht Dankbarkeit, was wiederum den Wunsch aufkommen lässt Tschaikowsky besonders "nah" oder "verwandt" zu sein. Schließlich meint der Hörer, Tschaikowsky verstanden/begriffen zu haben. All das wirst du mittels einer strukturellen Analyse nicht nachvollziehen können.


    Natürlich handelt es sich beim "Begreifen" und "Gefallen" um vielschichtige Phänomene. Aber der Einfachheit sagen wir hier, dass "Gefallen" weder "Ablehnung" noch "Indifferenz" bedeutet, so haben wir schon einige Schattierungen eliminiert. Einigen wir uns hier darauf, dass "Gefallen" emotional fundiert sein muss.



    "Verstehen" wäre hier eher das Vorhandensein einer gewissen "Resonanz", ganz ähnlich wie bei der Dichtkunst, die sich ja auch nicht auf Versmaß und Reim reduzieren lässt. Ich denke, dass hier ein emotionaler Rückkoppelungsmechanismus am Werke ist, der einem das Gefühl des "Wiedererkennens", des "Zugehörigen", gibt.

    Das ist sicher auch ein wichtiger Aspekt. Dennoch halte ich das Aufrechterhalten der Unterscheidung für sinnvoll. Ich wollte eigentlich auch ein Beispiel mit einem Gedicht bringen, weil wir hier ja die vergleichsweise gut verstandene Dimension sprachlichen Verstehens (und auch das Verstehen von Metaphern usw. ist den meisten wohl einsichtiger als das "Verstehen" von Musik"). Jemand könnte vom Klang einer Homer- oder Dante-Rezitation fasziniert sein, ohne ein Wort griechisch oder italienisch zu verstehen. Dennoch würden wir hier doch ganz klar sagen, dass er die Verse NICHT versteht. Oder wenn er bei einem Gedicht in einer ihm vertrauten Sprache ein Bild oder eine Metapher nicht versteht, würden wir doch, auch wenn er sagt, dass ihm eine Passage gefällt, behaupten, dass ihm ein wichtiger Aspekt entgeht.

    Der Danterezipient hört Dante in deinem Beispiel als Musikstück, nicht? Selbstvertsändlich haben Gedichte ja auch musikalische Elemente wie Rhytmus, Klangsprache, etc.. Das Verstehen von Metaphern wiederum geht in die Belohnungsrichtung. Man versteht eine Metapher, was einen freut, was wiederum eine positive Rückkoppelung an das Gehörte bewirkt. Eine "plumpe" Metapher löst daher auch keine Freude sondern ein schales Gefühl aus.

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    (Andreas) Ich stelle jetzt mal die These in den Raum, dass Verstehen und Genießen eng miteinander verbunden sind – vielleicht sogar im Sinn der zwei Seiten einer Medaille.


    Nein. Der Unterschied, um den es geht, ist vermutlich genau der zwischen Verstehen und Genießen. Man kann Musik und Vanille-Eis genießen, aber bei Eiscreme gibt es nichts zu verstehen. Wenn Musik verstehen überhaupt einen Sinn haben sollte, dann muss der nicht zuletzt darin bestehen, was den Unterschied zwischen (bestimmten Formen) ästhetischen Erlebens und Eis Essen ausmacht. Wenn angenehme Gefühle beim Musikhören und beim Eisessen einerlei sind und es nur auf diese ankommt, sind wir fertig. Dann hat "Musik verstehen" schlicht und einfach keinen Sinn.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Nein. Der Unterschied, um den es geht, ist vermutlich genau der zwischen Verstehen und Genießen. Man kann Musik und Vanille-Eis genießen, aber bei Eiscreme gibt es nichts zu verstehen. Wenn Musik verstehen überhaupt einen Sinn haben sollte, dann muss der nicht zuletzt darin bestehen, was den Unterschied zwischen (bestimmten Formen) ästhetischen Erlebens und Eis Essen ausmacht. Wenn angenehme Gefühle beim Musikhören und beim Eisessen einerlei sind und es nur auf diese ankommt, sind wir fertig. Dann hat "Musik verstehen" schlicht und einfach keinen Sinn.

    Nein. Der Unterschied, um den es geht, ist vermutlich genau der zwischen Verstehen und Genießen. Man kann Musik und Vanille-Eis genießen, aber bei Eiscreme gibt es nichts zu verstehen. Wenn Musik verstehen überhaupt einen Sinn haben sollte, dann muss der nicht zuletzt darin bestehen, was den Unterschied zwischen (bestimmten Formen) ästhetischen Erlebens und Eis Essen ausmacht. Wenn angenehme Gefühle beim Musikhören und beim Eisessen einerlei sind und es nur auf diese ankommt, sind wir fertig. Dann hat "Musik verstehen" schlicht und einfach keinen Sinn.

    Entschuldige, aber das ist schlichtweg falsch. Vanillegeschmack ist ein komplexes Gemisch von Aromen, das über unsere Geschmackspapillen rezipiert wird. Es kann einem, wie Musik, gefallen oder nicht. Weshalb eine Kombination von gewissen Aromen geschätzt oder nicht geschätzt wird, ist alles andere als trivial und wohl auch von unzähligen Faktoren, unter anderem kulturellen, abhängig.

  • Nein. Der Unterschied, um den es geht, ist vermutlich genau der zwischen Verstehen und Genießen. Man kann Musik und Vanille-Eis genießen, aber bei Eiscreme gibt es nichts zu verstehen. Wenn Musik verstehen überhaupt einen Sinn haben sollte, dann muss der nicht zuletzt darin bestehen, was den Unterschied zwischen (bestimmten Formen) ästhetischen Erlebens und Eis Essen ausmacht. Wenn angenehme Gefühle beim Musikhören und beim Eisessen einerlei sind und es nur auf diese ankommt, sind wir fertig. Dann hat "Musik verstehen" schlicht und einfach keinen Sinn.

    Vielleicht liegt das Problem aber darin, dass hier fälschlicherweise der gleiche Begriff für zwei völlig unterschiedliche Phänomene verwendet wird. Ich genieße ein Eis definitv in einer anderen Form als Kunst.

  • Man kann Musik und Vanille-Eis genießen, aber bei Eiscreme gibt es nichts zu verstehen.


    Lieber Johannes, liebe Freunde,


    auch der Genuß kann Erkenntnis sein (zumal wenn man vom Baum der Erkenntnis kostet).


    Voller Apfel, Birne und Banane,
    Stachelbeere ... Alles dieses spricht
    Tod und Leben in den Mund ... Ich ahne ...
    Lest es einem Kind vom Angesicht,

    wenn es sie erschmeckt. Dies kommt von weit.
    Wird euch langsam namenlos im Munde?
    Wo sonst Worte waren, fließen Funde,
    aus dem Fruchtfleisch überrascht befreit.

    Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt.
    Diese Süße, die sich erst verdichtet,
    um, im Schmecken leise aufgerichtet,
    klar zu werden, wach und transparent,
    doppeldeutig, sonnig, erdig, hiesig - :

    O Erfahrung, Fühlung, Freude -, riesig!


    (Rilke, Sonette an Orpheus)


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Nein. Der Unterschied, um den es geht, ist vermutlich genau der zwischen Verstehen und Genießen. Man kann Musik und Vanille-Eis genießen, aber bei Eiscreme gibt es nichts zu verstehen. Wenn Musik verstehen überhaupt einen Sinn haben sollte, dann muss der nicht zuletzt darin bestehen, was den Unterschied zwischen (bestimmten Formen) ästhetischen Erlebens und Eis Essen ausmacht. Wenn angenehme Gefühle beim Musikhören und beim Eisessen einerlei sind und es nur auf diese ankommt, sind wir fertig. Dann hat "Musik verstehen" schlicht und einfach keinen Sinn.


    Da möchte ich widersprechen. Bei Vanilleeis mag es stimmen, aber schon bei Oliven kann es deutlich anders sein, auch hier müssen die meisten Menschen erst lernen, dieses Genussmittel zu genießen. Und ich könnte noch viel mehr Beispiele bringen, wenn mir welche einfielen...
    Aber ich persönlich habe bei vielen Genussmitteln erst lernen müssen, den Geschmack zu "verstehen". Schnäpse fand ich eklig, Krustentiere mochte ich nicht, selbst Wirsing kriegte ich als Kind kaum runter. Insofern scheint auch bei kulinarischen Dingen ein Verständnisprozess nötig zu sein. Und der ist vielleicht gar nicht so weit von den Kunstgenüssen entfernt.
    (Ich könnte mir auch vorstellen, dass z.B. ein Inuit ein Vanilleeis nicht so ohne weiteres als Genuss erkennt)


    Tschöl
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

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