Der Schweizer Othmar Schoeck (1886-1957) gehört in die Reihe der bedeutenden Liedkomponisten. Fühlt man sich den großen, historisch gewichtigen Repräsentanten der Liedkomposition gegenüber verpflichtet, dann sieht man sich förmlich dazu gedrängt, Schoeck einen eigenen Thread im Tamino-Liedforum zu widmen. Bedenkt man aber, dass dieses Unterfangen – nach den Erfahrungen, die man mit ähnlichen Thread-Themen abseits des Mainstreams bislang gemacht hat – mit einiger Wahrscheinlichkeit zu einem weitgehend solistischen Unterfangen werden könnte, dann scheint eher ein Abstandnehmen geboten zu sein.
Es sei dennoch gewagt. Schoecks Lieder sind einfach zu bedeutsam, haben uns musikalisch zu viel zu sagen, als dass man sie hier aus Gründen der subjektiven Befindlichkeit, der Angst vor dem Mangel an diskursiver Resonanz, nicht in Form von Einzelbetrachtungen würdigen sollte.
Mehr als vierhundert Lieder hat Schoeck hinterlassen, Klavierlieder, aber auch Lieder für Kammerensemble und Orchester. Viele davon sind in Zyklen zusammengefasst, so etwa „Unter Sternen“ (op.54, Auf Gedichte von Gottfried Keller), „Das stille Leuchten“ (op.60, auf Gedichte von C.F.Meyer), „Das holde Bescheiden“ (op.62, auf Gedichte von Eduard Mörike). Hinzuweisen ist auch auf den Zyklus „Notturno“ op.47 (Fünf Sätze für Streichquartett und eine Singstimme) und „Lebendig begraben“ op.40 (14 Gesänge auf Gedichte von Gottfried Keller für Singstimme und Orchester).
Othmar Schoeck orientiert sich in seiner kompositorischen Grundhaltung am neunzehnten Jahrhundert und nimmt nur zögerlich die Tendenzen zur Auflösung der Tonalität und Befreiung vom durchgehaltenen Metrum, wie sie sich zu seinen Lebzeiten allenthalben entwickelten, in seine Werke auf. Zwar war er in den Jahren 1907 bis 1908 Schüler von Max Reger, aber wenn man sich seine Lieder in ihrer spezifischen kompositorischen Faktur unter diesem Aspekt betrachtet, so lässt sich kein größerer Gegensatz zwischen der Liedkomposition Regers und der seinigen denken: Auf der einen Seite – der Regers nämlich – ein orchestrales Denken, bei dem die melodische Linie der Singstimme vom Klaviersatz förmlich überflutet wird; auf der anderen – bei Schoeck – eine zuweilen regelrecht verblüffende melodische und harmonische Kargheit der musikalischen Faktur.
Wenn man das Wesen und die spezifische Eigenart der Liedkomposition Schoecks auf eine Art formelhaften Nenner bringen möchte, so könnte man sagen:
Seine Lieder sind eine Art Synthese von Franz Schubert und Hugo Wolf. Und dies aus einem einfachen Grund: Für ihn gilt – wie auch für seine beiden großen Vorbilder – der Primat des lyrischen Textes. Aber während Wolf die Inspiration durch das lyrische Gedicht primär in den Klaviersatz einfließen lässt, ist es das Bestreben Schoecks, das Melos der lyrischen Sprache unmittelbar mit der Melodie einzufangen und damit gleichsam musikalisch zu potenzieren.
Man könnte es auch so formulieren und sagen:
In einer Zeit, in der die Musikalisierung des Kunstliedes ihren Höhe- und Endpunkt erreicht hat, unternimmt Schoeck den – im Grunde zeitfremden und deshalb für viele ein wenig wunderlichen – Versuch, das Kunstlied auf seine Urzelle zurückzuführen: Das musikalische Potential der Melodie. Es war nicht nur ein „Versuch“. Es sind hochinteressante und faszinierende Lieder aus diesem kompositorischen Konzept hervorgegangen.
Den Versuch eines einigermaßen repräsentativen deskriptiven und analytischen Erfassens des Liedwerkes von Othmar Schoeck werde ich – in bewusster Distanzierung vom Thread- Konzept im Falle von Franz Liszt, Fanny Hensel und Felix Mendelssohn – dieses Mal nicht in Angriff nehmen.
Es sollen nur so viele Lieder besprochen werden, dass sich ein einigermaßen angemessenes Bild von Schoecks Liedschaffen einstellt. Dies freilich in der ganz großen Hoffnung, dass es eine Resonanz geben möge, - welcher Art auch immer sie sei.