Othmar Schoeck und seine Lieder

  • Der Schweizer Othmar Schoeck (1886-1957) gehört in die Reihe der bedeutenden Liedkomponisten. Fühlt man sich den großen, historisch gewichtigen Repräsentanten der Liedkomposition gegenüber verpflichtet, dann sieht man sich förmlich dazu gedrängt, Schoeck einen eigenen Thread im Tamino-Liedforum zu widmen. Bedenkt man aber, dass dieses Unterfangen – nach den Erfahrungen, die man mit ähnlichen Thread-Themen abseits des Mainstreams bislang gemacht hat – mit einiger Wahrscheinlichkeit zu einem weitgehend solistischen Unterfangen werden könnte, dann scheint eher ein Abstandnehmen geboten zu sein.


    Es sei dennoch gewagt. Schoecks Lieder sind einfach zu bedeutsam, haben uns musikalisch zu viel zu sagen, als dass man sie hier aus Gründen der subjektiven Befindlichkeit, der Angst vor dem Mangel an diskursiver Resonanz, nicht in Form von Einzelbetrachtungen würdigen sollte.


    Mehr als vierhundert Lieder hat Schoeck hinterlassen, Klavierlieder, aber auch Lieder für Kammerensemble und Orchester. Viele davon sind in Zyklen zusammengefasst, so etwa „Unter Sternen“ (op.54, Auf Gedichte von Gottfried Keller), „Das stille Leuchten“ (op.60, auf Gedichte von C.F.Meyer), „Das holde Bescheiden“ (op.62, auf Gedichte von Eduard Mörike). Hinzuweisen ist auch auf den Zyklus „Notturno“ op.47 (Fünf Sätze für Streichquartett und eine Singstimme) und „Lebendig begraben“ op.40 (14 Gesänge auf Gedichte von Gottfried Keller für Singstimme und Orchester).


    Othmar Schoeck orientiert sich in seiner kompositorischen Grundhaltung am neunzehnten Jahrhundert und nimmt nur zögerlich die Tendenzen zur Auflösung der Tonalität und Befreiung vom durchgehaltenen Metrum, wie sie sich zu seinen Lebzeiten allenthalben entwickelten, in seine Werke auf. Zwar war er in den Jahren 1907 bis 1908 Schüler von Max Reger, aber wenn man sich seine Lieder in ihrer spezifischen kompositorischen Faktur unter diesem Aspekt betrachtet, so lässt sich kein größerer Gegensatz zwischen der Liedkomposition Regers und der seinigen denken: Auf der einen Seite – der Regers nämlich – ein orchestrales Denken, bei dem die melodische Linie der Singstimme vom Klaviersatz förmlich überflutet wird; auf der anderen – bei Schoeck – eine zuweilen regelrecht verblüffende melodische und harmonische Kargheit der musikalischen Faktur.


    Wenn man das Wesen und die spezifische Eigenart der Liedkomposition Schoecks auf eine Art formelhaften Nenner bringen möchte, so könnte man sagen:
    Seine Lieder sind eine Art Synthese von Franz Schubert und Hugo Wolf. Und dies aus einem einfachen Grund: Für ihn gilt – wie auch für seine beiden großen Vorbilder – der Primat des lyrischen Textes. Aber während Wolf die Inspiration durch das lyrische Gedicht primär in den Klaviersatz einfließen lässt, ist es das Bestreben Schoecks, das Melos der lyrischen Sprache unmittelbar mit der Melodie einzufangen und damit gleichsam musikalisch zu potenzieren.


    Man könnte es auch so formulieren und sagen:
    In einer Zeit, in der die Musikalisierung des Kunstliedes ihren Höhe- und Endpunkt erreicht hat, unternimmt Schoeck den – im Grunde zeitfremden und deshalb für viele ein wenig wunderlichen – Versuch, das Kunstlied auf seine Urzelle zurückzuführen: Das musikalische Potential der Melodie. Es war nicht nur ein „Versuch“. Es sind hochinteressante und faszinierende Lieder aus diesem kompositorischen Konzept hervorgegangen.


    Den Versuch eines einigermaßen repräsentativen deskriptiven und analytischen Erfassens des Liedwerkes von Othmar Schoeck werde ich – in bewusster Distanzierung vom Thread- Konzept im Falle von Franz Liszt, Fanny Hensel und Felix Mendelssohn – dieses Mal nicht in Angriff nehmen.


    Es sollen nur so viele Lieder besprochen werden, dass sich ein einigermaßen angemessenes Bild von Schoecks Liedschaffen einstellt. Dies freilich in der ganz großen Hoffnung, dass es eine Resonanz geben möge, - welcher Art auch immer sie sei.

  • Ungünstig für ein gründliches Sich-Einlassen auf das Liedschaffen von Othmar Schoeck ist die Lage auf dem CD-Markt. Soweit ich feststellen konnte (aber ich bin diesbezüglich nicht wirklich kompetent ), sind zur Zeit nur wenige CDs mit Liedaufnahmen im Handel:



    Schoeck-Lieder
    Fischer-Dieskau / Margrit Weber / Karl Engel
    DG Fischer-Dieskau Edition


    Othmar Schoeck. Mit einem gemalten Band.
    Gunnel Sköld / Jan Bülow. Gallo


    Das Holde Bescheiden
    Fischer-Dieskau, M. Shirai / H. Höll
    Claves


    Unter Sternen
    Fischer-Dieskau / H. Höll. Claves


    Sieben Lieder finden sich in „Romantic Swiss Song“
    Guild

    Alles andere ist nur noch über sog. „Anbieter“ zu bekommen:



    Das stille Leuchten
    Fischer-Dieskau / H. Höll
    Claves

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    Lebendig Begraben
    Fischer-Dieskau / RSO Berlin / Fritz Rieger
    Claves

    - Bei der „Jecklin Edition“ erschien eine „Complete Edition“ der Lieder Schoecks. Darin wirkten solch bedeutende Interpreten wie Christine Schäfer, Juliane Banse, Dietrich Henschel und Wolfgang Rieger mit.


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    Jecklin Edition

  • Lieber Helmut,
    erst einmal Dank für den lohnenden Thread...lass dich nicht davon hindern, dass er vielleicht weniger Resonanz bekommt als andere (ging mir auch schon so), er ist wertvoll, egal wie viele Leute daran schreiben.


    Othmar Schoeck ist mir vor allem durch seine zwei Opern und einige Instrumentalwerke bekannt. Was sein Liedschaffen angeht, kenne ich bisher nur recht wenig seines umfangreichen Werkes.
    Und du hast eindeutig recht, dass der Tonträgermarkt es einem da auch nicht eben leicht macht (was auch für andere Schoeck-Werke gilt). Aus diesem Grund habe ich viele Werke, u.a. die paar Lieder, die ich kenne, hauptsächlich im Internet augetrieben, vor allem auf youtube.
    Allen voran hat mich begeistert "Lebendig begraben", gesungen von Fischer-Dieskau



    Schon die Einleitung finde ich ganz groß...und überhaupt die ganze Stimmung, die dieser Zyklus ausstrahlt.


    Ähnlich in Stimmung (ist auch der gleiche Dichter) "Gaselen"



    Für mich in ganz anderer Richtung (also musikalisch gesehen) seine Vertonungen von Eichendorff-Liedern (gehe ich durch deinen Avatar recht in der Annahme, dass du diesen Herrn sehr schätzt?)



    Noch reichlich romantischer (nicht nur wegen des Textes), daran wird auch gut die Entwicklung Schoecks sichtbar. Die Eichendorff-Lieder sind von 1905, dagegen "Gaselen" von 1923 und "Lebendig begraben" von 1927...dazwischen liegt immerhin ein Weltkrieg.


    Ich persönlich neige eher zu seiner späten Phase, auch in den anderen Gattungen, aber das ist hier erstmla zweitrangig.

    "Die Glücklichen sind neugierig."
    (Friedrich Nietzsche)

  • Ei, liebe SchallundWahn,


    da bin ich aber nun wirklich auf angenehme Weise verblüfft und hoch erfreut zugleich, - über diese Deine schnelle Reaktion ( und das, was darinsteht) auf meine Threaderöffnung. Freuen tue ich mich auch über die Cover-Bildchen, die ich nach wie vor computermäßig nicht hinbringe (alter Trottel, der ich bin).
    Danke, dass Du mich darin bestärkst, dass dieser Thread in und an sich sinnvoll ist.


    Die Lieder von Othmar Schoeck sind wenig bekannt. Dafür kann man Erklärungen finden und geben, gleichwohl bleibt aber für denjenigen, der sie kennt und sich mit ihnen beschäftigt, ein gewisses Unbehagen: Er findet diesen Sachverhalt unbefriedigend, - eben weil es sich beim Liedschaffen Schoecks nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ um etwas kunstliedgeschichtlich Bedeutsames handelt.


    Mal abgesehen davon, dass viele dieser Lieder melodisch ganz einfach schön und klanglich überaus eingängig sind.
    Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, sie den Lesern meiner Beiträge näher zu bringen. Es ist das alte Problem: Wie beschreibt man mit sprachlichen Mitteln musikalische Schönheit?


    Seitdem ich in diesem Forum zugange bin, habe ich das - bedrückende - Gefühl:
    Das ist das allergrößte Problem für einen mit Sprache hantierenden und sie in Worte zu fassen versuchenden Menschen auf dieser Welt.

  • Es erscheint mir sinnvoll, bevor auf einzelne Lieder Schoecks eingegangen wird, diesen selbst hinsichtlich seines Verständnisses von Liedkomposition zu Wort kommen zu lassen. Man hat dann die Möglichkeit, Verweise auf typische Merkmale des Schoeck-Liedes, wie sie im konkreten Fall später anfallen können, gleichsam auf einen kompositorisch-konzeptionellen Nenner zu bringen.


    Schoeck formuliert sei Verständnis von Liedkomposition so:
    Melodie und Harmonie entstehen bei mir immer gleichzeitig, sie bedingen einander wechselseitig. Es scheint mir unerläßlich, daß schon der erste Takt oder die erste Taktgruppe gleichsam die >Urzelle< des Liedes bilden, daß darin die eigentliche Essenz enthalten sei – was mehr ist als bloße Andeutung des Grundcharakters und der seelischen Stimmung. Die melodischen, harmonischen, rhythmischen und klanglichen Gestaltungselemente müssen sogleich eindeutig festgelegt werden – nicht anders, als es bei einem Symphoniesatz … der Fall ist. Alles musikalische Geschehen ist die Folge der im eröffnenden Kernmotiv enthaltenen musikalischen Kräfte. So wichtig das freie Ausschwingen des vokalen Melos ist, ebenso wichtig scheint es mir zu sein, daß der instrumentale Part auf Grund des Zusammenwirkens all der vorhin genannten Elemente zu einem in sich geschlossenen musikalischen Gebilde geformt werde.“

    Dieses Ausgehen von einer „Urzelle“, in der die „Essenz“ des Liedes gleichsam wie ein melodisch-harmonischer Keim vorhanden ist, beinhaltet wohl das Wesen von Schoecks liedkompositorischem Ansatz.


    Ich stelle mir das so vor:
    Diese „Urzelle“ bildet sich in der Begegnung mit dem lyrischen Text. Die jeweils spezifische Eigenart der lyrischen Sprache und das evokative Potential der lyrischen Bilder wecken im Komponisten eine Grundvorstellung von der Struktur der melodischen Linie und ihrer Rhythmisierung und Harmonisierung.
    Im Akt der Komposition wird das dann unter Bezugnahme auf den lyrischen Text Vers für Vers im einzelnen ausgearbeitet.

  • Dieses Ausgehen von einer „Urzelle“, in der die „Essenz“ des Liedes gleichsam wie ein melodisch-harmonischer Keim vorhanden ist, beinhaltet wohl das Wesen von Schoecks liedkompositorischem Ansatz.


    Wo ich jetzt Schoecks eigene Auffasung und dein Kommentar dazu gelesen habe, macht vieles mehr Sinn, zumindest in Bezug auf die Schoeck-Lieder, die ich kenne. So gesehen ist meist von Anfang an klar wie sozusagen die Reise weitergeht, also musikalisch. In den ersten Takten liegt schon der absolute Grundstein für alles, was folgt und selbst die Stimmung ist alsgleich vorgegeben. In dem Sinne ändert sich das auch nicht viel, was jetzt nicht heißen soll, alles klinge gleich oder langweilig. Theoretisch sind seine Lieder wohl aufgebaut wie Zwiebeln.

    "Die Glücklichen sind neugierig."
    (Friedrich Nietzsche)

  • Zit.: "In den ersten Takten liegt schon der absolute Grundstein für alles, was folgt und selbst die Stimmung ist alsgleich vorgegeben."


    Es müssen nicht die ersten Takte sein. Die "Urzelle" ist bei Schoecks Liedern in der Regel eine bestimmte Bewegung der melodischen Linie, eine melodische Figur also, die das Lied insofern prägt, als sie häufig wiederkehrt oder die übrigen Bewegungen der Vokallinie beeinflusst. Bei folgenden Lied ("Dämmrung senkte sich von oben") erklingt sie allerdings gleich am Anfang: Es ist eine melodische Bewegung, die in eigentümlicher Weise auf einer Tonebene verharrt und nur um eine Sekunde nach unten davon abweicht. Das zentrale lyrische Bild hat sie gleichsam musikalisch evoziert.

  • Diesem Lied liegt ein Gedicht von Goethe zugrunde. Die Tonart ist Des-Dur, es steht im Dreivierteltakt , und die Vortragsanweisung lautet: „Fließend, nicht zu schnell“. Und in der Tat: Der unmittelbar sich einstellende klangliche Eindruck ist der eines ruhigen, leicht elegisch eingefärbten Hinfließens der melodischen Linie.


    Dämmrung senkte sich von oben,
    Schon ist alle Nähe fern,
    Doch zuerst emporgehoben
    Holden Lichts der Abendstern.


    Alles schwankt ins Ungewisse.
    Nebel schleichen in die Höh;
    Schwarzvertiefte Finsternisse
    Widerspiegelnd ruht der See.


    Nur am östlichen Bereiche
    Ahn´ ich Mondenglanz und Glut,
    Schlanker Weiden Haargezweige
    Scherzen auf der nächsten Flut.


    Durch bewegter Schatten Spiele
    Zittert Lunas Zauberschein,
    Und durchs Auge schleicht die Kühle
    Sänftigend ins Herz hinein.


    Das viertaktige Klaviervorspiel aus synchron laufenden Achteln in Bass und Diskant versteht sich wirklich als ein solches. Heißt: Es wirkt, weil es am Ende in einen über den ganzen Takt gehaltenen Akkord mündet, autonom, in sich abgeschlossen und dem Einsatz der Singstimme vorgeschaltet. Gleichwohl setzt es einen für diese klanglich wegweisenden Akzent.


    Die melodische Linie, die auf dem ersten Verspaar der ersten Strophe liegt, prägt klanglich das ganze Lied. Dies deshalb, weil sie in dieser Grundstruktur immer wiederkehrt. Die erste, die zweite und die vierte Strophe wirken wie von ihr klanglich beherrscht. Die dritte Strophe ist in ihrer Faktur davon deutlich abgesetzt, der spezifischen Aussage der lyrischen Bilder entsprechend. Dennoch weist sie einen Bezug zu den anderen Strophen auf, insofern hier die melodische Linie mitsamt dem zugehörigen Klaviersatz wie ein bewusst gesetzter musikalischer Kontrapunkt wirkt.


    Die Melodiezeile, die auf dem ersten Verpaar liegt, lässt in ihrer spezifischen Struktur erkennen, dass es eben dieses lyrische Bild der sich senkenden Dämmerung ist, das den Komponisten musikalisch inspiriert haben muss. Bei den Worten „Dämmrung senkte sich von oben“ verharrt die Vokallinie auf einer tonalen Ebene und macht von dort aus nur zweimal einen Sekundschritt nach unten, der allerdings mit einer neuen Harmonisierung in Moll verbunden ist. Das wirkt klanglich wie ein langsames Eingebettet-Werden der Welt ins Dämmerlicht des Abends, - zumal dieser melodischen Linie durch den Wechsel und halber und Viertelnote ein leicht wiegender Rhythmus innewohnt.


    Es gibt auch Ausgriffe nach oben in der ansonsten tonal sehr flach gehaltenen Vokallinie der ersten Strophe. Sie sind deutlich als kompositorisches Reagieren auf die Aussage des lyrischen Textes auszumachen. So wird etwa das Wort „alle“ durch einen Terzsprung klanglich hervorgehoben, und auch das Wort „holden“ bekommt durch eine Sextsprung besonderes klangliches Gewicht.


    Die dritte Strophe unterscheidet sich in der Faktur deutlich von den anderen. Nicht nur dass die melodische Linie bewegter wirkt und große Intervalle aufweist. Sie ist in einer anderen Tonart harmonisiert, und die Klavierbegleitung besteht jetzt beim ersten Verspaar aus über den ganzen Takt gehaltenen Akkorden. Erst bei den beiden anderen Versen der Strophe treten dann wieder die Achtelfiguren auf, die man von der Einleitung und dem Zwischenspiel vor der dritten Strophe kennt.


    Etwas Zögerliches ist hier in der Bewegung der Vokallinie, und so lautet auch die Vortragsanweisung des Komponisten. Mit Beginn des dritten Verses („Schlanker Weiden Haargezweige“) kommt jedoch wieder Leben in die Bewegung der Vokallinie, und sie nimmt sogar einen leicht lieblichen Ton an.


    Großartig ist Schoeck der Schluss des Liedes gelungen. Bei dem Vers „Und durchs Auge schleicht die Kühle“ bewegt sich die melodische Linie in zwei Anläufen über große Intervalle aus hoher Lage nach unten. Bei dem Wort „sänftigend“ macht sie einen Septfall, der in eine lange Dehnung mündet. Nach einer Pause werden die Worte „ins Herz hinein“ silbengetreu auf einer fallenden melodischen Linie deklamiert. Sie endet auf dem tiefsten Ton des ganzen Liedes und wird dort über vier Takte gehalten.

  • Ich werde zu diesem Thread kaum schreiben können - aber ich möchte an dieser Stelle kund tun, daß er mich auf die Lieder eines Komponisten aufmerksam gemacht hat, wo ich ansonsten weggeschaut, bzw weggehört hätte - Zeitgenössische Lieder? Nein danke.


    Aber als ich die ersten Töne eines Liedes von Schoeck gehört hate, revidierte ich für diesen speziellen Fall mein Urteil - und in den nächsten Wochen wird diese bei mir vorhandene Repertoirelücke in meiner Sammlung - zögerlich - aber doch - geschlossen werden.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zeitgenössische Lieder? Nein danke.


    Wie kommst du auf "zeitgenössische Lieder"? Schoecks Liederwerk entstand fast vollständig vor den Vier letzte Lieder von Strauss!


    Der Fehler ist der Hitze geschuldet - und ein wenig meiner Vorstellung, alles was im 20. Jahrhundert geschrieben wurde, sei "zeitgenössisch" - Der Fehler und seine Korrekturen werden in den nächsten Stunden entfernt um den Fluß des Threads nicht zu stören. MOD 001 Alfred

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


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  • Zit. Theophilus: "Wie kommst du auf "zeitgenössische Lieder"? Schoecks Liederwerk entstand fast vollständig vor den Vier letzte Lieder von Strauss!"


    Das letzte bedeutende Werk Schoecks für Singstimme und Klavier, der Zyklus "Das holde Bescheiden" (op.62) auf Gedichte von Mörike, entstand in den Jahren 1947-50. Ich vermute, dass Alfred Schmidt mit "zeitgenössisch" die Tatsache meint, dass Schoecks Lieder dem zwanzigsten Jahrhundert angehören.


    Er war aber - und das nicht nur als Lied-Komponist - auf eine eigentümliche Weise "unzeitgemäß". Das wurde ihm auch von Kritikern oft vorgehalten. In meiner Threaderöffnung schrieb ich:


    "In einer Zeit, in der die Musikalisierung des Kunstliedes ihren Höhe- und Endpunkt erreicht hat, unternimmt Schoeck den – im Grunde zeitfremden und deshalb für viele ein wenig wunderlichen – Versuch, das Kunstlied auf seine Urzelle zurückzuführen: Das musikalische Potential der Melodie. "


    Ich werde auf dieses "Unzeitgemäße" in Schoecks Liedschaffen immer wieder einmal eingehen. Es ist aus meiner Sicht - und nicht nur aus meiner - keineswegs ein Manko. Der - von ihm ganz bewusst vorgenommene! - Rückgriff auf die "Urzelle" des Liedes, die Melodie nämlich, verleiht den Liedern Schoecks ihren ganz spezifischen Charakter, ihren musikalischen Reiz und ihre musikhistorische Bedeutung.


    Im eben gerade vorgestellen Lied "Dämmrung senkte sich von oben" kann man das auf eindrucksvolle Weise hörend erleben. Es ist ein zweifellos großartiges Lied, das den lyrischen Text Goethes musikalisch voll ausschöpft.

  • Zit: "Der Fehler ist der Hitze geschuldet - und ein wenig meiner Vorstellung, alles was im 20. Jahrhundert geschrieben wurde, sei "zeitgenössisch" - Der Fehler und seine Korrekturen werden in den nächsten Stunden entfernt um den Fluß des Threads nicht zu stören. MOD 001 Alfred"


    Aber warum denn?, - wenn ich mir diese Frage erlauben darf.
    Natürlich sind diese Lieder für einen Menschen, der aus dem zwanzigsten Jahrhundert kommt, dort geboren wurde auf aufgewachsen ist, "zeitgenössische Lieder". Und das sind Schoecks Lieder ja auch in einem tieferen Sinn, spiegeln sie doch die Auseinandersetzung mit den geistigen Kräften, die das zwanzigste Jahrhundert entscheidend prägten.
    Ich fand die Reaktion von Alfred Schmidt voll nachvollziehbar und für diesen Thread überaus produktiv. Auch für mich sind das zeitgenössische Lieder. Von einer "Störung" des Threadflusses kann aus meiner Sicht überhaupt keine Rede sein.
    Also bitte nicht löschen!

  • Richard Strauss meinte zu diesem Lied Schoecks: „Das ist eine wirkliche Goethe-Vertonung“. Und in der Tat: Die eigentümliche Schlichtheit, ja Kargheit, der lyrischen Sprache Goethes ist mit der in ihrem Sekundfall eindrucksvoll einfachen melodischen Linie
    dieses Lieds musikalisch wunderbar eingefangen.


    Johannes Brahms hat dieses Gedicht ebenfalls vertont (op.59, Nr.1). Er geht freilich kompositorisch ganz anders vor. Sein Lied entfaltet ein Tongemälde, das in verschiedenen Varianten des Aussagen des lyrischen Ichs und die diesen zugeordneten lyrischen Bilder ausleuchtet und auf seine Weise ebenso eindrucksvoll und großartig ist wie das Lied von Schoeck.


    Die synkopische, in Moll harmonisierte Klavierbegleitung, die im Vorspiel aufklingt und auch im folgenden die Vokallinie trägt, wirkt klanglich stark prägend: Sie greift musikalisch die schwebend ungewisse Atmosphäre der lyrischen Bilder auf. Wie sehr Brahms auf die musikalische Ausleuchtung eben dieser Bilder abzielt, erfährt man hörend immer wieder aufs Neue.


    Schon beim Bild vom „Abendstern“ kommt ein deutlich hellerer Ton in die Klavierbegleitung und mehr Bewegung in die melodische Linie. Bei „schwarzvertiefte Finsternisse“ bewegt sich die Vokallinie in die Tiefe. Bei der dritten Strophe ist die Klavierbegleitung, die lyrischen Bilder dieser Strophe reflektierend, nicht mehr von Akkorden, sondern durch die lebhafte Bewegung von Einzeltönen geprägt, und die melodische Linie greift diese Bewegung auf und steigt in höhere Lagen empor.


    Eine typische, in Intervallen fallende Brahmsmelodie klingt bei dem Vers „Durch bewegter Schatten Spiele“ auf. Langsam bewegt sich die melodische Linie bei den Worten „Und durchs Auge schleicht die Kühle“ aufwärts. In faszinierend weiträumigem melodischem Ausgriff wird der letzte Vers gesungen. Hier setzt Brahms das Mittel der Wiederholung ein: „Durchs Auge schleicht die Kühle“ erklingt noch einmal. Und in der nachfolgenden, wunderbar beruhigend wirkenden melodischen Linie wird das Wort „sänftigend“ in höchst eindrucksvoller Weise auf leicht fallender Vokallinie wiederholt.


    Man kann, wenn man diese beiden Lieder hintereinander hört, sehr gut hörend erleben, wie Schoeck versucht, hinter die bei Brahms schon deutlich ausgeprägte Musikalisierung des Kunstliedes durch eine Schwerpunktverlagerung der Faktur auf die Melodik gleichsam einen liedkompositorischen „Schritt zurück“ zu machen.


    Ich vermag nicht zu sagen, welche der beiden Vertonungen von Goethes Gedicht dessen Geist besser erfasst hat. Hartmut Höll bekennt, das Lied von Brahms betreffend: „Die Goethe-Vertonung >Dämmrung senkte sich von oben< gehört für mich zu seinen (Brahms´) poetischsten Schöpfungen“. Da würde ich ihm zustimmen.
    Aber: Wenn ich Goethes Verse lese, erklingt in mir die melodische Linie, die Schoeck komponiert hat.

  • Eigentlich wollte ich ja, weil dieser Thread kürzer gehalten werden soll als die vorangehenden über Liszt und die Geschwister Mendelssohn, mich nicht näher auf das Leben, Denken und Fühlen des Menschen Othmar Schoeck einlassen. Aber das das klassifizierende und zeitlich einstufende Wort „zeitgenössisch“, das Alfred Schmidt im Zusammenhang mit den Liedern Schoecks gebrauchte, bewog mich dazu, doch ab und zu ein paar biographische Notizen in meine Liedbetrachtungen einfließen zu lassen. Den (Lied-)Komponisten hatte ich in einer ersten kurzen Stellungnahme zu eben jenem Wort „zeitgenössisch“ als einen „Unzeitgemäßen“ bezeichnet.


    Othmar Schoeck war in seiner allgemein menschlichen, aber auch in seiner künstlerisch- kompositorischen Grundhaltung wohl ein zutiefst konservativer Mensch. Die gesellschaftliche, politische und künstlerische Gegenwart bereitete ihm tiefstes Unbehagen. Für ihn war mit dem Ersten Weltkrieg eine Zeitenwende eingetreten. Er erlebte diesen und die Zeit danach als Einbruch des Nihilismus in eine Kulturwelt, in der all die Werte, in der Zeit der Klassik und Romantik allgemein menschlich und künstlerisch sinnstiftend wirkten, von Zerstörung und Verlust bedroht waren. Für ihn ereignete sich in seiner Lebenszeit jene „Schnellfäule“, die Jacob Burckhard schon im Jahre 1882 vorausgesehen hatte.


    Sein Biograph Hans Corrodi formulierte das so:
    „Überall wollte er Scharlatane und Schwindler am Werk sehen: in Handel und Wandel, in der Politik, vor allem in der Kunst. Die Makler waren in den Tempel eingedrungen, aber niemand da, sie daraus zu vertreiben; vielmehr waren sie im Begriffe, die Priesterschaft und die Gläubigen auf die Straße hinauszuwerfen.
    Schoecks Beurteilung er Lage erinnerte gelegentlich an Honeggers Pessimismus, zum Teil mochten ihr auch die gleichen Ursachen zugrundeliegen.“


    Das Bild vom „Tempel der Kunst“ scheint mir für Schoecks menschliche und künstlerische Grundhaltung überaus treffend zu sein. Kunst wurde für ihn schon sehr früh sinnstiftender Lebensinhalt. Die Schule war für den jungen Schoeck ein einziges Unglück. Das Glück begann für ihn mit dem Besuch einer Kunstschule und dem damit verbundenen Skizzieren und Malen in freier Natur. Und als er dann in Form von Orgelkonzerten zum ersten Mal der Musik begegnete, hätte man ihn, wie er später bekannte, „nicht mit vier Rossen“ davon wieder weggebracht.

  • Nun sehe ich gerade, dass Helmut mir mit dem Brahms-Lied auf dasselbe Gedicht schon zuvor gekommen ist, aber egal, er kann es sowieso viel schöner formulieren als ich.
    Ich finde, dass Schoeck-Lied stimmungsvoller, würde aber nicht die Brahms-Version als unpassend bezeichnen. Bei Schoeck senkt sich eben wirklich etwas herab, dass dämmerig wirkt...es ist so schlicht, aber doch so treffend.

    "Die Glücklichen sind neugierig."
    (Friedrich Nietzsche)

  • In meinen Gedanken zu den Vertonungen des Goethe-Gedichts „Dämmrung senkte sich von oben“ durch Brahms und Schoeck kam ich am Ende zu der Feststellung: „Aber: Wenn ich Goethes Verse lese, erklingt in mir die melodische Linie, die Schoeck komponiert hat.“


    Das ist eine – wie ich denke – bedenkenswerte subjektive Reaktion. Wenn man sie analysiert, kommt man zu folgender Schlussfolgerung:


    Die mit expressiv musikalischen Mitteln erfolgende und die emotionalen Regungen, die sich aus der Rezeption des lyrischen Textes ergeben, zum Ausdruck bringende Vertonung des Gedichts ist der lyrischen Sprache Goethes ferner als jene, die deren Melos und Struktur mit den Mitteln der Melodik direkt zu erfassen versucht.


    Über die künstlerische Qualität des Liedes selbst ist damit noch nichts gesagt. Hartmut Höll hatte allen Grund, das Lied von Brahms als eine seiner „poetischsten Schöpfungen“ einzustufen: Es ist in der Tat klanglich überaus beeindruckend.


    Der Vergleich beider Vertonungen sagt etwas über die Relation von lyrischem Text und Musik aus.
    Und diesbezüglich ist man da im Falle von Othmar Schoeck Schubert recht nahe, - und weit weg von Johannes Brahms.

  • „Leicht und duftig, nicht zu schnell“ lauten die Anweisungen des Komponisten zum Vortrag dieses Liedes auf ein Gedicht von J.W. Goethe. „Dolce“ wird zudem noch vorgeschrieben. Und tatsächlich: Das, was da gleich im zehntaktigen Klaviervorspiel aufklingt, wirkt beschwingt, leichtfüßig, tänzerisch, heiter. Der Dreiachteltakt und die im Klavierbass aufwärts gerichteten Triolenfiguren tragen ebenso zu diesem klanglichen Eindruck bei wie die melodische Linie im Diskant, die sich mittendrin mit einem Triller über fast zwei Takte schmückt.


    Kleine Blumen, kleine Blätter
    Streuen mir mit leichter Hand
    Gute junge Frühlingsgötter
    Tändelnd auf ein luftig Band.


    Zephir, nimms auf deine Flügel,
    Schlings um meiner Liebsten Kleid;
    Und so tritt sie vor den Spiegel
    All in ihrer Munterkeit.


    Sieht mit Rosen sich umgeben,
    Selbst wie eine Rose jung.
    Einen Blick, geliebtes Leben!
    Und ich bin belohnt genung.


    Fühle, was dies Herz empfindet,
    Reiche frei mir deine Hand,
    Und das Band, das uns verbindet,
    Sei kein schwaches Rosenband!


    Auf je einem Verspaar liegt eine Melodiezeile. In ihrer Struktur ist sie schlicht angelegt. Bei der ersten Strophe (das Lied ist durchkomponiert) bewegt sich die melodische Linie mit nur geringen Ausgriffen nach oben und nach unten auf einer tonalen Ebene, wobei im regelmäßigen Wechsel von Viertel- und Achtelnoten silbengetreu deklamiert wird.


    Vor der zweiten Strophe erklingt die Klaviereinleitung als Zwischenspiel. Jetzt ist die melodische Linie anders angelegt. Zwar wird immer noch rhythmisch in gleicher Weise deklamiert, die Bewegung der Vokallinie umgreift aber jetzt größere Intervalle. Beim ersten Vers („Zephir, nimms auf deine Flügel“) macht sie – eigentlich verwunderlich, von der lyrischen Aussage her – eine Abwärtsbewegung über eine ganze Septe. Auch der Vers „Schlings um meiner liebsten Kleid“ wird auf fallender melodischer Linie gesungen. Man erwartet, da es sich auf eine Aufforderung handel, eigentlich eine Aufwärtsbewegung.


    Diese erfolgt dann auch, und zwar bei dem Bild: „Und so tritt sie vor den Spiegel“. Anscheinend hat insbesondere das lyrische Wort „Munterkeit“ auf den Komponisten inspirierend gewirkt. Hier akzentuiert er die aufsteigende melodische Linie nicht wie bislang mit Triolen, sondern mit Akkorden, die der Deklamation genau folgen.


    Die beiden ersten Verse der dritten Strophe erklingen wieder auf einer Vokallinie, die im Sekundschritt über eine ganze Oktave abfällt, - immer noch in gleicher Weise rhythmisiert. Dann aber, bei den Worten „einen Blick, geliebtes Leben“, entfaltet sie große melodische Emphase, indem sie einen in hohe Lage ausgreifenden Bogenbeschreibt.


    Vor der vierten Strophe erklingt wieder ein Zwischenspiel mit einem in den Diskant eingelagerten Triller. Beim ersten Verspaar setzt die melodische Linie in hoher Lage ein, bewegt sich danach zwar zunächst nach unten, aber nur, um danach in einem markanten, weil in Terzen erfolgenden Aufstieg auf dem Wort „Hand“ in hoher Lage innezuhalten und dieses Bild auf diese Weise klanglich nachwirken zu lassen.


    Von überaus lebhafter Bewegung in Form von im Unisono erklingenden Sechzehnteln ist die melodische Linie bei den letzten Versen geprägt: „Und das Band, das uns verbindet…“. Auf dem Wort „Rosenband“ liegt dabei eine für dieses Lied ungewöhnlich lange Dehnung: Auf jeder Silbe ein punktiertes Viertel im Herabsteigen in Form von Sekunden und einem Innehalten auf der Silbe „-band“ über drei Takte.


    Nach einem kurzen, nach oben stürmenden Aufklingen der Sechzehntel im Klavier werden die Worte „kein schwaches Rosenband“ wiederholt: Auf einer bogenförmigen, in tiefer Lage endenden melodischen Linie. „Zart und ausdrucksvoll“ lautet an dieser Stelle die Vortragsanweisung.

  • Das ist wohl das bekannteste und das von Liedinterpreten am meisten – wohl wegen seiner „Wirkung“ im Konzert – geschätzte Lied Schoecks. Nicht unwesentlich hängt das mit seinem Kokettieren mit der Liedkultur Mozarts zusammen.


    Es ist aber eigentlich gar kein „Kokettieren“. Dieser Eindruck drängt sich zwar beim ersten Hören erst einmal auf. Bei genauerem Hinhören stellt sich aber rasch heraus, dass sich in diesem Lied kompositorisch mehr ereignet. Im Klavier erklingen zwar, schon in der Einleitung aber auch im weiteren Verlauf, gleichsam rokokohafte melodische Figuren, aber die wirken klanglich wie ein klanglich verspieltes Umtanzen einer sich höchst ernsthaft bewegenden melodischen Linie in der Singstimme.


    Das ist zwar kein musikalisches Konterkarieren, was sich da ereignet, aber sehr wohl ein reizvoll spielerisches Gegeneinander, das die Ebenen und Dimensionen des lyrischen Textes auf diese Weise in höchst eindrucksvoller Weise musikalisch auszuleuchten vermag.
    So wirkt in der ersten Strophe die melodische Linie in ihrer Bewegung ausgesprochen leicht und heiter, und das Klavier unterstützt dies mit einer leichtfüßig triolischen Begleitung. Mit der zweiten Strophe kommt durch die fallende melodische Linie, die akzentuierte Deklamation und die akkordische Begleitung ein Anflug von Ernsthaftigkeit in das Lied, und bei den Worten „Einen Blick, geliebtes Leben“ werden sogar ariose Töne angeschlagen.


    Bemerkenswert ist die klanglich rhythmische Innenspannung bei den beiden letzten Versen des Liedes. Im Unisono von Bass und Diskant stürmen Sechzehntel in immer neuem Anlauf nach oben, während die Singstimme weiter ruhig in mittlerer Lage deklamiert und das Wort „Rosenband“ sogar mit einer langen melodischen Dehnung versieht. Die Wiederholung der Worte „Kein schwaches Rosenband – dieses Mal mit ruhiger akkordischer Begleitung – erscheint einem von daher zwingend geboten zu sein, um diesen rhythmischen Kontrast zwischen Singstimme und Klavier aufzufangen, abzubauen und das Lied mit einem abschließenden Ruhepunkt zu versehen.

  • Richard Strauss meinte zu diesem Lied Schoecks: „Das ist eine wirkliche Goethe-Vertonung“.

    Es war aber schon etwas Überzeugungsarbeit notwendig, bis Strauss zu dieser Erkenntnis gelangte …


    Aus einem Gespräch Hans Esdras Mutzenbecher mit Richard Strauss in Antwerpen im Jahre 1937:

    <Wir kamen auf Schuberts Goethe-Vertonungen zu sprechen und Strauss bekannte, er habe nicht das kongeniale Maß dafür. Allzuleicht würde bei ihm aus jedem Gedicht völlig unproportioniert eine symphonische Dichtung. Beinahe ärgerlich schloß er abrupt: „Heutzutage kann man überhaupt nicht mehr Goethe vertonen.“ Ich widersprach und wies auf Schoecks Vertonungen hin. Strauss ließ sie sich zeigen, wurde sofort hellhörig und vertiefte sich eingehend. Besonders „Dämmrung senkte sich von oben“ beeindruckte ihn sichtlich. Er setzte sich an den Flügel, spielte, wurde sehr nachdenklich. Plötzlich wandte er sich mir mit den Worten zu: „Sie haben recht. Das ist eine wirkliche Goethe-Vertonung.“>

  • Vielen Dank, lieber hart, für die "kleine Erweiterung", die in Wirklichkeit so "klein" gar nicht ist. Ich kannte diese Gesprächsnotiz nicht, und sie ist hochinteressant. Bemerkenswert die Selbstkritik von Richard Strauss: Bei ihm würde aus jedem Gedicht allzu leicht eine symphonische Dichtung. Das ist natürlich übertrieben, denn Strauss hat sehr viele Lieder hinterlassen, die wahrlich in ihrem Wesen liedhaft sind.


    Aber in einem hat er natürlich recht: In dem starken Akzent, den Schoeck auf die Melodie - als Wesenskern die Liedes - legt, ist er sozusagen das liedkompositorische Gegenbild zu Strauss, bei dem die Musikalisierung des Liedes ihren Höhepunkt erreicht hat.


    Freilich: So berückend klangschön und verzaubernd wie Straussens Lieder sein können, sind die von Schoeck in der Regel nicht. Ihre Schönheit ist anderer Art: Sie kommt aus der Transparenz für die Schönheit der Sprachmelodie.

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  • So berückend klangschön und verzaubernd wie Straussens Lieder sein können, sind die von Schoeck in der Regel nicht

    Hier gilt der alte Spruch: Keine Regel ohne Ausnahme; ich denke dabei an das wunderschöne Schoeck-Lied Nachruf. Man hört es irgendwann zum ersten Mal und hat sofort den Wunsch diesen Eichendorff-Text und die Musik im Kopf zu behalten, so wie man auch die bekanntesten Schubert-, Schumann- und Strauss-Lieder „drauf“ hat.


    Nachruf Joseph von Eichendorff


    Du liebe, treue Laute,
    wie manche Sommernacht,
    bis dass der Morgen graute,
    hab ich mit dir durchwacht!


    Die Täler wieder nachten,
    kaum spielt noch Abendrot,
    doch die sonst mit uns wachten,
    die liegen lange tot.


    Was wollen wir nun singen
    hier in der Einsamkeit,
    wenn alle von uns gingen,
    die unser Lied erfreut?


    Wir wollen dennoch singen!
    so still ist's auf der Welt;
    wer weiß, die Lieder dringen
    vielleicht zum Sternenzelt.


    Wer weiß, die da gestorben,
    sie hören droben mich,
    und öffnen leis die Pforten
    und nehmen uns zu sich.


    Wie ganz anders ist dagegen das Lied Mittag im September (Text Hermann Hesse) aus dem Liederzyklus op. 44. Ein sehr fragiles Liedgebilde, wo ganz sensible Interpretationen eine unbedingte Notwendigkeit sind. Man höre zum Vergleich mal Dietrich Fischer-Dieskau / Karl Engel und Gunnel Sköld, (eine gebürtige Schwedin, die während ihrer Ausbildung hauptsächlich in Mexiko und Spanien unterwegs war) / Jan Bülow – Ich möchte diesem Thread damit keinen „Sänger-Touch“ geben, wollte jedoch für Interessierte darauf hingewiesen haben.

  • Zit hart : "Keine Regel ohne Ausnahme"


    Das Lied "Nachruf" auf ein Gedicht von Eichendorff ist in der Tat eines der berückend schönen Lieder von Othmar Schoeck. Da ich hier Liedgruppen um bestimmte Autoren zu bilden versuche und im Augenblick Goethe ansteht, kann ich mich erst später auf dieses Lied näher einlassen, eben dann, wenn Eichendorff "dran ist".


    So viel aber vorweg:
    In meiner bereits ausgearbeiteten Besprechung lautet der einleitende Satz: "Ein Blick auf die Notenblätter, und die Einfachheit der Faktur springt einem ins Auge". Und das ist eben der Punkt, worin Schoecks Liedkomposition von der Straussens sich unterscheidet. Dieses Lied besticht klanglich gerade durch die geradezu verblüffende, fast volksliedhaft wirkende Schlichtheit seiner melodischen Linie.


    Insofern liegt hier keine "Ausnahme von der Regel" vor, die ich in meinem letzten Beitrag zum Ausdruck brachte. Die Schönheit der Lieder Schoecks ist eine in ihrem liedkompositorischen Wesen andere als die der Lieder von Strauss, - in der Regel. Ich sprach von der "Transparenz für die Sprachmelodie". Hier ist es die der lyrischen Sprache Eichendorffs.

  • Dieses Lied auf ein Gedicht von Goethe steht im Dreivierteltakt und ist mit der Vortragsanweisung „Ruhig“ versehen. Es fängt in klanglich faszinierender Weise den Geist der lyrischen Bilder ein, der von der Ruhe einer stillen Betrachtung, aber auch von der seelischen Erregung des Betrachters geprägt ist.


    Fetter grüne, du Laub,
    Am Rebengeländer
    Hier mein Fenster herauf!
    Gedrängter quellet,
    Zwillingsbeeren, und reifet
    Schneller und glänzend voller!
    Euch brütet der Mutter Sonne
    Scheideblick, euch umsäuselt
    Des holden Himmels
    Fruchtende Fülle;
    Euch kühlet des Mondes
    Freundlicher Zauberhauch,
    Und euch betauen, ach!
    Aus diesen Augen
    Der ewig belebenden Liebe
    Vollschwellende Tränen.


    In eine fallende, von Quinten mit einem lieblichen Ton versehene und leicht rhythmisierte Klavierbegleitung fügt sich, schon im zweiten Takt, die Vokallinie ein, die zwar auch zunächst in Quarten abfällt, dann aber sogleich eine Aufwärtsbewegung macht: Musikalischer Ausdruck der inneren Lebendigkeit, die sie in ihrer Bewegung vorantreibt. Bei den Worten „hier mein Fenster herauf“ ist dies deutlich zu vernehmen: In einer wiederum triolischen Aufwärtsbewegung aus kleinen Sekunden eilt die melodische Linie auf ein hohes „es“ zu und verharrt dort einen Augenblick, als wolle sie dieses Bild auskosten.


    Danach geht es wie in einer Art melodischem Jubel weiter. Mit einem Crescendo versehen steigt die Vokallinie hoch zu einem „ges“ bei dem Wort „gedrängter“ und bewegt sich danach in ruhigen Schritten wieder abwärts. Aber wie von innerer Erregung getrieben, beschreibt sie beim sechsten Vers wieder zunächst einen melodischen Bogen, um danach bei dem Wort „voller“ einen Quintsprung in große Höhe zu machen. In einer zweitaktigen Pause für die Singstimme fängt das Klavier mit seinen fallenden Quintakkorden die große Erregung der melodischen Linie für einen Augenblick ein.


    Und tatsächlich: Mit den Worten „Euch brütet der Mutter Sonne Scheideblick“ kehrt Ruhe in die Bewegung der melodischen Linie ein. Sie schreitet jetzt langsam auf einer Tonebene voran und ist zudem in einer anderen Tonart harmonisiert. Selbst die Triolen, die sich bei den Worten „umsäuselt des holden Himmels“ in sie hineindrängen, vermögen ihre Ruhe nicht zu stören. „Zart“ lautet die Anweisung für den Vortrag der Worte „des Mondes freundlicher Zauberhauch“. Und die Lieblichkeit, die die melodische Linie an dieser Stelle aufweist, spiegelt auf eine beeindruckende Weise die Aussage dieses lyrischen Bildes.


    Die Worte „Und euch betauen“ werden auf aufsteigender melodischer Linie gesungen, wobei diese am Ende erst einmal in großer Höhe verharrt, bevor das folgende „ach!“ dadurch klanglich akzentuiert wird, dass es durch Achtelpausen melodisch isoliert ist.


    Zu großer Emphase steigert sich die Vokallinie bei den beiden letzten Versen. In einer lebhaften, von triolischen Achteln getragenen Aufwärtsbewegung schwingt sie sich bei dem Wort „Liebe“ zu einem hohen „c“ auf, dynamisch durch ein Crescendo beflügelt. Bei den Worten „vollschwellende Tränen“ bewegt sie sich bedeutungsschwer abwärts, wobei auf den Silben des Wortes „tränen“ ein vom Klavier akkordisch akzentuierter Quartfall liegt.

  • Der Autor Emil A. Fischer veröffentlichte 1946 Interviews mit Schweizer Persönlichkeiten; da war auch ein Gespräch mit Othmar Schoeck dabei.


    Gesprächsausschnitt (passend zum oben eingestellten Lied):


    Fischer:
    Ist produktives musikalisches Schaffen nicht in hohem Grade von der Stimmung abhängig?
    Schoeck:
    Ganz gewiss. Ich konnte nie aus der Traurigkeit heraus schaffen. Die eigentliche Depression macht mich unfruchtbar. Schöpferische Arbeit ist … Lust. Natürlich sind gewisse Werke auch aus depressiven Erlebnissen heraus entstanden. Aber erst, als schon das Morgenrot des Trostes da war!
    A propos: eine kleine Bemerkung zur Frage „Jahreszeit und Arbeitsstimmung“, die Sie vielleicht interessiert – ich arbeite im Herbst leichter als in anderen Jahreszeiten!
    ------------
    Nach meinen Informationen wurde das Lied am 5. August 1909 komponiert und am 12. Dezember des gleichen Jahres erfolgte die Uraufführung; man könnte also diese Zeitspanne als Herbst gelten lassen.

  • Wenn Schoeck bekennt: "Ich konnte nie aus der Traurigkeit heraus schaffen", so dürfte er das mit den meisten Komponisten gemeinsam haben. Depression und Traurigleit sind in der Regel mit Lähmung jeglicher Schöpferkraft verbunden.


    Interessanter und bemerkenswerter ist seine Feststellung: "Natürlich sind gewisse Werke auch aus depressiven Erlebnissen heraus entstanden". Für das Lied "Herbsgefühl" gilt das zwar nicht, wohl aber - was die Gattung "Lied" betrifft - für das 1922/23 entstandene Opus 36: "Elegie. Liederfolge nach Gedichten von Lenau und Eichendorff für eine Singstimme und Kammerorchester". Dieses Werk ist unüberhörbar geprägt von einer - vorausgegangenen! - schweren seelischen Erschütterung. Und es hat Bekenntnischarakter.


    Schoeck bewältigt diese Lebenskrise durch eine intensive kompositorische Auseinandersetzung mit dem lyrischen Werk Lenaus und Eichendorffs. Die künstlerische "Leitlinie", die er dabei verfolgte, könnte man mit einem Vers eben jenes Dichters Nikolaus Lenau wiedergeben: "Natur! will dir ans Herz mich legen!" (Aus "Waldlied")

  • Von Mal zu Mal spüre ich beim Hören dieses Liedes mehr, wie großartig Schoeck den Geist des Goethe-Gedichts musikalisch eingefangen hat. Anfänglich habe ich mich noch ein wenig über die Struktur der melodischen Linie am Liedanfang gewundert. Das erste lyrische Bild strotzt ja geradezu von Leben.


    Mit einem gänzlich unlyrischen Wort setzt der erste Vers ein: „Fett“ nämlich, - und das sogar noch in einer Steigerungsform. Das lyrische Ich möchte, dass dieses fett-pralle grüne Leben ihm noch stärker entgegen quelle, als es das ohnehin schon tut. „Herauf“ ist dabei das dieses lyrische Bild in seiner Bewegung bestimmende Wort.


    Und was macht Schoecks melodische Linie auf diesem ersten Vers? Sie fällt. Sie macht bei den Silben „Fet“ – „ter“ – „grü“ gleich einen doppelten Quartfall. Und nicht nur das: Auch der Klaviersatz des kurzen Vorspiels und seine Fortsetzung als Begleitung der Singstimme ist klanglich von chromatisch fallenden Akkorden geprägt. Erst bei den Worten „Fenster herauf“ bewegt sich die melodische Linie nach oben: Das allerdings in einem zum Teil veminderten Sekundschritt.
    Wie das?


    Schoeck hat das Gedicht Goethes aufmerksamer und gründlicher gelesen als ich. Es ist ein Herbstgedicht. Und das heißt: Ein leicht elegischer Ton will sich einschleichen und wird doch wieder zurückgedrängt. Das lyrische Ich registriert ja das Leben nicht nur, das sich vor seinem Fenster regt, es beschwört es regelrecht, damit es sich noch mächtiger rege.


    Sprachliche Steigerungen beherrschen die ersten Verse: „Fetter“, „gedrängter“, „schneller“, „voller“ solle all das sein und geschehen, was das lyrische Ich da sieht und erlebt. Und deshalb diese eigentümliche Spannung zwischen fallender und sich danach wieder mächtig nach oben aufbäumender Bewegung in der melodischen Linie. Nicht nur in der ersten Melodiezeile ist das so, sondern auch in der zweiten („Gedrängter quellet, Zwillingsbeeren…“) und danach noch mehrfach, zum Beispiel bei den Worten „Mondes freundlicher Zauberhauch“.


    Aber am Ende steht ein – typisch Goethesches! – „Ach“. Es ist in markanter Weise musikalisch akzentuiert, weil durch zwei Viertelpausen aus dem Fluss der melodischen Linie herausgehoben und mit einem Tenutozeichen markiert. Und dann ist die Rede von „Tränen“, die all diese lyrischen Bilder „betauen“. Vergänglichkeit ist in sie eingedrungen. Herbstliche.


    Und Schoeck hat sie mitkomponiert. Gleich von der ersten Melodiezeile an.
    Wie gesagt: Schoeck hat besser gelesen als ich.

  • Goethes Gedicht, das „das Lebendge“ preist, das „nach Flammentod sich sehnt“, inspirierte Schoeck zu einem Lied von einem geradezu überschäumenden musikalischen Leben.


    Sagt es niemand, nur den Weisen,
    Weil die Menge gleich verhöhnet:
    Das Lebendge will ich preisen,
    Das nach Flammentod sich sehnet.


    In der Liebesnächte Kühlung,
    Die dich zeugte, wo du zeugtest,
    Überfällt dich fremde Fühlung,
    Wenn die stille Kerze leuchtet.


    Nicht mehr bleibest du umfangen
    In der Finsternis Beschattung,
    Und dich reißet neu Verlangen
    Auf zu höherer Begattung.


    Keine Ferne macht dich schwierig,
    Kommst geflogen und gebannt,
    Und zuletzt, des Lichts begierig,
    Bist du, Schmetterling, verbrannt.


    Und solang du das nicht hast,
    Dieses: Stirb und werde!
    Bist du nur ein stiller Gast
    Auf der dunklen Erde.


    Von lebhaften, von unten nach oben stürmenden Oktaven im Klavier gleichsam angetrieben und mitgerissen, setzt die melodische Linie der Singstimme unmittelbar, d.h. ohne Vorspiel ein. Und nur kurz verbleibt sie in mittlerer Lage. Schon beim dritten Vers, eben jenem, bei dem es um das „ Lebendge“ geht, steigt sie in hohe Lage auf, und der letzte Vers der ersten Strophe wird dort in überaus markanter Weise deklamiert.


    Jede Strophe hat, ganz der jeweiligen lyrischen Aussage gemäß, ihren eigenen melodischen, harmonischen und rhythmischen Charakter. So wirkt die zweite zum Beispiel im Vergleich zur ersten in der Dynamik stark zurückgenommen. Zwar bewegt sich die melodische Linie auch hier in großen Intervallen lebhaft auf und ab, aber das geschieht mit geringerer dynamischer Expressivität. Und bei dem Bild von der „stillen Kerze“ kommt sogar eine Spur von Idyllik in das Lied. Die Vokallinie steigt in tiefe Lagen herab und bewegt sich im Raum kleiner Tonintervalle.


    Höchst lebhaft wirkt die Bewegung der melodischen Linie in der dritten Strophe. Sie steigt aus hoher Lage in kleinen Schritten abwärts, vom Klavier mit ebenfalls lebhaft sich bewegenden Achteln umspielt. Erst beim letzten Vers dieser Strophe wird die permanente Abwärtsbewegung der melodischen Linie aufgegeben und durch eine aufwärts gerichtete Bewegung ersetzt.


    Lebhaft von unten nach oben stürmende Sechzehntel im Klaviersatz prägen das Klangbild der vierten Strophe. Die melodische Linie beschreibt auch hier zunächst noch Abwärtsbewegungen. Bei dritten Vers („Und zuletzt des Lichts begierig“) fängt sie sich aber, verbleibt auf einer Tonebene, und danach, beim Bild vom „Schmetterling“, sinkt sie, von einem tristen Ton geprägt, in tiefe Lage ab. Beim Wort „verbrannt“ macht sie aber einen überraschenden Sprung nach oben, der vom Klavier mit rhythmisch akzentuierten Akkorden begleitet wird.


    „Breit und ruhig“ lautet die Vortragsanweisung für die letzte Strophe, die gleichsam die dichterische Quintessenz artikuliert. Schoeck hat sie mit einer adäquaten musikalischen Faktur aufgegriffen, die Gewichtigkeit und Bedeutsamkeit ausdrückt. Bei „Und solang du das nicht hast“ beschreibt die melodische Linie im Forte einen Bogen hoch zum zweigestrichenen „f“, und das Klavier folgt ihr dabei mit Oktaven im Bass und im Diskant. Am Ende des Verses hält sie in Form einer Dehnung inne, als wolle sie eine Erwartungshaltung erzeugen für das, was jetzt lyrisch kommt. Auf dem Wort „werde“ liegt ein verminderter Sekundfall in Form von halben Noten. Auch dies ein kompositorisches Mittel, das die Bedeutsamkeit der lyrischen Aussage unterstreicht.


    Bei den beiden letzten Versen steigt die melodische Linie in gewichtigen Schritten langsam über eine ganze Oktave herab. Die Worte „dunklen Erde“ werden mit einer musikalisch ausdrucksstarken Kombination aus Quartfall in tiefe Lage und Quintsprung mit nachfolgender langer Dehnung deklamiert. Mit einem Wirbel aus – im Forte-Fortissimo – in immer neuem Anlauf stürmisch nach oben drängenden Oktaven in Bass und Diskant endet das Lied.

  • „Schnell und stürmisch“ lautet die Vortragsanweisung zu diesem Lied auf ein Gedicht von Goethe. Man ist geneigt, wenn man nur die ersten Takte gehört hat, diese Anweisung durch das Wort „wild“ zu ergänzen. Denn schon im Vorspiel entfaltet das Klavier einen regelrechten klanglichen Wirbelwind.


    Dem Schnee, dem Regen,
    Dem Wind entgegen,
    Im Dampf der Klüfte,
    Durch Nebeldüfte,
    Immer zu! Immer zu!
    Ohne Rast und Ruh!


    Lieber durch Leiden
    Möchte ich mich schlagen,
    Als so viel Freuden
    Des Lebens ertragen.


    Alle das Neigen
    Von Herzen zu Herzen,
    Ach, wie so eigen
    Schaffet das Schmerzen!


    Wie soll ich fliehen?
    Wälderwärts ziehen?
    Alles vergebens!
    Krone des Lebens,
    Glück ohne Ruh,
    Liebe, bist du!


    Nur eintaktig ist das Vorspiel. Im Diskant erklingen oktavisch alternierende Sechzehntel, und im Bass kommen von unten her ansteigende Oktaven angestürmt. Die Singstimme setzt mit einem Vorhalt noch in diesem Takt ein, und man hat den Eindruck, dass sie von dem vorwärtsstürmenden Wirbel im Klavier regelrecht mitgerissen wird.


    Sie bewegt sich rasch, fast hektisch, und zunächst in hoher Lage. Achtel und Sechzehntel folgen aufeinander, und auf den Worten „Regen“ und „Wind“ sitzt ausdrücklich ein Akzent. Beim dritten und vierten Vers steigt sie dann nach unten. Aber ganz bezeichnend für ihre innere Unruhe ist, dass sie das nicht ruhig und konsequent tut, sondern in Form von neuerlicher Aufwärtsbewegung, die dann in einen regelrechten Absturz in Form eines Sextfalls mündet.


    Das „Immer zu! Immer zu!“ wird in hoher Lage und in gleichsam drängender Weise gesungen, und es ist mit einem Crescendo versehen. Auch bei den Worten „Ohne Rast und Ruh“ bleibt die Vokallinie auf dieser Tonebene, um ja den Eindruck zu vermeiden, sie habe zu einem Ruhepunkt gefunden.


    Vor der zweiten Strophe erklingen im Klavierdiskant pochende Sechzehntel auf einem Ton. Die Vokallinie fällt mit demselben Ton in sie ein, und die Worte des ersten Verses werden in deutlich akzentuierter Weise (jeweils zwei Silben oder Worte auf einem Ton) deklamiert.


    Mit der dritten Strophe kehrt aber die Eile in die melodische Linie zurück. In permanentem Auf und Ab steigert sie sich in die expressive Artikulation des Wortes „Schmerzen“: Auf den beiden Silben desselben liegt ein Quintsprung, und der letzte Ton wird dabei noch einmal wiederholt, um die Expressivität zu steigern.


    Überaus eindrucksvoll ist das „Alles vergebens!“ der letzten Strophe kompositorisch gestaltet. Mit einem Mal ist die Hektik in der melodischen Linie wie weggeblasen. Auf dem Wort „alles“ liegt eine für dieses Lied ganz und gar ungewöhnlich lange Dehnung (über eineinhalb Takte!), wobei dann auf dem gleichen Ton auch noch die Silben „-les“ und „ver“- deklamiert werden. Erst bei den letzten Silben („-gebens“) steigt dann die Vokallinie in zwei Schritten herab. Das Klavier begleitet derweilen durchgehend mit hartnäckig pochenden Sechzehnteln im Diskant.


    Die Worte „Krone des Lebens“ werden in großer Höhe auf einem Ton fortissimo gesungen. Auf jeder Silbe liegt dabei eine lange Dehnung. Die melodischen Linien, die auf den letzten beiden Versen liegen, weisen beide eine absteigende Tendenz auf: Bei den Worten „ohne Ruh“ erfolgt eine Septfall, und bei „Liebe bist du“ fällt die melodische Linie über das Intervall einer Quinte ab. Das ist – von der Aussage des lyrischen Textes her – überraschend. Das lyrische Ich scheint in der Lesart von Schoeck der Gültigkeit dieser Aussage nicht ganz trauen zu können.


    Immerhin ringt es sich dann doch bei der Wiederholung der Worte „Liebe bist du“ zu einem positiv klingenden Ton durch. Jetzt macht die melodische Linie einen Sextsprung in große Höhe und verbleibt dort, um das Lied mit einer langen Dehnung auf dem Wort „du“ ausklingen zu lassen.


    Im Nachspiel stürmen die Akkorde aus tiefer Lage nach oben, und diese Bewegung wird mit einem Akkord im Forte-Fortissimo abgeschlossen.

  • Zu diesem Text aus Goethes Sturm- und Drang-Zeit, der – so wird berichtet – während eines Schneesturms im Mai entstanden sein soll, liegen eine Menge Kompositionen vor; sogar Beethoven hatte sich damit versucht, aber es blieb beim Versuch.


    Am bekanntesten ist natürlich die Vertonung durch den 18-Jährigen Franz Schubert (komponiert 1815, aufgeführt am 13. Juni 1816).
    Dietrich Fischer-Dieskau meint, dass Reichert der Komposition Schuberts am nächsten kam.


    Schoeck war zum Zeitpunkt seiner Komposition 26. Jahre alt, dennoch darf dieses Lied zu seinen frühen Werken gerechnet werden. „Rastlose Liebe“ wurde 1912 in Zürich komponiert und durch die ungarische Altistin Ilona K. Durigo (sie besaß einen Stimmumfang von etwa drei Oktaven) am 23. März in Bern uraufgeführt.
    Im Zusammenhang gerade zu diesem Lied, ist es vielleicht interessant, dass sich die Sängerin „Hals über Kopf“ – wie es in der Literatur heißt – in den Komponisten verliebte.
    Das ungestüme Drängen kommt sowohl bei Schubert als auch bei Schoeck musikalisch zum Ausdruck. Rein vom Zeitmaß gesehen, drängt Schoeck etwas schneller voran.

  • Dieses Lied ist das einzige, mit dem Schoeck ganz bewusst in Konkurrenz zu Franz Schubert trat. Er fand, dass dieser der ungeheuren lyrischen Emphase des Goetheschen Gedichts musikalisch nicht so ganz gerecht geworden sei.


    Ich widerstehe der Versuchung, mich auf diese Frage ausführlich einzulassen. Das wäre eine Sache von mindestens zwei Seiten Text, und es würde auch von der Intention dieses Threads zu weit weg und in die trockenen Gefilde der Liedanalyse führen.


    Wenn man beide Lieder hintereinander hört, dann empfindet und erkennt man:
    Es geht hier um zwei im liedkompositorischen Konzept sehr verschiedene und nicht vergleichbare Lieder. Auch Schubert wird dem lyrischen Text voll gerecht, - allein schon dadurch, dass er die „rastlose“ Unruhe des lyrischen Ichs durch permanente und äußerst expressive rhythmische Reibungen zwischen Singstimme und Klaviersatz musikalisch zum Ausdruck bringt. Vor allem besticht bei ihm, wie er in höchst differenzierter Weise die lyrische Aussage der einzelnen Strophen gegeneinander absetzt und das Ganze in dem „Liebe bist du“ jubilierend aufgipfeln lässt.


    Schoeck ist der modernere, das heißt der musikalisch radikalere Komponist.
    Die Aussage der ersten Verse, dieses „dem Schnee, dem Regen, dem Wind entgegen, immerzu, immerzu“ wird für ihm zur Keimzelle und zur Leitlinie für eine auf höchste musikalische Expressivität hin angelegte Komposition. Der Klaviersatz entfaltet eine solche musikalische Rasanz, dass die melodische Linie der Singstimme gar keinen Atem finden kann, sich auf die besinnlichere Perspektive der zweiten Strophe näher einzulassen.


    Es dominiert das „Ohne Rast und Ruh“. Schoeck hat das „Alles vergebens“ mit größerer – eben moderner! - Radikalität ins Zentrum seiner Komposition gesetzt, als Schubert dies tun konnte, der sich kompositorisch noch stärker dem lyrisch-sprachlichen Gestus des Goetheschen Gedichts verpflichtet fühlte.

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