Kadenzen: Ort der Kreativität oder nur ein Markt?

  • Aufgefallen ist es mir, als ich letzthin häufiger das Violinkonzert von Beethoven gehört habe. Der Normalfall ist der, dass auf der HÜlle erwähnt ist: "Kadenz Kreisler". Eine Ausnahme war eine Aufnahme von Nigel Kennedy, der spielte nämlich tatsächlich eine eigene. Nun frage ich mich Verschiedenes: 1.) Höre ich nur die Aufnahmen oder Auftritte, wo alte Kadenzen gespielt werden und es gibt in Wirklichkeit jede Menge Künstler, die sich selbst versuchen?
    2.) Wenn 1 mit "nein" beantwortet wird, warum ist das so? Mangelndes Selbstbewusstsein? Kann ich mir kaum vorstellen. Mangelnde Offenheit des Publikums? Das wäre doch schrecklich, meine ich. Oder ist es einfach mittlerweile eine Heilige Institution? Oder ist man sich einig, dass es nicht besser geht?


    Ich denke auch, dass sich die Musikindustrie da gar keinen Gefallen tut, denn wieviele CDs müsste man kaufen, wenn auf ganz vielen ungehörte Kadenzen erklängen?


    So stehe ich da einem Geheimnis gegenüber, dass Ihr jetzt bitteschön lülften sollt!


    Vielen Dank im Voraus
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Lieber Klaus,


    die Kadenz, die du meinst (es gibt noch eine zweite Definition) ist die Konzertkadenz, definiert als solistischer Einschub in einem Virtuosenkonzert, das dem Interpreten die Möglichkeit geben soll, die Themen des Konzerts virtuos zu verarbeiten, musikalische Überraschungseffekte einzuflechten und durch Vorführung technischer Brillanz Können zu beweisen.
    Insofern müsste bei Aufnahmen verschiedener Interpreten eigentlich auch jeweils eine andere, eigene Kadenz zu hören sein. Insofern möchte ich die Kadenz in erster Linie als Ort der Kreativität ansehen. Wenn du dann ein Konzert kennst und eine weitere Aufnahme mit einem anderen Interpreten hörst, mag dir manchmal die Kadenz befremdlich erscheinen. Einige Interpreten aber entscheiden sich dafür, ihr Können auch mit der Kadenz eines früheren Interpreten - soweit diese aufgezeichnet ist - zu beweisen.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Es gibt inzwischen einige CDs, bei denen unterschiedliche Kadenzen für bestimmte Konzerte gespielt wurden, was man dann entsprechend programmieren kann (ich habe allerdings keine solche davon).
    Bei Beethovens Violinkonzert habe ich beinahe den Eindruck, dass heute auf Aufnahmen Bearbeitungen der (überlangen) Kadenz, die Beethoven für die Klavierfassung erstellt hat, beinahe das Übliche geworden sind. Der erste Bearbeiter war Schneiderhan, dessen Fassung ist aber wohl teils wieder überarbeitet worden.
    Ich verfolge kein Violinkonzert besonders intensiv, daher weiß ich nicht, ob es häufiger Musiker mit eigenen Kadenzen gibt. Mir scheint, dass es etwas häufiger bei Klavierkonzerten vorkommt. Allerdings ist nicht jeder gute Instrumentalist auch ein guter Komponist oder Improvisator. Daher halten sich vermutlich viele zu ihrem Vorteil an "Standardkadenzen", entweder des Komponisten selbst oder bedeutender Geiger oder Pianisten.


    Bei Beethoven gibt es eben auch sehr deutlich die Entwicklung hin zur Einbettung der Kadenz, so dass er im 5. KK die Kadenz verbindlich ausgeschrieben hat. Seine Kadenzen für die vorhergehenden Konzerte nehmen dies vorweg, so dass ich gut verstehen kann, wenn viele Pianisten die Kadenz des Komponisten wählen (und das war sicher auch Schneiderhans Motivation für die Geigenbearbeitung der Klavierkadenz für das D-Dur-Konzert). Freilich hat Beethoven im 2. Konzert eine stilistisch eigentlich unpassende Kadenz mehr als 10 Jahre später hinzugefügt, aber dessen ungeachtet ist sie faszinierend und viele Hörer dürften die Beethoven-Kadenz erwarten. Auch Beethovens Kadenzen für Mozarts d-moll-Konzert finden manche nicht passend, obwohl sie vermutlich die am häufigsten gespielten sind. Gould hat, sozusagen Beethovens fragwürdigem Beispiel folgend, für das 1. Konzert eine fremdartige polyphone Kadenz a la Reger komponiert, Schnabel schrieb wohl eine zwölftönige Kadenz für Mozarts c-moll-Konzert (die habe ich aber noch nie gehört). Kremer spielt auf dem Mitschnitt unter Bernstein im Brahms-Konzert ein Violin-Solostück von Reger als Kadenz und es gibt sicher noch weitere Beispiele für ungewöhnliche oder eigene Kadenzen.


    Ich sehe hier auch einen Unterschied zwischen Live-Konzert und Einspielung. Als Einspielung will ich erstmal eine "Standardfassung" haben, da wären für mich zB bei den Beethoven-KK die Kadenzen des Komponisten obligatorisch. Ob bei den Violinkonzerten dann Kreisler oder Joachim oder was auch immer als "Standard" gilt, weiß ich nicht so genau.


    Im Grunde ist die Kadenz im heutigen Betrieb, in dem typischerweise seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten etablierte, dem Publikum meist en detail bekannte, vollständig notierte Musik gespielt wird, ein Fremdkörper. Es ist eine völlig andere Situation verglichen mit Vivaldi oder Paganini, Mozart, Beethoven oder Liszt, als ein Virtuose eigene Werke vortrug, in denen selbstverständlich improvisierte Elemente enthalten waren. (Mozart und Beethoven hatten oft allein aus Zeitgründen bei der Uraufführung vom Solopart auch außerhalb der Kadenz nicht viel notiert.)
    Insofern ist es kein Wunder, wenn viele Interpreten hier ihrer Kreativität nicht vertrauen. Wie angedeutet war die Kadenz schon zu Beethovens Zeiten in mancher Hinsicht ein Relikt. Daher finde ich es ein wenig unfair in einem Musikbetrieb, der typischerweise Interpret und Komponist scharf getrennt hält, solche kreativen Kadenzen einzufordern.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich empfinde die Kadenz -im Gegensatz zu Johannes Roehl (dessen Meinung ich selbstverständlich respektiere) . nicht als "Relikt", sondern als "Farbtupfer" der Interpretation.
    Der Solist ist eingeladen eigenes zum Werk zu sagen, sozusagen in Interaktion mit dem Komponisten zu treten. Jedoch schon zu Mozarts uns Beethovens Zeiten war es doch eher so, daß zahlreiche gute Interpeten eintweder ihrem Einfallsreichtum nicht vertrauten - oder in der Tat keine Einfälle hatten. Das führte zwangsläufig zur komponierten Kadenz, sei es vom Komponisten selbst - oder von einem Kollegen. Ein leichter Stilbruch - wenn beispielweise die Kadenz aus späterer Zeit stammt als das eigentliche Werk galt früher gelegentlich als "chick" - wenngelich derlei vom Komponisten vermutlich nicht beabsichtigt war. So schrieb Wilhelm Kempff eigene Kadenzen zu Beethovens Klavierkonzerten - und war stolz darauf, daß man ihnen anhörte, daß sie später entstanden sind. Diese Diskrepanz wurde vom zeitgenössischen Publikum durchaus als interessant empfunden - heute klingen sie jedoch in den Ohren viele als "museal" (Mich persönlich stöt das nicht - auch das hat seinen Reiz. Ich erinnere mich auchan die vielbejubelten Kadenzenz zu Beethovens Violinkonzert aus der Feder von Alfred Schnittke - welche heute mehr oder wenig gnädig dem Vergessen preisgegeben wurden. Wie dem auch sei - ich bin für verschiedenartige Kadenzen gerne aufgeschlossen und finde es langweilig, wenn immer wieder nur die "Standards" angeboten werden. Wenn der heutige Interpret sich ausserstande fühlt , selbst zu improvisieren oder eine eigene Kadenz zu schreiben - dann halte ich es für einen guten Kompromiss, wenn er die eine odere andere Kadenz eines berühmten Kollegen der Vergangenheit übernimmt.....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Aber spricht es nicht gegen die Aufführenden, wenn sie sich nicht zutrauen, mal wenige Minuten eigene Kreativität dezidiert zu leisten? Ich erwarte doch von einem Solisten, dass er ein Stück mit seiner eigenen Person zum Leben bringt, da müsste es doch auch für eine Kadenz reichen. Und ich als Hörer hätte damit auch die Möglichkeit, genauer zu verstehen, wie derjenige das Stück angeht. Von der Abwechslung, -die ja vom KOmponisten gewollt ist, sonst hätte er ja keine Kadenz vorgesehen- mal ganz abgesehen.
    Und die Kadenz vom ursprünglichen Komponisten: ist das nicht sowieso ein Widerspruch in sich?
    Ich würd mir schon wünschen, dass da noch einmal etwas Bewegung reinkäme.
    TSchö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

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  • Es ist die Frage zu stellen ob sich ein Solist an die Größe eines Komponisten heran wagt - da könnten Welten dazwischen liegen, die dem Konzert für...nicht förderlich sein könnte.


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • ABer stellt der KOmponist dem Solisten nicht tatsächlich genau diese Aufgabe?
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • ABer stellt der KOmponist dem Solisten nicht tatsächlich genau diese Aufgabe?


    So einfach ist das m.E. nicht.
    Deswegen wies ich ja auf die erheblich veränderte Situation hin. Der Interpret ist heute meistens nicht mehr der Komponist und Improvisation spielt kaum eine Rolle mehr. Und schon damals komponierte Mozart, soweit ich erinnere, sogar für seine Schwester und andere ausgezeichnete Interpreten Klavierkadenzen, weil diese anscheinend sich das nicht so recht zutrauten. Angesichts der Tatsache, dass schon damals, als bei Musikern wie Mozart oder Beethoven "freies Fantasieren" zentraler Bestandteil ihrer Konzerte gewesen ist, andere, durchas renommierte Interpreten, solche Hilfestellungen offenbar gerne annahmen, finde ich es etwas unfair, von heutigen Interpreten, da nun Improvisation kaum mehr eine Rolle in der Klassik spielt, zu verlangen, mit Beethoven oder Mozart (oder "nur" Joachim oder Kreisler) zu "konkurrieren".


    Dass es die Tendenz zur kompositorischen Integration der Kadenz und damit der zunehmenden Einschränkung der Freiheit des Interpreten gibt, ist kaum zu bestreiten. Brahms 1. KK hat im Kopfsatz gar keine Kadenz mehr, die meisten Kadenzen der Spätromantik oder des frühen 20. Jhds. sind verbindlich auskomponiert und nicht mehr im Belieben des Interpreten.
    Natürlich kann und sollte man das nicht unbedingt rückwirkend auf Mozart ausdehnen, aber Beethoven ist eben ein Grenzfall, weil er auch schon im 5. KK die Kadenz auskomponiert hat und in den eigenen Kadenzen der anderen Konzerte das schon vorwegnimmt. Mal abgesehen von der sonstigen Qualität zB der Beethovenschen Kadenzen.
    Während Alfred fraglos mit dem "Farbtupfer" recht hat, weil hier die besondere Individualität eines Interpreten herauskommen kann und ein klarer Unterschied zu anderen Lesarten möglich ist, meine ich, dass, etwa im Falle Beethovens, die Konzerte "bessere" Stücke mit den Originalkadenzen sind, selbst wenn sie vielleicht "interessanter" mit neuen Kadenzen eines Interpreten werden.


    Zu den üblichen Violinkadenzen von Kreisler u.a. habe ich keine dezidierte Meinung, die kenne ich zu wenig. Und obwohl Beethovens Kadenz (mit den Pauken) für die Klavierfassung bzw. Schneiderhans Bearbeitung davon auch so eine ist, die in der Art einer zweiten Durchführung kompositorisch relevant für das Stück ist, finde ich die ein wenig "überehrgeizig" und zu lang.

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  • Ich merke, dass ich zunehmend unsicherer werde. Denn was bitte schön ist denn eine vom Komponisten direkt mitkomponierte Kadenz anderes als die sonstigen Soloparts?

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Ich merke, dass ich zunehmend unsicherer werde. Denn was bitte schön ist denn eine vom Komponisten direkt mitkomponierte Kadenz anderes als die sonstigen Soloparts?


    Manchmal ist sie dann tatsächlich kaum mehr etwas anderes. Allerdings hat bei Beethoven *die* Kadenz ja noch einen spezifischen Ort und entsprechende Funktion. Und in den ersten vier KK ist die Komponistenkadenz erstmal nur ein Angebot, eine Option und der Freiraum für den Interpreten eigentlich noch da. Bei Prokofieff ist im 2. KK meines Wissens die "Kadenz" die Durchführung im ersten Satz und das größte und schwierigste Solo des Konzerts. Am Beginn des 20. Jhds. hat die Kadenz eben nicht mehr die alte Funktion.


    Die Situation ist weniger eindeutig bei den von Dir eingangs genannten Violinkadenzen; denn Beethoven, Brahms, Tschaikowsky haben als Nichtgeiger eben keine Violinkadenzen komponiert, aber der Tradition entsprechend Freiraum gelassen. Da muss die Lücke irgendwie sinnvoll ausgefüllt werden. Und wie gesagt, durch die zunehmend stärkere Trennung von Komponist/Interpret (die ist heute noch viel deutlicher als zu Kreislers und Rachmaninoffs Zeiten), kann man nicht von jedem guten Geiger erwarten, dass er ein guter Komponist/Improvisator ist, selbst wenn es nur für zwei Minuten Kadenz ist.

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  • ES gibt ein Problem bei den Kadenzen, welches man aber auch als Chance sehen kann.
    Und zwar haben die Komponisten eines nicht vorhersehen können, nämlich daß ihre Konzerte zweihundert und mehr Jahre überdauern könnten. Wenn ein zeitgenössischer Interpret also eine Kadenz zu einem Stück komponierte - oder aber improvisierte - dann war er mit den ungeschriebenen Regeln der Kadenzgestasltung nicht nur vertraut, sie waren quasi selbstverständlich.
    Späterere Generationen mussten sich diese Regeln erst zu eigen machen . oder sie ingnorieren.
    Eine Kadenz zu einem Stück von 1785, die 1880 komponiert wurde, wird 2012 unter Umständen sehr antiquiert wirken....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Aufgefallen ist es mir, als ich letzthin häufiger das Violinkonzert von Beethoven gehört habe. Der Normalfall ist der, dass auf der HÜlle erwähnt ist: "Kadenz Kreisler". Eine Ausnahme war eine Aufnahme von Nigel Kennedy, der spielte nämlich tatsächlich eine eigene. Nun frage ich mich Verschiedenes: 1.) Höre ich nur die Aufnahmen oder Auftritte, wo alte Kadenzen gespielt werden und es gibt in Wirklichkeit jede Menge Künstler, die sich selbst versuchen?


    Vielen Dank im Voraus
    Klaus

    Bei Beethoven ist die Kreisler-Kadenz die am meisten gespielte Kadenz, was nicht ausschließt, dass Solisten sich auch selbst daran versuchen, meistens sogar recht gelungen. Ich bin oft sogar begeistert, mal etwas anderes, als das Gewohnte zu hören.



    Zitat

    Eine Kadenz zu einem Stück von 1785, die 1880 komponiert wurde, wird 2012 unter Umständen sehr antiquiert wirken....

    Unter Umständen auch nicht. Ich habe einige Aufnahmen, in denen die Solisten, die - auch wenn sie nicht mehr leben, ja wirklich Jahrhunderte später die Konzerte spielten, ganz hervorragende eigende Kadenzen darbieten. Das ist dann wirkich ein gelungener Farbtupfer. Zum Beispiel Clara Haskil in ihren Mozart-Konzerten d-Moll und c-Moll (übrigens ganz hervorragend!), Rudolf Serkin im Mozart-Konzert Es-Dur KV 482, die Kadenz im Konzert KV 503 ist von Robert Casadesus, der über hundert Jahre nach Mozarts Tod geboren wurde und in meiner Aufnahme des Brahms-Violinkonzertes ist die Kadenz vom Solisten Jascha Heifetz. Leider ist die vom Komponisten abweichende Kadenz nicht bei allen CD-Einspielungen explizit vermerkt, so dass man sich beim Hören dann über die ungewohnten Töne wundert, aber für mich ist das künstlerische Freiheit.


    Es liegt im Ermessen der Solisten, wie kreativ sie an das Stück herangehen, ob es ihnen gelingt, die vorliegende Musik in der Kadenz selbst zu verarbeiten, oder ob sie dazu nicht in der Lage sind. Das ist kein Mangel, aber wie gesagt, eigene Kadenzen können sehr gelungen den Duktus des Werkes und was sich der Komponist dabei dachte, unterstreichen. Oder vielleicht auch nicht. Für mich sind eigene Kadenzen jedenfalls Ausdruck der Kreativität des Künstlers, das hat mit Markt nichts zu tun.


    Viele Grüße


    :hello:


    Manfred

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

  • Vieles ist natürlich auch eine Modesache, bzw eine des Zeitgeistes. Manche Künstler wollen keine eigene Kadenz spielen, wenn der Komponist eine eigene hinterlassen hat.
    Sie meinen dann, etwas Großartiges durch etwas Mittelmäßiges ersetzt zu haben.
    Andere Interpreten fühlen sich aufgerufen, Kadenzen, die einst berühmte Vorgänger geschrieben haben, der Nachwelt zu erhalten.
    Die dritte Gruppe ist in zwei Lager geteilt. Das eine komponiert eine eigenen Kadenz und spielt sie dann im Konzert oder für eine Aufnahme.
    Die zweite, kleinere bemüht sich die eigene Kadenz stets während der Aufführung, bzw Aufnahme zu inprovisieren.
    Beide Verfahren haben ihre Vor- und Nachteile.
    Ich persönlich freue mich über jede Kadenz, die ich noch nicht im Archiv habe.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • In meinem engen Horizont kommt es mir so vor, als seien es die jungen, "revolutionären" Künstler, die sich an eigenen Kadenzen versuchen. Ich hatte oben schon Nigel Kennedy genannt, der ja auch frisurmäßig auffällt. Insofern würde ich die Theorie aufstellen: Eigene Kadenzen gelten mittlerweile als ein Akt der Aufsessigkeit.


    Grundsätzlich möchte ich noch einmal betonen, dass ich es schade finde, dass man die Möglichkeit, die aktuellen Möglicheiten, Trends, Strömungen und Techniken nicht in diesem gegebenen Rahmen ausgiebig nutzt und Musik damit immer wieder in die Gegenwart versetzt.


    Ein wenig befürchte ich sogar, dass die Ehrfurcht vor großen Namen den kompletten Musikbetrieb lähmt und überaltern lässt.


    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Ich habe mich in den letzten Tagen eingehender mit dieser Doppel-CD befasst, und auch schon ein wenig drüber geschrieben, wenn mich nicht alles täuscht, ausschließlich über das Clement-Konzert. Jenes von Beethoven war bis gestern abend noch ungehört.


    Liest man die Booklettexte und auch den PR Text bei jpc, - dort wird von "Ausnahmegeigerin" gesprochen - dann ist Rachel Barton Pine - eine der führenden Geigerinnen der USA. Bis hierher hat sich das erstaunlicherweise noch nicht herumgesprochen es gibt bei WIKIPEDIA keinen deutschen Text über diese Interpretin.
    Die beiden Hörsitzungen mit dem Clement-Konzert verliefen erfreulich, und ich hatte den Eindruck, daß sich das volle Potential der Künstlerin vorzugsweise bei den selbst komponierten (oder improvisierten ??) Kadenzen offenbart.


    Eigentlich wollte ich mir Beethovens op. 61 ersparen - da habe ich doch einige angeblich legendäre Aufnahmen mit Spitzenkünstlern der Vergangenheit.
    Dennoch - ich war neugierig:
    Deutsche Hörer mit Fixierung auf übermächtige drohende Pauken werden vermutlich ein wenig enttäuscht sein. Der Klang der Aufnahme ist eher weich und lieblich als analytisch und straff. Vorerst unauffällig, dann aber doch eher auf schönen Klang als auf Strukturen bedacht. Dann aber die Kadenzen: Voll Temperament und Spielfreude (habe ich da einen kleinen "Kratzer" gehört ? - egal !) unakademisch und doch dem Werk verpflichtet kommen die Kadenzen aus den Lautsprechern, kleine Schätze, die recht ausführlich gestaltet sind - und - aus meiner Sicht - die Aufnahme interessant machen - nicht nur Clements wegen....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

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  • Blöde Frage: Wie kann man als Laie eigentlich feststellen, wann die Kadenz beginnt? Oder geht das nur, wenn man die Partitur mitliest?
    (KOstet schon Mut, so eine Frage zu stellen)
    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Hallo Klaus,


    eine Kadenz ist meistens gegen Ende eines Satzes zu finden. Einfach ausgedrückt: Eine Kadenz fängt dann an, wenn das Orchester nicht mehr spielt, sondern der Solist/die Solistin alleine über eine gewisse Zeit improvisiert (oder eher die eingeübte Kadenz wiedergibt). So gut wie immer wird in der Kadenz Melodienmaterial des Satzes verwendet und variiert.


    Zitat

    In der Zeit der Wiener Klassik wurde die Kadenz üblicherweise vom begleitenden Orchester mit einem Quartsextakkord eingeleitet und vom Solisten oft mit einem Triller auf dem Leitton über dem Dominantseptakkord beendet, worauf der Dirigent das Orchester wieder mit der Tonika zur Schlusswendung einsetzen ließ.


    (aus Wikipedia kopiert)


    Dafür braucht man keine Partitur, das hört man mit ein wenig Übung.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Aber es gibt doch auch Soloparts, wo das Orchester schweigt und es ist keine Kadenz, sondern eben ein Solo, oder nicht?


    Danke
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Aber gibt es nicht Konzerte, in denen innerhalb eines Satzes mehrere Kadenzen sind? Das kann doch nicht sein, wenn sie immer am Ende ist, oder? :hello:

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

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  • Aber gibt es nicht Konzerte, in denen innerhalb eines Satzes mehrere Kadenzen sind?


    Zum Beispiel? Mir fällt ad hoc keins ein.


    Natürlich gibt es in vielen Konzerten ein paar Takte, in denen das Soloinstrument ohne Orchester spielt, aber das ist keine Kadenz.
    Kadenz ist salopp ausgedrückt "Sehr her, was ich alles mit dem Instrument machen kann" und das idR am Ende des Satzes.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Bei Carl Fischer Music hat die in Beitrag 15 erwähnte Rachel Barton Pine einen Band mit Kadenzen herausgebracht. Wenn ich hier die Thread Strecke lese, eine mutige und von musikalischer Eigenständigkeit zeugende Haltung dieser Geigerin, die sich wohltuend vom Interpreten-Durchschnitt abhebt.
    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Ich weiß nicht, ob es wichtig ist, wie viel Kadenzen in einem Stück enthalten sind (am Schluss eines Satzes). Für mich war es immer viel wichtiger, ob die Kadenzen des Komponisten gespielt werden, andere wie z.B. die von Joachim, Kreisler, Heifez oder eigene des Violinspielers. Auf dem Cover ist in der Regel vermerkt, von wem die Kadenz ist, die gespielt wird.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Das kann doch nicht sein, wenn sie immer am Ende ist, oder? :hello:


    Hallo Klaus,


    im Prinzip ist das auch missverständlich ausgedrückt, wenn man schreibt: "Die Kadenz ist immer am Ende des Satzes".
    Das hört sich so an, als wenn der Satz generell mit der Kadenz schliesst.


    :!: In der Regel folgt nach der Kadenz noch ein kurzes "knackiges" Finale mit Orchester, nach dem der satz schliesst !


    Zitat

    von Alfred: Ich persönlich freue mich über jede Kadenz, die ich noch nicht im Archiv habe.


    Ja, natürlich ist die Vielfalt in dieswer Richtung interessant. Ich finde es überhaupt keinen Nachteil, wenn die Solokadenz des Komponisten verwendet wird. Auch damit kann der Solist sein Können vorführen und unter Beweis stellen.

    Interessant auch beim Brahms Violinkonzert D-Dur op.77 folgendes:

    Hier findet sehr oft die Kadenz von Joseph Joachim Anwendung.
    *** In einer der grössten Aufnahmen dieses Brahms-VC mit Gidon Kremer/Wiener PH/Leonard Bernstein (DG, 1983, DDD) wird die Kadenz des Komponisten Max Reger mit seinem Preludium d-moll verwendet.
    Gidon Kremer ist ohnehin bekannt ausgefallene Kadenzen zu wählen. Ich finds Klasse !

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • An sich ist es so gedacht, dass eine bestimmte markierte Stelle vom Komponisten ausgespart wird, damit der Interpret seine eigenen Gedanken zu den Themen dieses Konzerts musikalisch äußern kann, durch variieren oder umspielen von Themenbruchstücken, vorzugsweise während des Konzerts improvisiert, sodass jede Aufführung ein wenig anders klingt. Dies erfordert vom Interpreten zusätzlich zu den grundsätzlichen Anforderungen an einen Solisten noch weitere Tugenden, wie Phantasie, Geschmack und Kreativität allgemein. Schon zu Mozarts und Beethovens Zeiten waren Interpreten mit solchen Fähigkeiten eher rar. Daher haben viele Komponisten schon "vorgefertigte" Kadenzen zu Konzerten verfasst, zu eigenen, sowie zu solchen von Kollegen, die dann bei der Aufführung nur "eingefügt" werden mussten. Es gibt eher kurze und einfache Kadenzen, aber auch solche, die durchaus einige Minuten dauern. Die Kadenz sollte sich ins Stück einfügen - und es nicht "erschlagen" aber nicht jeder Komponist/Interpret hält sich an solche Vorgaben. Wenn ein Interpret eine von ihm geschaffene Kadenz niederschreibt, dann wandert sie vielleicht dereinst auch in den Pool vorhandener Kadenzen. Irgendwann kam dann zu allen bekannten Problemen ein weiteres hinzu: Skrupulöse Interpreten von heute zögern, eine eigene Kadenz zu spielen, weil sie meinen, der historische Kern des Stückes werde verdorben, wenn eine von Mozart geschriebene Kadenz durch eine eigenen ersetzt werde. Dieses Problem ist erst seit der Erfindung der Tonaufnahme evident, im 19 Jahrhundert kümmerte man sich nicht um solche Feinheiten. Die Verwendung eigener Kadenzen war gegen Ende des 20. Jahrhunderts irgendwie aus der Mode gekommen - allmählich entsinnen sich einige Interpreten wieder dieser Kunst. Auch hier ist wiederum die Tonaufzeichnung das treibende Element, kann man doch durch eine gekonnte Kadenz die Aufmerksamkeit des geschätzten Publikums auf sich ziehen und auf diese Weise punkten....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

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  • Johannes Roehl hat in Beitrag 3 erwähnt, dass es CDs mit verschiedenen Kadenzen gibt. Das ist, wie ich finde, ein originelles Konzept: Der Hörer kann wählen, welche Kadenz er hören möchte. In dieser Aufnahme stehen sechs Varianten zur Verfügung.


    Aus der Produktinformation:
    "Der Pianist Michael Rische hat mit dem Deutschen Symphonie-Orchester unter der Leitung von Marcus Bosch Beethovens Klavierkonzert No. 3 eingespielt. Es handelt sich jedoch um keine gewöhnliche Einspielung, denn Michael Rische gibt dem Hörer Raum zur Mitgestaltung. Über die Programmtaste jedes CD-Players kann der Hörer sechs verschiedene Versionen der großen Kadenz im 1. Satz auswählen: neben Beethoven sind die Kadenz-Versionen von Moscheles/Brahms, Alkan, Schulhoff, Ullmann und Rische eingespielt. Michael Rische spielt hier auf dem größten Flügel der Welt, einem Fazioli F308."
    .

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  • Zitat

    Michael Rische spielt hier auf dem größten Flügel der Welt, einem Fazioli F308."

    Aber leider ist die Aufnahme bereits gestrichen. Hier passt in der Tat der Threadtitel: "..oder nur ein Markt".
    Eine an sich nicht vom Standpunkt der Vermarktung konkurrenfähige Aufnahme wird durch das "Multikadenzzuckerl" aufgewertet.



    Zitat

    Blöde Frage: Wie kann man als Laie eigentlich feststellen, wann die Kadenz beginnt?

    In der Praxis wird der interessierte Laie (oderKlassikeinsteiger) erstmals bewusst mit einer Kadenz konfrontiert wenn er eine Aufnahme hört, die eine andere Kadenz enthält, als jene die er von seiner einzigen im Besitz befindlichen (und daher ofmals gehörten) Aufnahme des Werkes her kennt - und plötzlich denkt: "hoppla - der spielt ja was ganz anderes !!" :baeh01:
    nach 2-3 Minuten (in Extremfällen auch deutlich mehr) ist dann die Welt wieder in Ordnung...


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Kaum ein halbes Jahr vergangen, schon habe ich eine Antwort auf meine Frage ;) (Ncihts für ungut, freue mich einfach über die Antwort). Allerdings habe ich den Threadtitel damals anders gemeint, nämlich so, dass es ein Markt ist, auf dem sich der Künstler bedienen kann, Kadenzen einholen halt.
    Aber das mit der CD mit Herrn Rische finde ich eine wirklich hochinteressante Sache.
    So was sollte es öfter geben.


    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Michael Rische hat 2009 auch eine CD mit dem Mozart Klavierkonzert Nr. 20 d-Moll KV 466 eingespielt, die Kadenzen von Rische, Busoni, Brahms, Beethoven, Hummel, Clara Schumann und Franz Xaver Mozart zur Auswahl bereit hält. (WDR SO Köln, Howard Griffiths)


    Lieber Alfred Schmidt
    Ich betrachte es als legitim, den Klassik-Konsumenten mit zusätzlichen Kadenzen eines sehr bekannten Konzertes zum Kauf zu bewegen. Andere Pianisten hatten diesen Gedanken vielleicht noch nicht. Ich überblicke das Angebot des Marktes in seiner Gesamtheit nicht. Produktionsfirmen wollen Gewinne erzielen und Interpreten Geld verdienen und im Gespräch sein. Für den Klassik-Liebhaber werden Kadenzen zugänglich gemacht und man kann prüfen, wie andere Komponisten mit der Kadenz, dieser kleinen Insel der Improvisation, umgegangen sind.
    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928